Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 17.09.2015, Az.: 1 LB 128/13

Beseitigungsverfügung; Drittschutz; Ermessen; Vollstreckung; Vollstreckungsermessen; Vollstreckungsverfahren

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
17.09.2015
Aktenzeichen
1 LB 128/13
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2015, 45086
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 31.01.2011 - AZ: 2 A 413/09

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Belange, die im Rahmen der Grundverfügung die Entscheidung zu einem bauaufsichtlichen Einschreiten beeinflusst haben, können jedenfalls bei unverändertem Sachverhalt auf der Vollstreckungsebene nicht als unerheblich behandelt werden. Die Wertungen des Grundverwaltungsakts können durch das Hinzutreten vollstreckungsspezifischer Belange in ihrem Gewicht verschoben, aber nicht erneut in Frage gestellt werden.

Ob die Behörde die Ermessenserwägungen des Grundverwaltungsakts zur Vermeidung der o.g. Folge analog § 48 VwVfG ändern kann, lässt der Senat offen.

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg vom 31. Januar 2011 geändert. Der Beklagte wird verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts über eine Vollstreckung seiner Beseitigungsverfügung vom 22. Februar 2007 zu entscheiden.

Der Beklagte und der Beigeladene tragen die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten der Klägerin je zur Hälfte; ihre eigenen außergerichtlichen Kosten tragen sie selbst.

Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % der
jeweils zu vollstreckenden Kostenforderung leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Mit ihrer Klage möchte die Klägerin den Beklagten zwingen, gegen den Beigeladenen aus einer bestandkräftigen Beseitigungsverfügung zu vollstrecken, da das zu beseitigende Bauwerk ihr gegenüber Grenzabstände verletze.

Die Klägerin und der Beigeladene sind jeweils Eigentümer zweier benachbarter Wohngrundstücke. Auf dem Grundstück des Beigeladenen steht ein in den 1950er Jahren errichtetes Einfamilienhaus mit einem rückwärtigen Anbau. Nach Erwerb des Grundstücks riss der Beigeladene diesen Anbau ab und ersetzte ihn 1997/1998 durch einen einstöckigen Neubau mit Satteldach. Dieser hält, wie schon der Vorgängerbau, zur Grenze des Beigeladenengrundstücks lediglich einen Grenzabstand von ca. 2,00 m ein, zudem beträgt der Dachüberstand ca. 1 m.

Erstmals mit Schreiben vom 13.8.2005 (GA-VG Bl. 49) bat die Klägerin den Beklagten um Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Neubaus. Unter dem 20.9.2006 beantragte sie ein bauaufsichtliches Einschreiten (BA B Bl. 61), mit Schreiben vom 2.11.2006 (BA B Bl. 63) drohte sie eine Untätigkeitsklage an. Mit Bescheid vom 22. Februar 2007 forderte der Beklagte den Beigeladenen auf, den Anbau in dem Umfang zu beseitigen, dass seine Außenwand einen Abstand von 3,00 m zur Grenze des Beigeladenengrundstücks einhalte und der Dachüberstand 0,50 m nicht überschreite. Der Anbau sei ohne die erforderliche Baugenehmigung errichtet und nicht genehmigungsfähig, da der der Grenzabstand zur Beigeladenen mehr als geringfügig unterschritten sei und diese daher in ihrer Wohnqualität beeinträchtigt werde. Bestandsschutz könne er nicht geltend machen. Den Widerspruch des Beigeladenen wies er mit Widerspruchsbescheid vom 15. Mai 2007 zurück.

Nachdem der Beigeladene geltend gemacht hatte, zum Rückbau finanziell nicht in der Lage zu sein, setzte der Beklagte mit Bescheid vom 28. September 2007 die Durchsetzung der Rückbauverfügung für zwei Jahre aus und verlängerte die Aussetzung mit Bescheid vom 29. Juli 2009 um weitere zwei Jahre, jeweils unter dem Vorbehalt des Widerrufs. Die gegen diese Bescheide erhobenen Widersprüche der Klägerin wies er mit Widerspruchsbescheid vom 23. Oktober 2009 mit der Begründung zurück, Abwehrrechte der Klägerin seien verwirkt, weil sie sich von 1997 bis 2005 nicht gegen den Anbau zur Wehr gesetzt habe.

