Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 31.05.2018, Az.: 9 LA 61/18

Abschiebungsverbot; Akteur; humanitäre Lage; subsidiärer Schutz

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
31.05.2018
Aktenzeichen
9 LA 61/18
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2018, 74181
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 12.03.2018 - AZ: 1 A 108/17

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Schlechte humanitäre Bedingungen, die - wie in Afghanistan - nicht auf direkte oder indirekte Handlungen oder Unterlassungen staatlicher oder nichtstaatlicher Akteure zurückzuführen sind, führen nicht zur Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG.

Sie können nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK (nur) ein nationales Abschiebungsverbot nach sich ziehen.

Tenor:

Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 12. März 2018 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück - 1. Kammer (Einzelrichterin) - wird abgelehnt.

Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens als Gesamtschuldner. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg. Der von ihnen ausschließlich geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG liegt nicht vor bzw. ist nicht hinreichend dargelegt (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG).

Eine Rechtssache ist i. S. d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich noch nicht geklärte Rechtsfrage oder eine obergerichtlich bislang noch nicht beantwortete Tatsachenfrage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich ist und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf.

Die Kläger halten die Frage für grundsätzlich bedeutsam,

„ob den Klägern in ihrer Situation, im Falle seiner Rückkehr ein ernsthafter Schaden aufgrund einer möglicherweise fehlenden Möglichkeit zur Existenzsicherung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht.“

Diese Frage lässt sich jedoch in einem Berufungsverfahren nicht allgemeingültig beantworten, sondern ist schon ihrer Formulierung nach auf den Einzelfall der Kläger bezogen. Das Verwaltungsgericht hat im Übrigen die individuellen Umstände der Kläger geprüft. Insbesondere hat es den im Zulassungsverfahren wiederholten Vortrag der Kläger gewürdigt, der Kläger zu 1) sei als Ersatzfahrer für die Firma HIT tätig gewesen und sein Bruder sei bei einem Überfall der Taliban verstorben. Es hat es aber nicht für glaubhaft gehalten, dass den Klägern bei ihrer Rückkehr eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht. Gegen diese Feststellung haben die Kläger keine Verfahrensrügen erhoben.

Die weitere von den Klägern aufgeworfene Frage,

„Besteht die tatsächliche Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK im Falle der Abschiebung aufgrund mangelnder Existenzsicherung im Zielstaat der Abschiebung auch dann auf einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und Art. 15b RL 2011/95/EU führen kann, wenn die mangelnde Versorgung nicht auf ein bewusstes Vorenthalten der Versorgung durch den Heimatstaat zurückzuführen ist?“

rechtfertigt ebenfalls keine Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung.

Denn diese Frage lässt sich unter Berücksichtigung der maßgeblichen europäischen Richtlinien und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, des Gerichtshofs der Europäischen Union und der Rechtsprechung nationaler Gerichte dahingehend beantworten, dass schlechte humanitäre Bedingungen, die – wie in Afghanistan – nicht auf direkte oder indirekte Handlungen oder Unterlassungen staatlicher oder nichtstaatlicher Akteure zurückzuführen sind, nicht zur Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG führen (vgl. auch VGH BW, Urteile vom 11.4.2018 – A 11 S 1729/17 – juris Rn. 43 ff.; vom 11.4.2018 – A 11 S 924/17 – juris Rn. 50 ff.; vom 17.1.2018 – A 11 S 241/17 – juris Rn. 168 ff.; vom 5.12.2017 – A 11 S 1144/17 – juris Rn. 183 ff.). Sie können nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK (nur) ein nationales Abschiebungsverbot nach sich ziehen.

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union sind die Vorschriften des abgeleiteten Unionsrechts unter Beachtung der durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleisteten Grundrechte auszulegen und anzuwenden (vgl. EuGH, Urteil vom 16.2.2017 – C-578/16 PPU – juris Rn. 59 m. w. N.). Für die Richtlinie 2011/95/EU ergibt sich dies auch aus deren 16. Erwägungsgrund. Danach befolgt die Richtlinie insbesondere die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannten Grundsätze. Nach Art. 4 der Charta darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Dieses Verbot entspricht dem in Art. 3 EMRK aufgestellten Verbot. Es hat nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihm in der Europäischen Menschenrechtskonvention verliehen wird (vgl. EuGH, Urteil vom 16.2.2017, a. a. O., Rn. 67). Dementsprechend orientiert sich die Auslegung von Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMKR (vgl. EuGH, Urteil vom 16.2.2017, a. a. O., Rn. 68 m. w. N.). Dies gilt entsprechend für § 4 AsylG, durch den Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU umgesetzt wurde (vgl. Senatsurteile vom 19.9.2016 – 9 LB 100/15 – juris Rn. 52; vom 7.9.2015 – 9 LB 98/13 – juris Rn. 24, jeweils zu § 4 AsylVfG sowie BVerwG, Urteile vom 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 22; vom 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 15 und 25, jeweils zu § 60 Abs. 2 AufenthG a. F.).

