Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 22.07.2003, Az.: L 3/9 U 292/01
Gewährung einer Verletztenrente; Minderung der Erwerbsfähigkeit infolge eines Arbeitsunfalls; Verlust an Erwerbsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt; Beachtung der allgemeinen Erfahrungssätze; Berücksichtigung von Schmerzen
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 22.07.2003
- Aktenzeichen
- L 3/9 U 292/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 19994
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0722.L3.9U292.01.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Osnabrück - 31.05.2001 - AZ: S 5 U 364/98
Rechtsgrundlagen
- § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO
- § 109 SGG
Redaktioneller Leitsatz
Schmerzen sind als Unfallfolgen grundsätzlich bereits von den MdE-Erfahrungswerten mit umfasst, die an bestimmte, objektivierbare Funktionsbeeinträchtigungen anknüpfen.
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Verletztenrente über den 31. Juni 1993 hinaus.
Die Klägerin knickte am 11. Juni 1993 bei ihrer Tätigkeit als Bäckereiverkäuferin mit dem linken Fuß um und zog sich dabei eine Distorsion (Verstauchung) des oberen Sprunggelenks zu (Bericht des Facharztes für Orthopädie Dr. E., F., vom 2. Juli 1993). Nachdem sie zunächst konservativ behandelt worden war, wurde 1994 eine operative Revision des Außenbandapparates mit Außenbandplastik durchgeführt. 1997 wurde außerdem eine Knochennekrose an der medialen Talusrolle stationär behandelt. Gleichwohl litt die Klägerin unter weiter bestehenden Schmerzen.
Im Ersten Rentengutachten der Ärzte G., H. und Dr. I., Orthopädische Klinik des Krankenhauses J., vom 21. Juli 1998 wurden belastungsabhängige Schmerzen im Bereich des linken oberen Sprunggelenks und eine leichtgradige Hyperalgesie im Narbenbereich mit leichter Hyposensibilität anterolateral festgestellt und die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf unter 10 v.H. geschätzt. Mit Bescheid vom 8. September 1998 erkannte die Beklagte daraufhin als Folgen des Arbeits-unfalls an: "Belastungsabhängige Schmerzen im Bereich des linken oberen Sprunggelenks mit Sensibilitätsstörungen im Narbenbereich". Die Gewährung einer Rente lehnte sie ab, weil der Arbeitsunfall eine MdE in rentenberechtigendem Grade über die 26. Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus nicht hinterlassen habe.
Die Klägerin legte gegen diese Entscheidung am 15. September 1998 Widerspruch ein, zu dessen Begründung sie sich auf einen Arztbericht des Orthopäden K. vom 23. September 1998 berief. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 26. November 1998 zurück und berief sich zur Begründung auf das eingeholte Rentengutachten.
Die Klägerin hat hiergegen am 1. Dezember 1998 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Osnabrück erhoben, mit der sie ihr Ziel weiterverfolgt hat, Rente wegen einer MdE von mindestens 20 v.H. zu erhalten. Sie hat einen weiteren Bericht des Orthopäden K. (vom 25. Februar 2000) vorgelegt, aus dem sich ergebe, dass auf Grund der bei ihr vorliegenden Gesundheitsstörungen eine Potenzierung der Schmerzen auftrete, die dazu führe, dass nach wie vor eine unfallbedingte MdE von 20 v.H. vorliege. Durch die unfallbedingte Fehlstellung des gesamten Bewegungsapparates seien auch weitere Schäden im Bereich der Wirbelsäule entstanden. Im Hinblick auf die festgestellte Potenzierung der Schmerzen sei die MdE so zu bemessen, wie sie bei einer vollständigen Versteifung eines Sprunggelenks in günstiger Stellung vorliege.
Das SG hat ein Gutachten des Facharztes für Orthopädie und Chirurgie Dr. L., M., vom 17. Januar 2000 eingeholt. Dieser ist zum Ergebnis gekommen, dass auch die Nekrose der Talusrolle Folge des Arbeitsunfalls sei, sodass sämtliche am linken Sprunggelenk jetzt festzustellenden Beeinträchtigungen zumindest als wesentlich teilursächlich auf das Unfallgeschehen zurückzuführen seien. Die unfallbedingte MdE sei auf Dauer auf 10 v.H. zu bemessen, weil eine Beeinträchtigung, wie bei der vollständigen Versteifung eines Sprunggelenks in günstiger Stellung nicht vorliege. Allerdings habe man bis zur Durchführung der Operation des Außenbandrisses von einer stärkeren Beeinträchtigung auszugehen, sodass bis zum 31. Juli 1994 eine unfallbedingte MdE von 20 v.H. anzunehmen sei. Die Beklagte hat daraufhin mit Schriftsatz vom 01. August 2000 das Teilanerkenntnis abgegeben, dass bis zum 31. Juli 1994 eine unfallbedingte MdE in Höhe von 20 v.H. vorgelegen habe. Dieses Teilanerkenntnis ist von der Klägerin (mit Schriftsatz vom 29. August 2000) angenommen worden.