Die hiergegen mit dem Antrag,

die Bescheide des Beklagten vom 28. September 2007 und vom 29. Juli 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 23. Oktober 2009 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihre bestandskräftige bauordnungsrechtliche Beseitigungsverfügung vom 22. Februar 2007 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu vollstrecken,

erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 31.1.2011 mit der Begründung abgewiesen, der Klägerin stehe ein Anspruch auf Vollzug der Beseitigungsanordnung nicht zu; das Vollstreckungsrechtsverhältnis bestehe ausschließlich zwischen dem Beklagten und der Beigeladenen. Der Aussetzungsbescheid wirke sich zwar auf sie aus, verleihe ihr aber keine eigenen Rechte. Sie sei vielmehr gehalten, ihre Interessen im Wege eines Antrags auf bauaufsichtliches Einschreiten gegenüber dem Beklagten geltend zu machen. Überwiegendes spreche indes dafür, dass der Beklagte dem die Verwirkung der nachbarrechtlichen Abwehransprüche entgegenhalten könne. Soweit sie geltend mache, der Beigeladene habe ihr bei Errichtung des Neubaus erklärt, eine Baugenehmigung für das Vorhaben nicht zu benötigen, da er auf den Fundamenten des Vorgängerbaus baue, habe sie darauf nicht vertrauen dürfen. Eine Unterschreitung des Grenzabstands begründe im Übrigen nicht automatisch einen Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten; hier rechtfertigten verschiedene Gesichtspunkte eine zeitlich befristete Aussetzung der Vollstreckung.

Gegen das Urteil hat die Klägerin die vom Senat mit Beschluss vom 19.7.2013 - 1 LA 44/11 - zugelassene Berufung eingelegt und zu deren Begründung vorgetragen, sie habe mit ihrem Antrag und ihrer Drohung mit Untätigkeitsklage bereits die bestehende Beseitigungsverfügung erwirkt; entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts könne sie daher unmittelbar deren Vollstreckung verlangen und müsse nicht (erneut) auf bauaufsichtliches Einschreiten im Sinne des Erlasses einer Grundverfügung dringen. In der Sache sei ihr Anspruch auf Einschreiten nicht verwirkt; zwar habe sie über sieben Jahre lang gegenüber dem Beklagten ein solches Einschreiten nicht gefordert, dies sei aber dadurch bedingt, dass der Beigeladene 1997/98 ihr gegenüber angegeben habe, für den neuen Anbau eine Baugenehmigung zu besitzen bzw. eine solche für den Altbau besessen zu haben und für einen Neubau auf den alten Fundamenten keine Genehmigung zu benötigen. Die Klägerin habe nicht erkennen müssen, dass dies nicht zutreffe, da es für einen baurechtlichen Laien plausibel sei, dass auf alten Fundamenten auch ohne Genehmigung wieder gebaut werden dürfe. Der Beigeladene als gelernter Bauhandwerker habe demgegenüber erkennen müssen, dass er Grenzabstände nicht einhalte. Jedenfalls sei, wie der Senat im Zulassungsbeschluss angedeutet habe, über eine etwaige Verwirkung im Rahmen der Grundverfügung, jedoch nicht mehr im Vollstreckungsverfahren zu entscheiden gewesen. Ermessensfehlerhaft sei die Aussetzung der Vollstreckung zudem deshalb, weil der Beklagte die Angaben des Beigeladenen zu seinen Vermögensverhältnissen ungeprüft übernommen habe. Tatsächlich sei der Beigeladene nicht mittellos; er habe in den Jahren 2007 bis 2012 zahlreiche Urlaubsreisen unternommen, kostspielige Anschaffungen getätigt und Bau-/Gartenarbeiten auf seinem Grundstück vorgenommen. Soweit er Kosten für ein Darlehen geltend mache, sei davon auszugehen, dass das Darlehen inzwischen weitgehend getilgt sei. Ferner gebe er nicht all seine Einkünfte an.