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte haben sozialwirtschaftliche und humanitäre Bedingungen im Abschiebungszielstaat weder notwendig noch einen ausschlaggebenden Einfluss auf die Frage, ob eine Person tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein (vgl. EGMR, Urteile vom 29.1.2013 – 60367/10 [S. H. H ./. Great Britain] – HUDOC Rn. 74; vom 28.6.2011 – 8319/07 und 11449/07 [Sufi und Elmi ./. Great Britain] – HUDOC Rn. 278; vom 20.1.2009 – 32621/06 [F.H. ./. Sweden] – HUDCO Rn. 92; vom 11.1.2007 – 1948/04 [Salah Sheekh ./. The Netherlands] – HUDOC Rn. 141; Senatsurteil vom 20. 7.2015 – 9 LB 320/14 – juris). Denn Art. 3 EMRK dient hauptsächlich dem Schutz bürgerlicher und politischer Rechte (vgl. EGMR, Urteil vom 27.5.2008 – N./Großbritannien – HUDOC Rn. 44). Allerdings können sozialwirtschaftliche und humanitäre Bedingungen im Herkunftsland in ganz besonderen Ausnahmefällen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen, gegen Art. 3 EMRK verstoßen. Dabei kann eine Verletzung von Art. 3 EMRK – in Anwendung unterschiedlich strenger Prüfungsmaßstäbe – nicht nur in Fällen vorliegen, in denen die schlechten humanitären Bedingungen auf direkte oder indirekte Handlungen oder Unterlassungen staatlicher oder nichtstaatlicher Akteure zurückzuführen sind, sondern auch in Fällen, in denen sie maßgebend auf fehlende staatliche Mittel oder fehlende staatliche Fürsorge zurückzuführen sind (dazu ausführlich unter entsprechenden Nachweisen der Rechtsprechung des EGMR: Senatsurteil vom 20.7.2015 – 9 LB 320/14 – S. 9 ff. des Urteilsabdrucks; siehe ferner Senatsbeschluss vom 25.5.2018 – 9 LA 64/18 – z. V. v.).

Die Gewährung subsidiären Schutzes setzt aber – wie das Verwaltungsgericht angenommen hat (S. 17 UA) – voraus, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens von einem der in § 4 Abs. 3 i. V. m. § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten (vgl. auch Art. 6 der Richtlinie 2011/95/EU). Der Gerichtshof der Europäischen Union hat zu Art. 15 Buchstabe b der Vorgängerrichtlinie 2004/83/EG entschieden, dass der darin definierte ernsthafte Schaden eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, die ein an einer schweren Krankheit leidender Antragsteller bei seiner Rückkehr in sein Herkunftsland erfahren könnte, auf das Fehlen einer angemessenen Behandlung in diesem Land zurückzuführen ist, ohne dass ihm die Versorgung absichtlich verweigert würde (vgl. EuGH, Urteil vom 18.12.2014 – C-542/13 – juris Rn. 41; siehe auch Generalanwalt Bot, Schlussanträge vom 24.10.2017 – C-353/16 – juris Rn. 27 ff.). Nach dem 15. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95/EU fallen „diejenigen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten verbleiben dürfen, nicht weil sie internationalen Schutz benötigen, sondern aus familiären oder humanitären Ermessensgründen“, ausdrücklich nicht unter diese Richtlinie. Schäden im Sinne des Art. 15 Buchstabe b der Richtlinie 2011/95/EU müssen daher von bestimmten Dritten verursacht werden. Damit sind solche Gefahren, die – wie etwa die humanitäre Lage – im Herkunftsstaat/Abschiebungszielstaat unabhängig von der Verantwortlichkeit eines in § 3c AsylG genannten Akteurs bestehen, als Anknüpfungspunkt für die Zuerkennung subsidiären Schutzes in der Regel ausgeschlossen (so auch VGH BW, Urteile vom 17.1.2018, a. a. O., Rn. 171 ff.; vom 5.12.2017, a. a. O., Rn. 187 ff.; VG Lüneburg, Urteil vom 15.5.2017 – 3 A 156/16 – juris Rn. 51).

Der Senat teilt die Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, dass auch keine Veranlassung besteht, Art. 15 Buchstabe b der Richtlinie 2011/95/EU mit Blick auf Art. 3 EMRK erweiternd auszulegen (vgl. VGH BW, Urteil vom 17.1.2018, a. a. O., Rn. 176 ff.). Denn mit einer möglichen Versagung internationalen Schutzes wird unionsrechtlich nicht abschließend darüber entschieden, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat rechtlich zulässig ist. Vielmehr ist darüber hinaus der sich aus Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG ergebende Grundsatz der Nichtzurückweisung im Lichte des Art. 3 EMRK zu prüfen. Der Schutz vor einer im Widerspruch zu Art. 3 EMRK stehenden Behandlung ist im nationalen Recht dadurch gewährleistet, dass schlechte humanitäre Bedingungen, die – wie in Afghanistan – nicht auf direkte oder indirekte Handlungen oder Unterlassungen staatlicher oder nichtstaatlicher Akteure zurückzuführen sind, nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK ein nationales Abschiebungsverbot nach sich ziehen können (vgl. VG Lüneburg, Urteil vom 15.5.2017, a. a. O., Rn. 52; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 13.6.2013 – 10 C 13.12 – juris Rn. 25). Entsprechend hat das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Urteil die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass für die Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegt.

Soweit die Kläger weiter meinen, aufgrund der Vorverfolgung des Klägers zu 1) liege ein ernsthafter Schaden i S. d. § 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 AsylG vor, haben sie eine grundsätzliche Bedeutung der von ihnen aufgeworfenen Fragen nicht dargetan, sondern rügen die Bewertung des Verwaltungsgerichts in ihrem konkreten Einzelfall. Die Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass gefahrerhöhende individuelle Umstände, die einen ernsthaften Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG begründen könnten, nicht vorliegen, haben die Kläger ebenfalls nicht mit Verfahrensrügen angegriffen.

Auch mit ihren allgemeinen Ausführungen zu § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG haben die Kläger eine grundsätzliche Bedeutung der von ihnen aufgeworfenen Fragen nicht darzulegen vermocht.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 159 Satz 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).