Mit Urteil vom 31. Mai 2001 hat das SG die Klage abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide in Gestalt des angenommenen Teilanerkenntnisses seien rechtmäßig, weil der Klägerin über den 31. Juli 1994 hinaus kein Anspruch auf Zahlung einer Verletztenrente zustehe. Eine hierfür erforderliche MdE von 20 v.H. auch ab dem 1. August 1994 sei dem ausführlichen und schlüssig begründeten Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Dr. L. nicht zu entnehmen.
Gegen das ihr am 19. Juni 2001 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 19. Juli 2001 Berufung eingelegt. Auch nach dem 31. Juli 1994 habe sich ihr Zustand nicht gebessert, sodass nicht nachvollziehbar sei, dass ihr nach diesem Zeitpunkt keine Teilrente in Höhe von 20 v.H. zustehen solle. Auf Grund der bereits vom Orthopäden K. angesprochenen Kumulierung der Schmerzen wegen weiterer Gesundheitsbeeinträchtigen würden die Beschwerden im Sprunggelenk erheblich deutlicher wahrgenommen und ihre Beweglichkeit stark beeinträchtigt. Sie könne nicht länger laufen oder stehen mit dem linken Bein.
Die Klägerin beantragt,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 31. Mai 2001 sowie den Bescheid der Beklagten vom 8. September 1998 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. November 1998 aufzuheben,
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, ihr über den 31. Juli 1994 hinaus Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 v.H. zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verweist auf den Inhalt ihrer Verwaltungsakten und auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteil.
Der Senat hat auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein fachneurologisch-schmerztherapeutisches Gutachten von Prof. Dr. N., Schmerzklinik O., vom 22. April eingeholt. Der Sachverständige ist zu dem Ergebnis gekommen, als weitere unfallbedingte Gesundheitsstörungen lägen aus fachneurologisch-schmerztherapeutischer Sicht ein chronisches Schmerzsyndrom im Bereich des linken Sprunggelenks und eine neuropathische Schmerzkomponente bei Schädigung cutaner Äste des Nervus peronaeus superficialis und Nervus suralis links vor. Auf Grund der Entwicklung des chronischen Schmerzsyndroms sei die MdE auch nach dem 1. August 1994 mit 20 v.H. zu bemessen, da das ständige Schmerzerleben und die damit verbundenen Beeinträchtigen im psychischen und psychosozialen Bereich mit einer MdE von nur 10 v.H. nicht angemessen berücksichtigt seien.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten durch seinen Berichterstatter als Einzelrichter entscheidet (§ 155 Abs. 3 und 4 SGG), ist zulässig, aber unbegründet. Das SG Osnabrück hat die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 8. September 1998 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. November 1998 und des angenommenen Teilanerkenntnisses vom 1. August 2000 zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zahlung einer Verletztenrente ab 1. August 1994.
Grundlage der Beurteilung sind vorliegend noch die unfallversicherungsrechtlichen Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO), weil die umstrittene Rente auch für einen Zeitraum festzusetzen wäre, der vor dem Inkrafttreten des Sozialgesetzbuchs Siebtes Buch (SGB VII) zum 1. Januar 1997 liegt (§§ 212, 214 Abs. 3 Satz 1 SGB VII; vgl. Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Lsbls- Stand März 2003 -, § 214 SGB VII Rdnr 13.2).
Gemäß 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO wird eine Verletztenrente gewährt, solange die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge des Arbeitsunfalls um wenigstens 1/5 (d.h.: 20 vH) gemindert ist. Mit der MdE ist der durch die Folgen des Arbeitsunfalls bedingte Verlust an Erwerbsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (allgemeiner Arbeitsmarkt) gemeint (BSGE 1, 174, 178). In welchem Ausmaß die MdE besteht, ist eine rechtliche Frage, die vom Gericht unter Heranziehung ärztlicher Sachverständiger zu beantworten ist (BSGE 41, 99, 100 ff.). Bei der Bewertung der MdE sind die von der Rechtsprechung und vom versicherungsrechtlichen und medizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend sind, aber die Grundlage für gleiche, gerechte Bewertung der MdE in den zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis bilden (BSG SozR 2200 § 581 Nr. 23). Diese Erfahrungswerte sehen bei Verletzten, die - wie die Klägerin - eine Schädigung des oberen Sprunggelenks erlitten haben, eine (rentenberechtigende) MdE von 20 v.H. erst dann vor, wenn es zu einer Versteifung des oberen Sprunggelenks im (günstigen) Winkel von 90 bis 110 Grad zum Unterschenkel gekommen ist (Bereiter-Hahn/Mehrtens a.a.O., Anhang 12 J 033). Derart gravierende Beeinträchtigungen liegen bei der Klägerin jedoch nicht vor. Der Facharzt für Orthopädie und Chirurgie Dr. L. hat in seinem überzeugenden erstinstanzlichen Gutachten vom 17. Januar 2000 festgestellt, dass die Beweglichkeit des unfallbetroffenen linken oberen Sprunggelenks zwar eingeschränkt ist (aufgehobene Fußhebung und reduzierte Fußsenkung), insgesamt aber erhalten ist. Als Folge davon ist die physiologische Abrollbarkeit des Fußes erhalten. Dementsprechend konnte der Sachverständige bei seiner Untersuchung vom 12. Januar 2000 ein anfänglich linkshinkendes Gangbild feststellen, das sich nach wenigen Schritten normalisierte. Nur bei der Einnahme des Fußspitzenstands, des Einbeinstands und des Hocksitzes wurden beschwerdebedingte Einschränkungen beobachtet. Vergleicht man diesen Unfallfolgezustand mit der bei einer Versteifung des oberen Sprunggelenks zu erwartenden Behinderung, ist die von Dr. L. vorgeschlagene MdE-Bemessung mit 10 v.H. überzeugend.
