Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 07.08.2019, Az.: 6 A 7646/16

Checkpoints; Irak; LKW; LKW-Fahrer; Miliz; PMF-Miliz; Stamm; subsidiärer Schutz; Volksmobilisierungseinheiten; Zwangsrekrutierung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
07.08.2019
Aktenzeichen
6 A 7646/16
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 70001
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Aufgrund der landesweit angespannten Sicherheitslage im Irak, insbesondere der zahlreichen Checkpoints der unterschiedlichen Sicherheitskräfte, konfessionell-extremistischen und kriminellen Gruppierungen, handelt es sich bei LKW-Fahrern um eine Berufsgruppe, deren Angehörige eine gegenüber der übrigen Bevölkerung gesteigerte Gefahr aufweisen können, einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG zu erleiden.

2. Einem irakischen LKW-Fahrer kann der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen sein, wenn er von Angehörigen der irakischen Streitkräfte, PMF-Milizen oder sonstigen religiös-extremistischen oder kriminellen Gruppierungen dazu gezwungen wird, Transporte durchzuführen, bei denen das erhöhte Risiko besteht, Opfer gewaltsamer Übergriffe durch konkurrierende Gruppierungen zu werden.

3. Einem irakischen Staatsangehörigen muslimischer Glaubenszugehörigkeit kann nach Lage des Einzelfalls religiöse und/oder politische Verfolgung drohen, wenn er sich weigert, sich PMF-Milizen anzuschließen, wobei als Täter neben den Milizionären auch Angehörige der eigenen Familie bzw. des eigenen Stammes in Betracht kommen.

4. Es lässt sich allerdings kein genereller Erfahrungssatz aufstellen, dass PMF-Milizen oder andere interessierte Akteure zwangsläufig mit Gewalt auf fehlgeschlagene Rekrutierungsversuche reagieren, zumal die Gruppierungen über zahlreiche Bewerber verfügen.

5. Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit erfordert vor diesem Hintergrund das Hinzutreten weiterer, qualifizierender Umstände, sei es beispielsweise, dass eine Miliz ihr besonderes Augenmerk auf einzelne Personen gerichtet hat und diese etwa für ein Fehlverhalten in Gestalt einer öffentlichkeitswirksamen Ablehnung sanktionieren möchte, sei es, weil Stammesführer einzelne Mitglieder bedrohen mit dem Ziel, diese mögen sich einer PMF-Miliz anschließen und Anschläge des IS gegen den eigenen Stamm rächen.


Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.

Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 24. November 2016 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Der Kläger trägt 1/3, die Beklagte 2/3 der Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Der Kläger, ein konfessionsloser irakischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Er reiste eigenen Angaben zufolge im November 2015 aus dem Irak aus und im Januar 2016 auf dem Landweg über Österreich kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier stellte er in einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag.

Zu seinen persönlichen Verhältnissen erklärte er, er stamme aus der Provinz Wasit, konkret aus einem in unmittelbarer Nähe der Stadt Al-Kot gelegenen kleinen Dorf. Dort hielten sich noch seine Eltern, seine Geschwister und weitere Mitglieder seiner Großfamilie auf. Seine Eltern seien schiitischen Glaubens. Zu seinem Werdegang gab der Kläger an, er habe die Schule bis zur sechsten Klasse besucht und danach in der Spedition seines Vaters als LKW-Fahrer gearbeitet. Finanziell sei es ihm gut gegangen. Seit seiner Kindheit leide er jedoch an einer Behinderung am linken Bein, derentwegen er vom Wehrdienst befreit worden sei. Dieses lahme und er habe häufig Schmerzen; ab und zu beginne es unkontrolliert zu zittern. Im Irak habe er regelmäßig Tabletten gegen die Schmerzen eingenommen.

