Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 29.07.2003, Az.: L 6 U 120/03 ER
Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen Beitragsbescheide; Bedeutung der Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren; Tarifgestaltung im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung; Art der Tätigkeit von technischen Zeichnern und Bauzeichnern; Bildung und Zuordnung zu einer Gefahrtarifstelle; Vorliegen einer unbilligen Härte; Vollziehung der Anforderung öffentlicher Abgaben
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 29.07.2003
- Aktenzeichen
- L 6 U 120/03 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 21190
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0729.L6U120.03ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Braunschweig - 19.11.2002 - AZ: S 14 U 160/02 ER
Rechtsgrundlagen
- § 86a SGG
- § 86b SGG
- § 168 Abs. 2 SGB VII
Redaktioneller Leitsatz
Eine unbillige Härte bei der Vollziehung der Anforderung öffentlicher Abgaben liegt dann vor, wenn durch die sofortige Zahlung ein durch die spätere Erstattung nicht wieder gut zu machender Schaden - insbesondere durch Konkurs oder Existenzvernichtung - entstehen würde.
Tenor:
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Braunschweig vom 19. November 2002 wird zurückgewiesen. Die Beschwerdeführerin trägt die Kosten des Rechtsstreits. Der Streitwert wird in Abänderung der Streitwertfestsetzung des Sozialgerichts für beide Rechtszüge auf 4.880,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt, die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen die Beitragsbescheide der Antragsgegnerin für die Jahre 1997 und 1998 anzuordnen.
Die Antragstellerin ist Mitglied der Antragsgegnerin. Sie betreibt ein Unternehmen der gewerblichen Arbeitnehmerüberlassung. In diesem Unternehmen sind kaufmännisch und verwaltend tätige Arbeitnehmer sowie Bauzeichner und technische Zeichner beschäftigt. Mit dem Veranlagungsbescheid vom 27. Juni 2001 wurde die Antragstellerin ab 1. Januar 2001 zur Gefahrtarifstelle 52 (kaufmännisch, verwaltende Arbeitnehmer) mit der Gefahrklasse 0,56 und zur Gefahrtarifstelle 53 (gewerbliche Arbeitnehmer) mit der Gefahrklasse 10,66 veranlagt. Dagegen erhob sie Widerspruch mit der Begründung, ihr gesamtes Personal sei ausschließlich im eigenen Büro oder im Bürotrakt eines einzigen Kundenbetriebes tätig. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren (Widerspruchsbescheid vom 13. Februar 2002) ist hierüber vor dem Sozialgericht - SG - Braunschweig ein Klageverfahren unter dem Aktenzeichen S 6 U 34/02 anhängig.
Mit den beiden Beitragsbescheiden vom 25. Juli 2002 setzte die Antragsgegnerin auf der Grundlage des Veranlagungsbescheides und einer Lohnbuchprüfung (Prüfungsbericht Nr. 034-03/2002, Gerichtsakten Bl. 54 bis 59) die Beiträge für das Jahr 1997 auf 8.045,82 EUR und für das Jahr 1998 auf 11.472,40 EUR fest. Damit änderte sie die ursprünglichen Beitragsbescheide für die Jahre 1997 und 1998 ab; darin hatte sie keine Bruttojahresentgelte für gewerbliche Arbeitnehmer berücksichtigt. Die Antragstellerin erhob gegen die geänderten Beitragsbescheide Widerspruch und beantragte die Aussetzung der Vollziehung. Die Beklagte lehnte diesen Antrag ab (Schreiben vom 13. September 2002).
Am 24. September 2002 hat die Antragstellerin beim SG Braunschweig beantragt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Beitragsbescheide gemäß § 86b Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG - anzuordnen. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen geltend gemacht: Gemäß § 45 Abs. 3 S. 1 Sozialgesetzbuch - SGB - X könne ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Die Frist sei abgelaufen und die angefochtenen Beitragsbescheide demgemäß verspätet. Außerdem seien die Bescheide auch materiell-rechtlich rechtswidrig, weil sie auf einer fehlerhaften, allein auf Grund der Berufsbezeichnungen vorgenommenen Zuordnung von Mitarbeitern zu gewerblichen Tätigkeiten beruhten. Rechtsfehlerhaft sei auch die Zusammenfassung aller gewerblichen Mitarbeiter zu einer einzigen Gefahrklasse.
