Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 07.08.2019, Az.: 6 A 1240/17

ausländische Streitkräfte; Ausländische Unternehmen; bestimmte soziale Gruppe; Irak; Mitarbeiter

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
07.08.2019
Aktenzeichen
6 A 1240/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 69973
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. (Ehemalige) Mitarbeiter ausländischer Streitkräfte oder (Si-cherheits-) Unternehmen stellen im Irak eine bestimmte so-ziale Gruppe im Sinne des § 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar. Ebenso kann es in Einzelfällen, die jedoch selten geworden sind, auch noch aktuell zu einer Verfolgung wegen einer (vo-rangegangenen) Berufstätigkeit kommen.
2. Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss zwischen den in § 3 Abs.1 Nr. 1, § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Hand-lungen (oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlun-gen) eine kausale Verknüpfung bestehen.

Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.

Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 1. Februar 2017 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Der Kläger trägt 1/3, die Beklagte 2/3 der Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Der Kläger, ein irakischer Staatsangehöriger arabischer Volks- und sunnitischer Glaubenszugehörigkeit, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Er reiste eigenen Angaben zufolge im Dezember 2015 aus dem Irak aus und im selben Monat auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier stellte er in einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag.

Zur Begründung dieses Antrags schilderte er im Rahmen seiner Anhörung, wie aus den zum Teil widersprüchlichen Protokollierungen des Bundesamts im Wesentlichen ersichtlich, er habe den Irak verlassen, da ihn eine extremistische Gruppierung mit dem Tod bedroht habe. Zu seinen persönlichen Verhältnissen erklärte der Kläger, seine erste Ehefrau, mit der er noch eine Tochter habe, lebe noch im Irak. Seine zweite Ehefrau sei verstorben. Zu seinem Werdegang erklärte er, er habe das Abitur abgeschlossen und anschließend ein Studium im Bereich Verwaltung und Wirtschaft an der Universität Bagdad absolvierte, wobei er sich auf Buchführung spezialisierte.

Im Anschluss habe er u.a. bei einer amerikanischen Firma in Bagdad im Bereich Logistik gearbeitet, zunächst in der Personalsecurity, dann als Supervisor. Zu den Gründen seiner Ausreise gab der Kläger an, er sei in den vorangegangenen Jahren wegen seiner Tätigkeit für die Amerikaner oftmals bedroht worden, zum Teil von Sunniten, zum Teil von Schiiten. Personen hätten ihn beispielsweise dreimal in den Jahren 2009 und 2010 verfolgt und auf sein Auto geschossen, zudem habe er zahlreiche Drohbriefe erhalten. Ausgereist sei er, nachdem jemand im Jahr 2015 sein Haus bombardiert habe.

Mit Bescheid vom 1. Februar 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) ab und erkannte ihm den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 2). Zudem stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Nr. 3) und drohte die Abschiebung des Klägers in den Irak an (Nr. 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) befristete es auf dreißig Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 5). Zur Begründung führte es aus, dem Kläger drohe keine ernsthafte Gefährdung durch religiös-extremistische Organisationen; zudem sei er gut ausgebildet und könne in einen anderen Teil des Zentral- oder Westirak ausweichen, da Sunniten hier die Mehrheit stellen würden.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 7. Februar 2017 Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein bisheriges Vorbringen.

Bei der Anhörung beim Bundesamt habe es massive Verständigungsschwierigkeiten mit dem Dolmetscher gegeben, welcher lediglich einen afrikanischen Dialekt des Arabischen gesprochen habe. Er, der Kläger, habe dies bereits zu Beginn der anhörenden Entscheiderin angezeigt; diese habe jedoch auf Durchführung der Anhörung bestanden. Sein Angebot, die Anhörung zumindest in Teilen auf Englisch durchzuführen, habe sie abgelehnt. Aus Angst, dass sein Asylantrag wegen fehlender Mitwirkung als offensichtlich unbegründet abgelehnt werde, habe er die Anhörung samt Verständigungsschwierigkeiten über sich ergehen lassen.