Auf die Gründe seiner Ausreise angesprochen, gab der Kläger ausweislich der Feststellungen im nicht rückübersetzten Anhörungsprotokoll an, aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit regelmäßig in Lebensgefahr gewesen zu sein. Den Beruf des LKW-Fahrers, so der Kläger, könne man im Irak nicht richtig ausüben, denn es gebe landesweit keine Sicherheit. Auf jeder Straße könne man einer Bombenexplosion zum Opfer fallen. Außerdem gebe es neben der irakischen Armee viele bewaffnete Gruppierungen, die gegeneinander kämpften. Er selbst könne und wolle nicht kämpfen. Fahrerkollegen seien von bewaffneten Gruppierungen getötet worden, die ihnen den LKW und die Waren gestohlen hätten. Jedes Mal, wenn er das Haus verlassen habe, habe er seinen Eltern mitgeteilt, dass er nicht sicher sei, ob er zurückkommen werde. Die meisten Aufträge habe seine Familie von Händlern erhalten; die Waren habe er meist nach Bagdad gefahren. Ca. zwei- bis dreimal im Monat zu sei auch „das Regime“ zu dem Parkplatz gekommen, auf dem alle LKW-Fahrer gewartet hätten, und hätte diese gezwungen, Ladungen in andere Dörfer und Städte zu transportieren. Er selbst habe sich verweigert und nach Ausflüchten gesucht, zum Beispiel, dass der LKW seinem Vater gehöre und er dies nicht entscheiden dürfe. Aber auch er habe einmal eine derartige Fahrt gegen seinen Willen durchführen müssen. Im Falle einer Rückkehr in den Irak, so der Kläger abschließend, befürchte er, wegen seiner beruflichen Tätigkeit getötet zu werden.

Mit Bescheid vom 24. November 2016, zugestellt am 3. Dezember 2016, lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) ab und erkannte ihm den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 2). Zudem stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Nr. 3) und drohte die Abschiebung des Klägers in den Irak an (Nr. 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) befristete es auf dreißig Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 5).

Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, der Kläger habe keine konkrete persönliche Bedrohung aufgrund eines flüchtlingsrelevanten Verfolgungsmerkmals vorgetragen. Außerdem lasse sich im Fall des Antragstellers keine individuelle Gefahrerhöhung bei seiner Rückkehr in das dortige Herkunftsgebiet feststellen.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 14. Dezember 2016 Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein bisheriges Vorbringen. Sein eigener Bruder sei als LKW-Fahrer tätig gewesen, aber – mutmaßlich von Terroristen – angehalten und getötet worden. Ihm, dem Kläger, drohe zudem politische Verfolgung, weil er sich nach dem Tod seines Bruders geweigert habe, den al-Haschd asch-Schaʿbī (Volksmobilisierungseinheiten bzw. Popular Mobilisation Forces/PMF-Milizen) anzuschließen und Rache zu nehmen.

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 11. Juli 2019 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 24. November 2016 zu verpflichten,

1.dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

2. hilfsweise, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

3. hilfsweise, festzustellen, dass in seiner Person Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter entscheidet, hat zum überwiegenden Teil Erfolg. Sie ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der Einzelrichter ist dabei nicht daran gehindert, auf Basis der mündlichen Verhandlung vom 7. August 2019 über die Klage zu entscheiden, obgleich kein Vertreter der Beklagten erschienen ist. Das Gericht hat die Beteiligten nämlich mit der Ladung darauf hingewiesen, dass auch in ihrer Abwesenheit mündlich verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).

Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus. Der Bescheid des Bundesamtes vom 24. November 2016, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

1.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gem. § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 S. 1 AsylG, weil er stichhaltige Gründe (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, n.v.; Beschluss vom 26.08.2016 - 9 ME 146/16 -, n.v.) für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 2 AsylG durch einen in § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3 c AsylG genannten Akteur droht. Prognosemaßstab für die Relevanz des drohenden Schadenseintritts ist die Frage der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (Nds. OVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 26; OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, juris Rn. 34; VG Lüneburg, Urteil vom 10.07.2017 – 3 A 205/16 –, juris Rn. 16). Abzustellen ist darauf, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für einen Schadenseintritt sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Zu begutachten ist hierbei die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (vgl. BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 - 9 C 14.89 -, juris). Dabei entspricht die zunächst zum nationalen Recht entwickelte Rechtsdogmatik zur Frage der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ auch dem neueren europäischen Recht (BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 29).

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs sowie der aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse ist das Gericht im vorliegenden Fall zu der Überzeugung gelangt, dass die für einen Schadenseintritt sprechenden Umstände bei einer zusammenfassenden Bewertung größeres Gewicht aufweisen als die dagegensprechenden Umstände.