Die Klägerin beantragt,

das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg zu ändern und den Beklagten zu verpflichten, den bestandskräftigen Bescheid vom 22. Februar 2007 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts gegen den Beigeladenen zu vollstrecken.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er macht geltend, die Beseitigungsverfügung vom 22.2.2007 habe sich allein auf die massive Verletzung objektiven Rechts durch den Beigeladenen gestützt. Etwaige Beseitigungsansprüche der Klägerin seien demgegenüber verwirkt. Die Klägerin sei auch nicht Begünstigte der Beseitigungsverfügung. Die Verletzung ihrer Wohnqualität sei nur als Sachverhaltsdarstellung in dieser Verfügung erwähnt. Für die Entscheidung sei sie nicht tragend gewesen. Der Beigeladene sei im Übrigen weiterhin nicht zahlungsfähig, so dass auch die weitere Aussetzung der Vollstreckung gerechtfertigt sei. Unabhängig davon sei es ermessensgerecht, auf der Vollstreckungsebene die Verwirkung zu berücksichtigen.

Der Beigeladene beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er führt aus, er sei nach wie vor nicht in der Lage, die Kosten eines Abrisses des Anbaus zu bestreiten. Die von der Klägerin behaupteten „Urlaubsreisen“ seien überwiegend Krankenhausaufenthalte, teils auch Verwandtenbesuche gewesen. Die angeblichen teuren Anschaffungen seien teils erfunden, teils Geschenke, teils billige Gebrauchtwaren gewesen, teils von seiner und für seine geschiedene Frau erfolgt. Die Bau-/Gartenarbeiten seien unentgeltlich durch ihn und Freunde ausgeführt worden. Er biete der Klägerin einen Verkauf seines Hauses unter Verkehrswert an. Dem Vollstreckungsbegehren der Klägerin stehe im Übrigen eine Verwirkung ihres Beseitigungsanspruchs entgegen. Er bestreite, sich ihr gegenüber 1997/98 auf eine Baugenehmigung berufen zu haben. Die Verwirkung sei auch im Vollstreckungsverfahren noch berücksichtigungsfähig. Die Grundverfügung verhalte sich hierzu nicht, da dies nicht nötig gewesen sei. Selbst wenn dies anders zu sehen sei, müsse eine nochmalige Berücksichtigung im Vollstreckungsverfahren möglich sein, da der Verwirkung hier eine andere Rolle zukomme als im Rahmen der Grundverfügung.

Nach Ablauf der Frist des Aussetzungsbescheides vom 29. Juli 2009 hat der Beklagte unter dem 31.8.2011 und 6.11.2013 weitere Aussetzungsbescheide erlassen; der letztere war bis zum 31.7.2015 befristet. Einen weiteren Aussetzungsantrag hat der Beigeladene bislang nicht gestellt. Mit Schreiben vom 17.8.2015 hat der Beklagte den Beigeladenen aufgefordert, ein Konzept zur Umsetzung des Rückbaus vorzulegen und dabei zu berücksichtigen, dass die derzeitigen Hypothekendarlehen voraussichtlich in den Jahren 2020/21 getilgt sein würden. In der mündlichen Verhandlung hat der Beklagte erklärt, die Beseitigungsverfügung auch weiterhin erst dann vollstrecken zu wollen, wenn sichergestellt sei, dass etwaige Kosten einer Ersatzvornahme aus dem Vermögen des Beigeladenen beglichen werden könnten; bei der Entscheidung über eine Vollstreckung werde er Belange der Klägerin weiterhin als verwirkt behandeln.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig. Ein Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin besteht. Auch wenn durch Ablauf des letzten Aussetzungsbescheides eine neue Sachlage entstanden ist, auf die der Beklagte bislang noch nicht mit einer förmlichen Entscheidung über die Vollstreckung reagiert hat, ist durch seine Erklärungen in der mündlichen Verhandlung deutlich geworden, dass er weiterhin nicht beabsichtigt, bei der Vollstreckungsentscheidung der Rechtsauffassung der Klägerin zu folgen. Angesichts dessen bedarf es auch - ungeachtet der Erledigung der bisherigen Aussetzungsbescheide und des auf diese bezogenen Widerspruchsbescheides des Beklagten - keiner erneuten Antragstellung und keines erneuten Widerspruchsverfahrens; dies zu verlangen, wäre eine reine Förmelei.

Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Entscheidung über die Vollstreckung unter Beachtung der sinngemäß von ihr geltend gemachten Rechtsauffassung.

1. Es ist an der im Zulassungsbeschluss vertretenen Auffassung festzuhalten, dass die Klägerin unmittelbar auf Vollstreckung des Bescheides vom 22.2.2007 klagen kann und nicht erst den Erlass einer (weiteren) Abbruchanordnung erwirken muss. Im Zulassungsbeschluss vom 19.7.2013 hat der Senat ausgeführt:

Der unter Ziff. 2. der Urteilsgründe dargelegte, entscheidungstragende Ansatz des Verwaltungsgerichts scheint dahin zu gehen, dass ein Dritter grundsätzlich keinen Anspruch auf (ermessensfehlerfreie Entscheidung über die) Vollstreckung einer bauaufsichtlichen Anordnung habe, da das Vollstreckungsverhältnis ausschließlich zwischen Behörde und Vollstreckungsschuldner bestehe. Der Dritte habe von der Behörde ein bauaufsichtliches Einschreiten, d.h. offenbar den Erlass eines (weiteren) Vollstreckungstitels zu verlangen. Nicht ganz klar ist, ob und unter welchen
Voraussetzungen er dann einen Anspruch auf dessen Vollstreckung haben soll. Das vom Verwaltungsgericht in Bezug genommene Urteil des Verwaltungsgerichts des Saarlands vom 18. August 2010 (- 5 K 961/09 -, juris-Rn. 27) deutet darauf hin, dass dies immerhin dann der Fall sein soll, wenn der Bescheid den Dritten als Begünstigten enthält, was wohl dann der Fall sein soll, wenn die Ermessensentscheidung zum Einschreiten gerade auf Belange des Dritten gestützt wird; dass ein Vollstreckungstitel sich auf (auch) drittschützende Normen stütze, genüge dagegen nicht.

Ob diese Sichtweise zutrifft, ist zweifelhaft. Der Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über ein bauaufsichtliches Einschreiten liefe leer, wenn er nicht den Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Vollstreckung einer etwaigen bauaufsichtlichen Grundverfügung beinhalten würde. Ihn davon abhängig zu machen, dass eine etwa bereits ergangene Grundverfügung den Dritten als Begünstigten nennt, würde vor diesem Hintergrund bedeuten, dass die Bauaufsichtsbehörde u.U. verpflichtet wäre, auf Antrag des Dritten eine zweite, im Regelungsteil gleichlautende Grundverfügung zu erlassen, nur damit der Dritte dann auch auf die Entscheidung über die Vollstreckung einwirken könnte.

Dies kann hier freilich dahinstehen. Denn die bauaufsichtliche Anordnung des Beklagten vom 22. Februar 2007 enthält die Klägerin als Begünstigte im oben dargestellten Sinne. In ihrer Begründung heißt es insbesondere:

Ihre Nachbarin wendet sich gegen das von Ihnen durchgeführte Bauvorhaben und fordert einen Rückbau… Ich stelle daher fest, dass Frau G. [sic!] durch den zu geringen Grenzabstand Ihres Wohnhausanbaues in ihrer Wohnqualität beeinträchtigt wird.