Richtigerweise stelle sich das Verfolgungsgeschehen wie folgt dar: Bis zum Jahr 2010 habe er für eine amerikanische Firma im Bereich „Personalsecurity“ gearbeitet. In dieser Zeit sei er durch radikale schiitische Muslime bedroht worden, u.a. durch Anhänger der Miliz Mahdi-Armee, welche ihn entführten und erst gegen Zahlung von Lösegeld freiließen. Seit dem Jahr 2010 habe er sich mit anderen Jobs über die Runde gehalten, sei aber immer wieder schriftlich bedroht worden. Seine zweite Ehefrau habe sich in dem Haus befunden, welches am 13. Juni 2015 bombardiert worden sei. Durch die Explosion sei sie verstorben. Er sei dann in einen anderen Stadtteil geflohen und habe sich bei Bekannten versteckt. Nachdem er bereits nach Deutschland geflüchtet sei, hätten Unbekannte zudem das Haus der Familie seines Bruders in Brand gesetzt. Seitdem sei die ganze Familie aus dem Irak ausgereist; ein Teil befinde sich in der Türkei, ein Teil auf dem Fluchtweg nach Europa.

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 11. Mai 2018 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 1. Februar 2017 zu verpflichten,

1.dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
2.hilfsweise, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
3.hilfsweise, festzustellen, dass in seiner Person Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter entscheidet, hat zum überwiegenden Teil Erfolg. Sie ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der Einzelrichter ist dabei nicht daran gehindert, auf Basis der mündlichen Verhandlung vom 7. August 2019 über die Klage zu entscheiden, obgleich kein Vertreter der Beklagten erschienen ist. Das Gericht hat die Beteiligten nämlich mit der Ladung darauf hingewiesen, dass auch in ihrer Abwesenheit mündlich verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).

Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus. Der Bescheid des Bundesamtes vom 1. Februar 2017, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

1.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gem. § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 S. 1 AsylG, weil er stichhaltige Gründe (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, n.v.; Beschluss vom 26.08.2016 - 9 ME 146/16 -, n.v.) für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 2 AsylG durch einen in § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3 c AsylG genannten Akteur droht. Prognosemaßstab für die Relevanz des drohenden Schadenseintritts ist die Frage der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (Nds. OVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 26; OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, juris Rn. 34; VG Lüneburg, Urteil vom 10.07.2017 – 3 A 205/16 –, juris Rn. 16). Abzustellen ist darauf, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für einen Schadenseintritt sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Zu begutachten ist hierbei die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (vgl. BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 - 9 C 14.89 -, juris). Dabei entspricht die zunächst zum nationalen Recht entwickelte Rechtsdogmatik zur Frage der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ auch dem neueren europäischen Recht (BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 29).

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs sowie der aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse ist das Gericht im vorliegenden Fall zu der Überzeugung gelangt, dass die für einen Schadenseintritt sprechenden Umstände bei einer zusammenfassenden Bewertung größeres Gewicht aufweisen als die dagegensprechenden Umstände.

Dem Kläger kommt bei der Beurteilung der Frage, ob ihm (weiterhin) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Eintritt eines ernsthaften Schadens im Irak droht, die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) zugute. Er war im sachlich zeitlichen Zusammenhang mit seiner Ausreise konkret-unmittelbar von einem ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG bedroht.