Dem Kläger kommt bei der Beurteilung der Frage, ob ihm (weiterhin) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Eintritt eines ernsthaften Schadens im Irak droht, die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) nicht zugute. Er hat im sachlich zeitlichen Zusammenhang mit seiner Ausreise weder bereits einen ernsthaften Schaden erlitten noch war er von einem derartigen Schaden konkret-unmittelbar bedroht. Im Falle seiner Rückkehr in den Irak droht ihm jedoch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG.

Die Auslegung des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG und seiner Begriffe orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf (Nds. OVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 24 zu § 4 AsylVfG; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15/12 -, juris Rn. 22 zu § 60 Abs. 2 AufenthG a.F.; VG Lüneburg, Urteil vom 10.07.2017 – 3 A 205/16 –, juris Rn. 17). Ob eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK vorliegt, hängt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs von den Gesamtumständen des jeweiligen Einzelfalls ab, wie etwa der Art und dem Kontext der Fehlbehandlung, der Dauer, den körperlichen und geistigen Auswirkungen, sowie - in einigen Fällen – von dem Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers (Nds. OVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris S. 13; Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 25 unter Bezugnahme auf EGMR, Urteil vom 04.11.2014, - 29217/12, Tarakhel ./. Switzerland - HUDOC Rn. 94; VG Lüneburg, a.a.O., Rn. 17). Eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte etwa dann angenommen, wenn sie unter anderem geplant war, ohne Unterbrechung über mehrere Stunden erfolgte und körperliche Verletzungen oder ein erhebliches körperliches oder seelisches Leiden bewirkte (Nds. OVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris S. 13; Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 25; jeweils unter Bezugnahme auf EGMR, Urteil vom 09.07.2015 - 32325/13, Mafalani ./. Croatia - HUDOC Rn. 69 m.w.N.; VG Lüneburg, a.a.O., Rn. 17). Von einer erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK ist der Gerichtshof ausgegangen, wenn sie bei dem Opfer Gefühle der Angst, seelischer Qualen und der Unterlegenheit hervorruft, wenn sie das Opfer in dessen oder in den Augen anderer entwürdigt und demütigt, und zwar unabhängig davon, ob dies beabsichtigt ist. Entsprechendes gilt dann, wenn die Behandlung den körperlichen oder moralischen Widerstand des Opfers bricht oder dieses dazu veranlasst, gegen seinen Willen oder Gewissen zu handeln sowie dann, wenn die Behandlung einen Mangel an Respekt offenbart oder die menschliche Würde herabmindert (Nds. OVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris S. 13; Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 25; jeweils unter Bezugnahme auf EMGR, Urteil vom 03.09.2015 - 10161/13, M. und M. ./. Croatia - HUDOC Rn. 132; VG Lüneburg, a.a.O., Rn. 17).

Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, liegen im Falle des Klägers die Voraussetzungen des drohenden Eintritts eines ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG vor.

Ausweislich der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel handelt es sich bei LKW-Fahrern aufgrund der landesweit angespannten Sicherheitslage im Irak um eine Berufsgruppe, deren Angehörige eine gegenüber der übrigen Bevölkerung gesteigerte Gefahr aufweisen können, einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG zu erleiden.