Es folgen darauf lediglich Erwägungen zum fehlenden Bestands- und Vertrauensschutz des Beigeladenen. Zwar hat der Beklagte sich im Widerspruchsbescheid vom 15.5.2007 auch objektiv-rechtliche Gründe für das bauaufsichtliche Einschreiten angeführt. Er hat aber nicht zu erkennen gegeben, dass er an den im Bescheid vom 22.2.2007 angegebenen Gründen nicht mehr festhalte, sondern sich zusätzlich weiterhin auf diese bezogen (S. 3, 2. Abs., des Widerspruchsbescheides).

Das Vorbringen des Beklagten und des Beigeladenen gibt keinen Anlass, hiervon abzurücken. Entgegen der vom Beklagten in seiner Berufungserwiderung vertretenen Darstellung erfolgt die Benennung der Interessen der Klägerin nicht nur quasi „colorandi causa“. Auch wenn im Bescheid nicht ausdrücklich ausgeführt wird, dass diese Belange maßgeblich für das Einschreiten des Beklagten waren, ergibt sich dies zumindest aus dem Kontext. Der Absatz, der mit der Feststellung der Beeinträchtigung der Klägerin endet, folgt auf den Absatz, in dem die materielle Rechtswidrigkeit des Anbaus erläutert wird, und ist dem Absatz vorangestellt, in dem die einem Einschreiten entgegenstehenden Interessen des Beigeladenen bewertet werden. Er soll also erkennbar die für ein Einschreiten sprechenden Belange benennen und gewichten. Ausführungen ohne jegliche rechtliche Bedeutung wären an dieser Stelle nicht zu erwarten. Auch der Kontext des Bescheiderlasses spricht dafür, dass Interessen der Klägerin maßgeblich für das Einschreiten waren: Der Bescheid wurde im Gefolge einer Drohung der Klägerin mit Untätigkeitsklage erlassen; der Beklagte hat bis zum Widerspruch der Klägerin im Vollstreckungsverfahren zu keinem Zeitpunkt deutlich gemacht, dass er die Interessen der Klägerin als unerheblich ansähe und allein aus objektiv-rechtlichen Erwägungen vorgehe. Vielmehr hat er sich bereit erklärt, die Grenzabstandsverstöße auch ohne Bewilligung einer Baulast (§ 9 Abs. 2 NBauO 2003 = § 6 Abs 2 NBauO 2012) auf sich beruhen zu lassen, sofern hierzu nur ein schriftliches Einverständnis der Klägerin vorläge (Vermerk v. 8.9.2006, BA B Bl. 57). Da durch ein solches Einverständnis ohne Baulast die Klägerin nicht gehindert wäre, die auf ihrem Grundstück möglichen Grenzabstände ihrerseits voll in Anspruch zu nehmen, wäre bei einem solchen Vorgehen die Einhaltung objektiven Abstandsrechts gerade nicht gewährleistet. Nur in einem Vermerk vom 18.1.2007 (BA B Bl. 99) hat er die Frage der Verwirkung angesprochen, jedoch offengelassen. Dass er weder in der Beseitigungsverfügung vom 22.2.2007, noch im Widerspruchsbescheid vom 15.5.2007 der Einlassung des Beigeladenen entgegengetreten ist, Belange der Klägerin seien verwirkt, lässt nicht den Schluss zu, der Beklagte sei diesem Einwand gefolgt oder habe ihn für unbeachtlich gehalten, da allein objektive Belange sein Einschreiten motivierten; wäre das der Fall gewesen, so wären in den Bescheiden entsprechende Ausführungen zu erwarten gewesen.