Die Auslegung des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG und seiner Begriffe orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf (Nds. OVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 24 zu § 4 AsylVfG; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15/12 -, juris Rn. 22 zu § 60 Abs. 2 AufenthG a.F.; VG Lüneburg, Urteil vom 10.07.2017 – 3 A 205/16 –, juris Rn. 17). Ob eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK vorliegt, hängt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs von den Gesamtumständen des jeweiligen Einzelfalls ab, wie etwa der Art und dem Kontext der Fehlbehandlung, der Dauer, den körperlichen und geistigen Auswirkungen, sowie - in einigen Fällen – von dem Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers (Nds. OVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris S. 13; Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 25 unter Bezugnahme auf EGMR, Urteil vom 04.11.2014, - 29217/12, Tarakhel ./. Switzerland - HUDOC Rn. 94; VG Lüneburg, a.a.O., Rn. 17). Eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte etwa dann angenommen, wenn sie unter anderem geplant war, ohne Unterbrechung über mehrere Stunden erfolgte und körperliche Verletzungen oder ein erhebliches körperliches oder seelisches Leiden bewirkte (Nds. OVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris S. 13; Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 25; jeweils unter Bezugnahme auf EGMR, Urteil vom 09.07.2015 - 32325/13, Mafalani ./. Croatia - HUDOC Rn. 69 m.w.N.; VG Lüneburg, a.a.O., Rn. 17). Von einer erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK ist der Gerichtshof ausgegangen, wenn sie bei dem Opfer Gefühle der Angst, seelischer Qualen und der Unterlegenheit hervorruft, wenn sie das Opfer in dessen oder in den Augen anderer entwürdigt und demütigt, und zwar unabhängig davon, ob dies beabsichtigt ist. Entsprechendes gilt dann, wenn die Behandlung den körperlichen oder moralischen Widerstand des Opfers bricht oder dieses dazu veranlasst, gegen seinen Willen oder Gewissen zu handeln sowie dann, wenn die Behandlung einen Mangel an Respekt offenbart oder die menschliche Würde herabmindert (Nds. OVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris S. 13; Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 25; jeweils unter Bezugnahme auf EMGR, Urteil vom 03.09.2015 - 10161/13, M. und M. ./. Croatia - HUDOC Rn. 132; VG Lüneburg, a.a.O., Rn. 17).

Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, drohte dem Kläger im Irak konkret-unmittelbar ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG vor, weil eine unbekannte Gruppierung das Haus des Klägers im Juni 2015 in die Luft sprengte, sei es, um ihn zu töten, sei es, um ihn aus seinem Haus und dem betreffenden Viertel zu vertreiben.

Die diesbezügliche Aussage des Klägers enthielt hinreichende Realkennzeichen, welche nach den Grundsätzen der psychologischen Aussageanalyse für die Wiedergabe eines real erlebten Geschehens sprechen. Er schilderte das Geschehen insbesondere im Kerngeschehen logisch konsistent, mit quantitativen Detailreichtum nebst Nennung ungewöhnlicher Details, im Zuge einer unstrukturierten Erzählweise nebst spontaner Ergänzungen bzw. Verbesserungen, frei von Belastungstendenzen gegenüber den Akteuren, unter Angabe räumlich-zeitlicher Verknüpfungen sowie unter Thematisierung unverstandener Handlungselemente. Diesbezüglich wird im Einzelnen auf die ausführliche Sitzungsniederschrift verwiesen.

Zwar hat sich die Anhörung des Klägers in Teilen als langwierig gestaltet, weil er zunächst nur sehr zurückhaltend erzählte und es zahlreicher Nachfragen des Einzelrichters bedurfte, um in einen kontinuierlichen Dialog mit dem Kläger zu treten. Dies zeigte sich auch in der deutlichen Überschreitung der für die Sitzung im Vorfeld angesetzten Verhandlungszeit. Dort, wo sich der Kläger schließlich zusammenhängend einließ, wiesen seine Schilderungen jedoch in hinreichendem Maße die dargestellten Realkennzeichen auf. Für die Glaubhaftigkeit des klägerischen Vortrages spricht dabei auch, dass er an den Stellen, an denen es ihm leicht möglich gewesen wäre, zu seinen Gunsten konkrete Urheber für die ihm im Juni 2015 widerfahrene Verfolgung zu benennen, von sich aus offen aussprach, er habe lediglich Vermutungen aufgrund vorangegangener Übergriffe und Drohungen, könne jedoch nicht mit letztverbindlicher Sicherheit sagen, wer für den Bombenanschlag auf sein Wohnhaus verantwortlich sei. Der Umstand, dass die Schilderungen des Klägers teilweise emotionslos wirkten, spricht nicht gegen seine Glaubwürdigkeit. Zum einen wurde ersichtlich, dass der Kläger generell relativ lakonisch über die ihm widerfahrenen Geschehnisse berichtet, was sich anhand des Beispiels verdeutlichte, wie er die – für die vorliegende Entscheidung nicht unmittelbar relevante – frühere Entführung durch die Mahdi-Armee sowie die Zeit seiner mehrtägigen Gefangenschaft schilderte. Zum anderen zeigte sich in einzelnen Momenten der Anhörung anhand der Mimik des Klägers, d.h. seiner massiven, dem Beobachter deutlich sichtbaren körperlichen Anspannung, dass er unter einer erheblichen seelischen Belastung stand, als er den Tod seiner Ehefrau sowie die Umstände des Auffindens ihres Leichnams durch die Rettungskräfte schilderte.