Das Ausmaß der Schmerzen, die als Unfallfolge verblieben sind und als solche - einschließlich der Sensibilitätsstörungen im Narbenbereich - im Bescheid vom 8. September 1998 ausdrücklich anerkannt worden sind, führt zu keiner Erhöhung der MdE auf 20 vH. Dabei ist davon auszugehen, dass Schmerzen als Unfallfolgen grundsätzlich bereits von den MdE-Erfahrungswerten mit umfasst sind, die an bestimmte, objektivierbare Funktionsbeeinträchtigungen anknüpfen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage, Seite 313). Wenn die unterhalb der Schwere einer Versteifung des oberen Sprunggelenks verbleibenden Einschränkungen der Gelenkbeweglichkeit vorliegend mit 10 v.H. bewertet werden, ist damit deshalb schon berücksichtigt, dass es beim Gebrauch des linken oberen Sprunggelenks zu Schmerzen kommt. Eine über 10 v.H. hinausgehende MdE-Quote wäre demgegenüber nur möglich, wenn die Beschwerden über das mit den messbaren Funktionsbeeinträchtigungen verbundene zu erwartende Maß hinausgehen. Dies müsste aber zu objektivieren sein, etwa durch die Feststellung einer verminderten Muskulatur der betroffenen Extremität als Folge eines schmerzbedingten Mindergebrauchs. Dies ist vom Sachverständigen Dr. L. jedoch nicht festgestellt worden. So fand sich die Muskulatur beider Beine im Wesentlichen seitengleich. Auch die Fußbeschwielung ist als seitengleich beschrieben worden, ebenso wie die Abnutzung des Schuhwerks; eine schmerzbedingte Schonung des linken Beines kann deshalb mit der notwendigen Deutlichkeit nicht festgestellt werden.
Auch aus dem nach § 109 SGG eingeholten Gutachten von Prof. Dr. N. vom 22. April 2002 ergibt sich nichts anderes. So ist dort beim Gangbild keine Beeinträchtigung der Gelenkbeweglichkeit, sondern ein schmerzbedingtes Schonhinken festgestellt worden, ohne dass Prof. Dr. N. objektivierbare Schonungsfolgen wie Muskelverschmächtigung oder Minderbeschwielung mitgeteilt hat. Auch die weiteren Folgen der Schmerzen, die der Sachverständige als chronisches Schmerzsyndrom beschreibt, wirken sich zwar auf die Befindlichkeit der Klägerin aus, nicht jedoch auf ihre Fähigkeit, im allgemeinen Erwerbsleben tätig zu sein. So hat die Klägerin zwar von schmerzbedingten Schlafstörungen berichtet, der Sachverständige hat jedoch keine Störungen in den Konzentrations- und Aufmerksamkeitsfunktionen vorgefunden. Auch die mitgeteilten einzelnen depressiven Symptome haben noch zu keiner sich auf das Erwerbsleben auswirkenden durchgehenden Depressionserkrankung geführt. Schließlich kann auch nicht die Reduzierung sozialer Aktivitäten MdE-erhöhend berücksichtigt werden, weil diese sich nach Angaben des Sachverständigen auf den Privatbereich beschränkt, sich im Erwerbsleben aber nicht auswirkt.
Weiter gehende Erkenntnisse sind auch den von der Klägerin vorgelegten Berichten des Arztes für Orthopädie K. nicht zu entnehmen, insbesondere im Hinblick auf die dort u.a. berichtete Potenzierung von Schmerzen. Soweit die Klägerin erstinstanzlich noch die Auffassung vertreten hatte, durch die unfallbedingte Fehlstellung des gesamten Bewegungsapparates seien wirbelsäulenbedingte Beschwerden eingetreten, wird dies durch die Stellungnahme des Orthopäden vom 25. Februar 2000 gerade widerlegt, worauf das SG zutreffend hingewiesen hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.