Soweit der Beklagte meint, mit seiner Berufungserwiderung die im Bescheid vom 22.2.2007 angestellten Ermessenserwägungen nachträglich ändern zu können („und ergänze gemäß § 114 Satz 2 VwGO die in meiner Beseitigungsverfügung vom 22.02.2007 dargelegten Ermessenserwägungen“), irrt er. Die Beseitigungsverfügung ist bestandskräftig, eine Ergänzung von Ermessenserwägungen nach § 114 Satz 2 VwGO wäre nur in einem gegen diese Grundverfügung gerichteten Klageverfahren möglich gewesen. Ob der Beklagte berechtigt wäre, gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG die Beseitigungsverfügung zurückzunehmen oder in entsprechender Anwendung des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG die drittschützenden Erwägungen der Beseitigungsverfügung zu modifizieren, muss hier nicht entschieden werden. Denn eine solche Entscheidung würde voraussetzen, dass der Beklagte ein Rücknahmeermessen betätigt; der Berufungserwiderung lässt sich das nicht entnehmen.

2. Der Anspruch der Klägerin auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über eine Vollstreckung ist bisher nicht erfüllt; die Erwägungen, mit denen der Beklagte bislang eine Vollstreckung ablehnt, sind ermessensfehlerhaft und verletzen die Klägerin in ihren Rechten.

Der Beklagte meint nach wie vor, bei seiner Entscheidung, auf eine Vollstreckung der Beseitigungverfügung vom 22.2.2007 einstweilen zu verzichten, eine Verwirkung der Nachbarrechte der Klägerin berücksichtigen zu können und deren Belange deshalb nicht - nicht einmal mit einem infolge Zeitablaufs verminderten Gewicht - in seine Ermessenserwägungen einstellen zu müssen. Dies ist ermessensfehlerhaft. Wie unter 1. ausgeführt, hat der Beklagte seine Beseitigungsverfügung zumindest auch auf Interessen der Klägerin gestützt. Belange, die im Rahmen der Grundverfügung die Entscheidung zu einem bauaufsichtlichen Einschreiten beeinflusst haben, können jedenfalls bei unverändertem Sachverhalt auf der Vollstreckungsebene nicht als unerheblich behandelt werden (Arndt, Der Verwaltungsakt als Grundlage der Verwaltungsvollstreckung, 1967, S. 55). Es ist allgemein anerkannt, dass auf der Vollstreckungsebene grundsätzlich keine erneute Prüfung der Rechtmäßigkeit der Grundverfügung erfolgt (OVG
Lüneburg, Urt. v. 28.10.1971 - I A 98/70 -, OVGE MüLü 27, 509 m.w.N., bei juris nur Ls.; w. Nachw. bei Mann, in: Große-Suchsdorf, NBauO, 9. Aufl. 2013, § 79 Rn. 142). Soll dies irgendeine praktische Relevanz haben, so kann es sich nicht allein auf die Existenz eines vollstreckbaren Verwaltungsakts als solche beziehen, sondern muss auch bedeuten, dass bei der Betätigung des Vollstreckungsermessens keine Erwägungen angestellt werden dürfen, die der Bewertung der Tatbestandsvoraussetzungen, aber auch etwaigen Ermessenserwägungen in der Grundverfügung zuwider liefen. Dies ergibt sich aus § 40 VwVfG: Danach hat eine Behörde, ist sie ermächtigt, nach ihrem Ermessen zu handeln, dieses entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben. Zweck des Vollstreckungsermessens ist es, vollstreckungsspezifische Gesichtspunkte, die auf der Ebene der Grundverfügung nicht berücksichtigt werden dürfen, sowie Änderungen der Sachlage seit Erlass der Grundverfügung, die dort noch nicht berücksichtigt werden konnten, in das Verfahren einzuführen. Zweck des Vollstreckungsermessens ist es dagegen nicht, das Verfahren, das zum Erlass der Grundverfügung geführt hat, zu verdoppeln und somit unter Umgehung der §§ 48, 51 VwVfG eine zweite Chance des Vollstreckungsschuldners zu eröffnen, eine ihm günstige Ermessensbetätigung zu erwirken. Ohne Erfolg hält der Beigeladene hält dem entgegen, Belange müssten auf der Vollstreckungsebene neu bewertet werden, da sie ins Verhältnis zu spezifisch vollstreckungsrechtlichen Gegenbelangen gesetzt werden müssten. Das ist im Ansatz nicht von der Hand zu weisen, kann aber allenfalls dazu führen, dass die Wertungen des Grundverwaltungsakts durch das Hinzutreten vollstreckungsspezifischer Belange in ihrem Gewicht verschoben, nicht aber, dass sie - wie hier - erneut in Frage gestellt werden.