Der Kläger hat überdies insbesondere substantiiert dargelegt, dass es bei der Anhörung beim Bundesamt zu erheblichen Verständigungsschwierigkeiten kam, die Entscheiderin jedoch seine Hinweise hierauf ebenso ignorierte wie sein Angebot, sich auf Englisch zu unterhalten. Dieser Befund deckt sich mit dem Protokoll des Bundesamts, in dem sich, wie der Prozessbevollmächtigte des Klägers zutreffend schriftsätzlich ausführte, zum Teil sich widersprechende Gesprächsinhalte befinden. Demgegenüber konnte der Kläger in der mündlichen Verhandlung, auch auf kritische Nachfragen hin, ein in sich zusammenhängendes Verfolgungsschicksal schildern sowie, ohne auf eine chronologische Schilderung angewiesen zu sein, mühelos zwischen den verschiedenen Zeitebenen seines Vortrages hin- und herwechseln.

Der Kläger hat insbesondere glaubhaft dargelegt, dass er ab dem Jahr 2013 zunächst dauerhaft im Stadtteil Al-Sidiyah lebte, dort jedoch mehrfach im Namen der Miliz Mahdi-Armee unterzeichnete Drohbriefe erhielt, weshalb er ca. im August 2014 in den Bagdader Stadtteil Al-Dora zog. Ebenso hat er detailliert geschildert, wie er eines Tages im Frühjahr 2015 auf dem Boden seines Hofes vor seiner Garage einen zusammengedrehten, nicht unterschriebenen Zettel fand, auf dem sinngemäß gestanden habe: „Wir werden Dich töten, wenn Du Dein Haus nicht freiräumst.“ Ca. drei oder vier Monate später, d.h. im Juni 2015, als er auf dem Weg zur Arbeit gewesen sei, habe dann jemand dann mit einem selbstgebauten Sprengsatz sein Haus gesprengt. Im Haus hätten sich drei Gaskartuschen befunden, die durch die Explosion ebenfalls explodiert seien. Seine Frau habe zur Zeit der Explosion in der Küche befunden und sei augenblicklich gestorben. Die Rettungskräfte hätten nur einen Teil ihres Körpers finden können.

An diesem Tag, so der Kläger im Rahmen seiner weiteren Ausführungen in der mündlichen Verhandlung, hätten ihn Nachbarn angerufen haben und gesagt, dass er nach Hause kommen solle. Er habe ca. zwei Stunden für den Rückweg gebraucht. Als er angekommen sei, sei die Polizei schon vor Ort gewesen. Er habe bei ihnen eine Anzeige gestellt, und die Körperteile seiner Frau seien mit einem Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht worden. Die Polizisten hätten ein Protokoll angefertigt; dann seien sie mit ihm ins Krankenhaus gefahren. Diesen Vortrag hat der Kläger zudem durch Vorlage einer Bescheinigung der Polizeidirektion Bagdad substantiiert, der zufolge am 13. Juni 2015 eine terroristische Gruppierung das Haus des Klägers mit Sprengstoff zerstört habe, wodurch seine Frau ums Leben gekommen sein. Ebenfalls beigefügt hat der Kläger eine Bescheinigung des Ermittlungsoffiziers, der den Leichnam seiner Ehefrau untersuchte und die Verletzungen beschrieb.

Es bieten sich schließlich keine Umstände dafür, dass die unbekannte Gruppierung, die einen Sprengstoffanschlag auf den Kläger verübte, ihr Interesse an ihm verloren hätte, sollte er in den Irak zurückkehren.