Das SG hat mit Beschluss vom 19. November 2002 den Antrag der Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Beitragsbescheide abgelehnt: Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Beitragsbescheide bestünden nicht. Nach § 168 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII dürften Beitragsbescheide mit Wirkung für die Vergangenheit zu Ungunsten der Beitragspflichtigen aufgehoben werden, wenn der Lohnnachweis unrichtige Angaben enthalte oder sich die Schätzung als unrichtig erweise. Dies sei hier der Fall, da die Antragsgegnerin in ihren Beitragsbescheiden für die Jahre 1997 und 1998 von unrichtigen Bruttoarbeitsentgelten in den jeweiligen Gefahrtarifstellen ausgegangen sei und sich daraus ein falscher Beitrag ergeben habe. Entscheidend sei die tatsächliche Unrichtigkeit; ein etwaiges Verschulden sei unbeachtlich. Im Übrigen sei die Zuordnung der nicht auf kaufmännischem oder verwaltungstechnischem Gebiet Beschäftigten zu jeweils einer Gefahrklasse im Rahmen einer summarischen Prüfung nicht zu beanstanden. Ferner hätte die Vollziehung für die Antragstellerin auch keine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge. Darüber hinaus habe die Antragstellerin weder eine Zahlungsunfähigkeit noch einen Konkurs oder ihre Existenzvernichtung behauptet.
Die Antragstellerin hat gegen diesen ihr am 25. November 2002 zugestellten Beschluss am 19. Dezember 2002 Beschwerde eingelegt. Sie hat zur Begründung im Wesentlichen geltend gemacht: Der Arbeitsplatz und die Tätigkeit eines technischen Zeichners und eines Bauzeichners unterschieden sich in nichts von dem Arbeitsplatz und der Tätigkeit einer normalen Schreibkraft. Die Arbeiten würden ausschließlich an PC-Geräten ausgeführt. Die Neuzuordnung der Lohnsummen sei deshalb willkürlich, weil die Antragsgegnerin nicht durch Gegenüberstellung von Unfalllasten und Lohnsummen ermittelt habe, dass der Unfallgefährdungsgrad eines technischen Zeichners und eines Bauzeichners beispielsweise für das Jahr 1997 um fast das 12fache höher als der Unfallgefährdungsgrad eines büromäßig tätigen Sachbearbeiters sei. Auch sei zu berücksichtigen, dass es sich bei der Antragstellerin um ein sog. monostrukturelles Unternehmen handele, das auf Dienstleistungen im genannten Bereich beschränkt sei.
Wegen weiterer Einzelheiten der Begründung wird auf die Schriftsätze der Antragstellerin vom 1. April 2003 und 21. Juli 2003 Bezug genommen.
Die Antragstellerin beantragt,
den Beschluss des SG Braunschweig vom 19. November 2002 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Beitragsbescheide für die Jahre 1997 und 1998 vom 25. Juli 2002 anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des SG Braunschweig vom 19. November 2002 zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, sie sei nicht verpflichtet, bei einem auf dem Gewerbezweigprinzip aufgebauten Gefahrtarif abgrenzbare Unternehmensteile in gesonderten Gefahrtarifstellen zu veranlagen.
Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
II.
Die nach §§ 172, 173 SGG zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist nicht begründet. Die Frage, ob die Vollziehung des angefochtenen Beitragsbescheides teilweise auszusetzen ist, richtet sich nach den vorläufigen Rechtsschutz regelnden Vorschriften der §§ 86a und 86b SGG. Nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen - wie hier im Hinblick auf den angefochtenen Beitragsbescheid - der Widerspruch oder die Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Die Kriterien des § 86a Abs. 3 S. 2 SGG, nach denen die Verwaltung die Vollziehung aussetzen soll - bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes oder wenn die Vollziehung für den Abgabepflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte - sind auch für die gerichtliche Ermessensentscheidung maßgebend. Danach sind, wie sich aus der Formulierung "ernstliche Zweifel ..." ergibt, vor allem die Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren für die gerichtliche Ermessensentscheidung von Bedeutung. Solche die Anordnung der aufschiebenden Wirkung rechtfertigenden ernsthaften Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beitragsbescheides bestehen bei der gebotenen summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten eines Hauptsacheverfahrens hier nicht. Sie wären dann zu bejahen, wenn das Hauptsacheverfahren wahrscheinlich erfolgreich sein wird (vgl. Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Auflage 1998, Rdn. 852) und nach einer weniger strengen Auffassung auch schon dann, wenn der Erfolg des Rechtsmittels im Hauptsacheverfahren mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie ein Misserfolg (so BVerwG, DVBl. 1982, 412; vgl. auch Meyer-Ladewig, SGG, Kommentar, 6. Auflage, 2002, § 86a Rdn. 27 m.w.N.). Im vorliegenden Fall ist indessen ein Erfolg in der Hauptsache unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - zur Tarifgestaltung im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung nicht wahrscheinlich.