3. Bei seiner Entscheidung über eine Vollstreckung wird der Beklagte ferner seine bisherige Bewertung der finanziellen Situation des Klägers zu überdenken haben. Bedürftigkeit des Vollstreckungsschuldners kann im Rahmen der Vollstreckung unter zwei Gesichtspunkten zu berücksichtigen sein. Zum einen mag eine Vollstreckung verschoben werden können und im Extremfall auch müssen, wenn ihre sofortige Durchführung aufgrund eines vorübergehenden finanziellen Engpasses des Vollstreckungsschuldners eine besondere Härte darstellt, etwa dann, wenn eine sofortige Kostentragungspflicht diesen zwingen würde, Sachwerte mit Verlust zu veräußern; dabei ist freilich zu erwägen, inwieweit ihm infolge seines rechtswidrigen Vorverhaltens diese Härte zumutbar ist. Zum anderen darf die Behörde angesichts begrenzter Eigenmittel berücksichtigen, welche Kosten ihr durch die Vollstreckungsmaßnahme entstehen und inwieweit sie damit rechnen kann, diese vom Vollstreckungsschuldner erstattet zu bekommen.

Im vorliegenden Fall stehen schutzwürdige Interessen des Beigeladenen einer Vollstreckung nicht mehr entgegen. Von einem vorübergehenden Engpass kann angesichts des dem Beigeladenen bereits gewährten Vollstreckungsaufschubs von ca. 8 Jahren keine Rede mehr sein. Soweit der Beigeladene zur Finanzierung der Beseitigungskosten zur Veräußerung seines Grundstücks gezwungen sein sollte, hätte er ausreichend Zeit gehabt, diese ohne Wertverlust vorzunehmen. Unzumutbar ist eine Veräußerung des Grundstücks jedenfalls nicht, da der Beigeladene seine Beseitigungspflicht durch eigenes baurechtswidriges Handeln herbeigeführt hat.

Ob fiskalische Erwägungen einer sofortigen Vollstreckung entgegenstehen, kann der Senat nicht abschließend beurteilen; hierfür fehlen belastbare Zahlen zu den voraussichtlichen Beseitigungskosten im Rahmen einer Ersatzvornahme und zum Restwert des Grundstücks des Beigeladenen nach Durchführung der Beseitigung. In Anbetracht der vom Beklagten in der mündlichen Verhandlung geschätzten Höhe der Beseitigungskosten von 40.000,- € und der in den Verwaltungsvorgängen genannten Restschuldhöhe von 57.000,- € im Jahr 2013 (BA C, 2. Blatt) erscheint es durchaus als möglich, dass der Beklagte die Beseitigungskosten vollständig aus einer Verwertung des Grundstücks bestreiten könnte; der Kläger hat für dieses im schriftlichen Verfahren einen Verkehrswert von 135.000,- € angegeben. Selbst wenn dieser Wert erheblich überhöht sein sollte, wäre zu erwarten, dass zumindest ein beträchtlicher Teil der Beseitigungskosten refinanzierbar wäre. Sollte ein überschaubarer Betrag verbleiben, so hätte der Beklagte zu berücksichtigen, dass ihm die Aufgabe der Wahrung des öffentlichen Baurechts, ebenso wie sonstige polizeiliche Aufgaben, nicht nur unter dem Vorbehalt einer Kostenneutralität obliegt. Angesichts dessen dürfte jedenfalls der in dem Schreiben vom 17.8.2015 angedeutete Zeithorizont für eine Vollstreckung erst im Jahr 2020/21 deutlich zu weit gegriffen sein.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 und 3, 159 Satz 1, 162 Abs. 3 VwGO, § 100 Abs. 1 ZPO.