Der dem Kläger weiterhin drohende ernsthafte Schaden ist auch rechtlich beachtlich im Sinne des § 4 Abs. 3 S. 1, § 3c AsylG. Hiernach kann die Verfolgung ausgehen vom Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat oder die in Nummer 2 der Norm genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Dies gilt zum einen, sofern die Bedrohung des Klägers von der PMF-Miliz Mahdi-Armee ausgehen sollte, denn diese stellt eine staatliche Organisation im Sinne des § 3c Nr. 1 AsylG dar (VG Hannover, Urteil vom 25.7.2019 – 6 A 2971/17, juris Rn. 39, 48; Urteil vom 12.11.2018 – 6 A 6923/16, juris LS 1, Rn. 41). Zum anderen ist die dem Kläger drohende Schadenszufügung auch beachtlich, sofern sie von sonstigen bewaffneten Gruppierungen oder Privatpersonen ausgeht. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes und des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl ist die irakische Polizei nämlich nicht in der Lage, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2017), 12. Februar 2018, S. 9; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 70). Ohnehin existiert kein Polizeigesetz, womit die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten zum (Nicht-) Handeln sehr weitgehend sind. Die Schwäche der irakischen Sicherheitskräfte hat es darüber hinaus vornehmlich schiitischen Milizen erlaubt – etwa den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, Asa’ib Ahl Al-Haqq und Kata’ib Hezbollah – Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen (AA, a.a.O., S. 9). Nach Angaben örtlicher Vertrauenspersonen ist es vor allem in dicht besiedelten Gebieten wie Bagdad außerdem besonders schwierig, zufriedenstellende Polizeiarbeit zu leisten (Landinfo/Migrationsverket – Joint Norwegian-Swedish Fact Finding Mission to Iraq, Iraq: Rule of Law in the Security and Legal system, November 2013, S. 23).

Ferner steht dem Kläger vor der weiterhin drohenden Schadensgefahr kein interner Schutz im Sinne von § 4 Abs. 3 S. 1 in Verbindung mit § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Hiernach wird einem Ausländer der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor dem drohenden ernsthaften Schaden oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG), sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung (siehe etwa: Urteil v. 26.10.2017 - 6 A 7844/17 und 6 A 9126/17) an, dass sich Flüchtlinge im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können. Es fehlt den Flüchtlingen die Möglichkeit, sicher in vergleichsweise sichere Landesteile zu reisen und dort aufgenommen zu werden. Die Zugangs- und Niederlassungsvoraussetzungen sind in den Provinzen unterschiedlich ausgestaltet; mitunter gibt es sogar innerhalb einer Provinz je nach (Unter-)Distrikt unterschiedliche Regelungen. Zugangsbeschränkungen an Kontrollpunkten sind nicht immer klar definiert und können je nach Sicherheitslage unterschiedlich angewandt bzw. willkürlich geändert werden. Die Voraussetzungen für eine Bürgschaft entbehren einer Rechtsgrundlage und werden oftmals willkürlich geändert. Sie können an den einzelnen Kontrollpunkten und je nach diensthabendem Personal unterschiedlich gehandhabt werden. Auch wenn Personen alle angegebenen Voraussetzungen an die Bürgschaft erfüllen, ist der Zugang zu einem relativ sicheren Gebiet nicht garantiert, und selbst Menschen mit ernsthaften gesundheitlichen Problemen wurde schon der Zugang verwehrt. Insbesondere ethnische und religiöse Erwägungen können darüber entscheiden, ob der Zugang gewährt oder verwehrt wird. Es besteht das Risiko einer Ausbeutung und Misshandlung, einschließlich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, da einige Bürgen Geld oder „Dienste“ für die Übernahme der Bürgschaft verlangen. Es kann ferner vorkommen, dass Schutz suchende Personen ohne Zugang zu grundlegender Versorgung an den Kontrollpunkten festsitzen, weil diese geschlossen sind oder ihnen der Zutritt zu bestimmten Orten verwehrt wird.

Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen weist in einer Auskunft aus April 2018 darauf hin, dass interne Fluchtalternativen im Irak in Anbetracht der gegenwärtigen Sicherheitslage und humanitären Verhältnisse allenfalls in Ausnahmefällen gegeben seien (UNHCR, Auskunft vom 25. April 2018 gegenüber dem VG Sigmaringen zum Beweisbeschluss vom 19. Oktober 2017 – A 1 K 5641/16 –, S. 2). Insbesondere bietet sich für den Kläger, zumal dieser bereits zweimal innerhalb der Stadt vertrieben wurde, keine zumutbare innerstädtische Fluchtalternative in Bagdad, denn die Möglichkeit, in ein sunnitisch geprägtes Stadtviertel zu fliehen, ist extrem begrenzt. So führt die Deutsche Orient-Stiftung in einem Gutachten aus November 2017 betreffend die innerstädtische Fluchtalternative eines von schiitischen Milizen verfolgten Sunniten aus, zumutbare Rückzugsorte seien realistischerweise kaum vorhanden. Im Zuge der konfessionellen Auseinandersetzungen seien viele zuvor gemischte Stadtviertel ethnisch und konfessionell homogenisiert worden. Es werde geschätzt, dass bis zu 80 Prozent der Bevölkerung Bagdads schiitisch seien. Zudem übten schiitische Milizen, welche sich im Zuge der Rückeroberung sunnitischer Gebiete vom IS mit Vorwürfen massiver Menschenrechtsverletzungen konfrontiert sähen, weiterhin lokalen Einfluss aus. Soweit sunnitisch-arabisch geprägte Gebiete in Bagdad weiterhin existierten, sei im Übrigen auf die weiterhin sehr schlechte Sicherheitslage in der Stadt hinzuweisen (im Jahr 2016: 6.878 getötete Zivilisten, von Januar bis Oktober 2017: 3.112 getötete Zivilisten, jeweils bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 6,6 Mio. Menschen; Deutsche Orient-Stiftung, Auskunft zum Beschluss A 1 K 5641/16, 22. November 2017, S. 5 f.).

Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 2 AsylG bestehen nicht.

2.

Demgegenüber hat der Kläger keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Nach Maßgabe der in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse ließ sich nicht mit der gebotenen Verlässlichkeit feststellen, dass die dem Kläger widerfahrene Verfolgung an seine (sunnitische) Religion oder seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe anknüpfte.

Zwar stellen Mitarbeiter ausländischer Streitkräfte oder (Sicherheits-) Unternehmen im Irak eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar (grundlegend: VG Hannover, Urteil vom 21.3.2018 – 6 A 6714/16, juris Rn. 58 ff.; VG Hannover, Urteil vom 2.7.2018 – 6 A 7926/16, juris LS, Rn. 32 ff.; Urteil vom 9.7.2018 – 6 A 5325/17, juris LS). Ebenso kann es in Einzelfällen, die jedoch selten geworden sind, auch noch aktuell zu einer Verfolgung wegen einer (vorangegangenen) Berufstätigkeit kommen.

Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss jedoch zwischen den in § 3 Abs.1 Nr. 1, § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen (oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen) eine kausale Verknüpfung bestehen. Auf eine etwaige subjektive Motivation des Verfolgers kommt es dabei nicht entscheidend an (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Maßgebend ist vielmehr die objektive Zielrichtung, welche der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.1.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55, Rn. 22, 24, Marx, AsylG, 2017, § 3a Rnr. 50 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678). Für eine erkennbare objektive Zielrichtung der Maßnahme genügt es, wenn ein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG einen wesentlichen Faktor für die Verfolgungshandlung darstellt (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7).

Dieser gesetzliche Maßstab ist im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Es lässt sich nicht zur Überzeugung des Einzelrichters feststellen, dass die dem Kläger drohenden Verfolgungshandlungen an die oben dargestellten Verfolgungsgründe anknüpften. Die mündliche Verhandlung ließ lediglich den Rückschluss darauf zu, dass Personen den Kläger abermals aus seinem Stadtteil vertreiben wollten. Um wen es sich handelte und welche objektive Zielrichtung diese Maßnahme hatte, blieb jedoch – auch aus Sicht des Klägers – letztendlich offen. Entsprechendes gilt für die Frage, wer die Familie seines Bruders verfolgte und aus welchen Gründen dies geschah. Der Umstand, der im Rahmen der Beurteilung der Glaubhaftigkeit des klägerischen Vorbringens zu seinen Gunsten für die Einordnung als erlebnisbasiert sprach, führt mit anderen Worten gewissermaßen als „Kehrseite der Medaille“ dazu, dass sich ein flüchtlingsrechtlich relevantes Verfolgungshandeln im Sinne des § 3a Abs. 3 AsylG nicht feststellen lässt.

3.

Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich der Bezeichnung Irak als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO ebenfalls aufzuheben. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der des subsidiären Schutzstatus, was nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2a AsylG der Bezeichnung des Staates Irak in der Abschiebungsandrohung entgegensteht.

Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.