Technische Zeichner und Bauzeichner üben keine kaufmännischen oder verwaltenden Tätigkeiten aus, auch wenn sie - wie die Antragstellerin behauptet - ihre Arbeit wie Sachbearbeiter ausschließlich am PC verrichten. Der Inhalt ihrer Arbeit verliert dadurch nicht seinen technischen, gewerblichen Charakter. Deshalb kann dieser Personenkreis nicht der Gefahrtarifstelle 52 zugeordnet werden. Auch ist die Bildung einer einzigen weiteren Gefahrtarifstelle, der zwangsläufig auch technische Zeichner und Bauzeichner zuzuordnen sind, rechtmäßig. Nach dem Urteil des BSG vom 26. Juli 2003 - B 2 U 21/02 R (Presse-Mitteilung Nr. 31/03 des BSG) sind die Unternehmen der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung ein eigenständiger Gewerbezweig, für den in Übereinstimmung mit § 157 Abs. 1 S. 1 SGB VII die Beklagte eine bzw. zwei eigene Gefahrtarifstellen bilden kann (vgl. auch schon BSG, Urteil vom 21. August 1991 - 2 RU 94/90 = NZA 1992, 335 [BSG 21.08.1991 - 2 RU 54/90] und Beschluss des Senats vom 10. Januar 2002 - L 6 U 556/02 ER). Danach ist die Argumentation der Antragstellerin, ihre im gewerblichen Bereich tätigen Arbeitnehmer (technische Zeichner und Bauzeichner) seien nicht signifikant höher unfallgefährdet als die Arbeitnehmer mit kaufmännisch-verwaltender Tätigkeit, nicht rechtserheblich.
Die Antragsgegnerin war auch berechtigt, die Beitragsbescheide für die Jahre 1997 und 1998 ungeachtet der Frist des § 45 Abs. 2 SGB X auf Grund der speziellen gesetzlichen Regelung des § 168 Abs. 2 SGB VIIüber die Aufhebung eines Beitragsbescheides zu Ungunsten des Unternehmers zu korrigieren. Dies hat das SG bereits zutreffend ausgeführt.
Eine unbillige Härte, die es trotz dieser ungünstigen Beurteilung der Erfolgsaussicht gleichwohl geboten erscheinen ließe, die aufschiebende Wirkung des angefochtenen Beitragsbescheides anzuordnen, ist nicht erkennbar. Eine unbillige Härte bei der Vollziehung der Anforderung öffentlicher Abgaben liegt dann vor, wenn durch die sofortige Zahlung ein durch die spätere Erstattung nicht wieder gut zu machender Schaden - insbesondere durch Konkurs oder Existenzvernichtung - entstehen würde (vgl. Finkelnburg/Jank, a.a.O. Rdn. 791 m.w.N.). Solche Gefahren sind hier weder ersichtlich noch hat die Antragstellerin sie aufgezeigt.
Zusammenfassend ergibt sich, dass kein Raum für die von der Antragstellerin erstrebte Eilentscheidung besteht und es dieser zuzumuten ist, den Ausgang eines Hauptsacheverfahrens abzuwarten.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 197 a Abs. 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren ist nach § 197a SGG i.V.m. §§ 13, 25 Abs. 1 GKG von Amts wegen gerichtlich festzusetzen. Maßgebend für die Ermessensentscheidung des Gerichts ist die sich aus dem Antrag der Beschwerdeführerin ergebende Bedeutung der Sache. Dies ist im vorliegenden Fall gleich bedeutend mit den zu schätzenden wirtschaftlichen Auswirkungen des Obsiegens (vgl. auch BSG SozR 1930 § 8 Nr. 2). Dieses wirtschaftliche Interesse hat die Beschwerdeführerin dahingehend konkretisiert, dass sie die Aussetzung der Vollziehung der Beitragsbescheide für 1997 und 1998 in Höhe von insgesamt 19.518,22 EUR begehrt. Da es sich um ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes handelt, ist ein Abschlag auf ein Viertel dieses Betrages angemessen (vgl. auch BSG SozR 3-1500 § 193 Nr. 6).
Dieser Beschluss kann mit der Beschwerde nicht angefochten werden (§ 177 SGG).
Streitwertbeschluss:
Der Streitwert wird in Abänderung der Streitwertfestsetzung des Sozialgerichts für beide Rechtszüge auf 4.880,00 EUR festgesetzt.