Bereits nach dem Sturz Saddam Husseins durch die US-Koalitionsstreitkräfte im Jahr 2003 galten zivile LKW-Fahrer als fortwährendes Angriffsziele krimineller oder terroristischer Gruppierungen. Infolge der erheblichen Sicherheitsrisiken hatten insbesondere die US-Streitkräfte Probleme, geeignete Vertragspartner zu finden, da zahlreiche Fahrer aus Sorge um ihr Leben ihren Dienst quittierten (Stars and Stripes, Artikel vom 6. April 2005, „Iraqi convoy drivers face huge risks“). So galt beispielsweise die LKW-Strecke von Jordanien in den Irak ursprünglich als wirtschaftlich florierende Route, die einen jährlichen Umsatz von bis zu einer Milliarde US-Dollar generierte und auf der bis zu 2.000 LKWs täglich den Irak erreichten; nach der US-Invasion verringerte sich diese Zahl beständig auf bis zu 400 LKWs pro Tag. Nachdem die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) im Jahr 2014 Mosul und weite Teile der Anbar-Provinz eingenommen hatte, fiel die Zahl der auf dieser Strecke einreisenden LKWs nach Auskunft von Gewerkschaftsvertretern nochmals auf bis zu 45 oder 30 pro Tag. Die Verluste auf dieser Route schätzten sie für die Jahre 2013 und 2014 auf 211 Millionen US-Dollar. Der fortschreitende Kampf der irakischen Regierung und der Koalitionsstreitkräfte gegen den IS hat darüber hinaus zu einer weiteren Beeinträchtigung der Handelsrouten im Irak beigetragen. Auf der Straße nach Bagdad sehen sich die Fahrer mit weitgehend rechtsfreien Räumen konfrontiert, welche der Kontrolle von IS-Anhängern, Milizen und sonstigen bewaffneten Gruppierungen unterliegen, die nach freiem Belieben Checkpoints errichten; die Route nach Mosul gilt dabei im Vergleich als nochmals gefährlicher (The Independent, Artikel vom 7. Dezember 2014, „The most dangerous truck route in the world? A Mad Max-style endurance race from the Jordan border through the heart of Isis territory“; The Financial Times, Artikel vom 14. April 2015, „Trucks struggle to navigate Iraq’s Isis-controlled roads“).

Die Erhebung von gesetzlich nicht vorgesehenen „Zöllen“ oder „Gebühren“ von Wirtschaftsteilnehmern an Checkpoints stellt überdies eine der lukrativsten illegalen Einnahmequellen im Irak dar. Angehörige der Polizei und der Armee zahlen erhebliche Summen, um die Befehlsgewalt über einen Checkpoint zu erhalten und sich mit den Gewinnen durch die erpressten Gelder zu refinanzieren; auch Milizionäre nutzen stark frequentierte Routen als Einnahmequelle, zum Teil auch durch die Entführung von Fahrern. Nach Auskunft eines LKW-Fahrers aus dem Jahr 2015 existierten zur damaligen Zeit beispielsweise auf der Strecke von Bagdad nach Erbil bis zu 40 Checkpoints, vornehmlich solche der Milizen der Volksmobilisierungseinheiten (Al-Haschd asch-Schaʿbī, Popular Mobilization Units (PMU) bzw. Popular Mobilization Forces (PMF); siehe zu letzteren ausführlich: VG Hannover, Urt. v. 12.11.2018 – 6 A 6923/16, juris Rn. 25 ff.; Urt. v. 25.7.2019 – 6 A 2971/17, juris Rn. 39), zum Teil auch solche kurdischer Gruppierungen. Die bedeutendsten schiitischen PMF-Milizen haben sich außerdem jeweils großflächige, üblicherweise vom IS zurückeroberte Territorien gesichert, in denen sie die ausschließliche Befugnis zur Erhebung von Zöllen für sich in Anspruch nehmen. So dominieren die Kata'ib Hezbollah (Hezbollah Brigaden) das östliche Anbar, Asa’ib Ahl Al-Haqq (Liga der rechtschaffenen Leute) hingegen die Strecke von Samaraa nach Tikrit, während die Badr-Organisation (Munaẓẓama Badr) die Diyala-Provinz nordöstlich von Bagdad kontrolliert. LKW-Fahrer aus Kirkuk sprechen davon, an kleineren Checkpoints Summen von 500 US-Dollar entrichten zu müssen, an größeren Checkpoints in Richtung Bagdad indessen Beträge bis zu 5.000 US-Dollar, falls sie verderbliche Ware wie Geflügel oder Eier transportieren. Nach Auskunft eines im Frachtgeschäft tätigen Wirtschaftsvertreters kostet es etwa bis zu 7.000 US-Dollar an Bestechungsgeldern, um eine LKW-Ladung zum al-Asad Luftwaffenstützpunkt in der Anbar-Provinz zu transportieren. Die vorbezeichneten Gebühren legen die Versender auf die Endverbraucher um. In Anbetracht des Umstandes, dass der Irak abseits von Öl und Gas fast nichts selbst produziert, hat dies zur Folge, dass die Preise für Gebrauchsgüter im Irak die Preise für vergleichbare Güter in der Türkei zum Teil um das Vier- oder Achtfache übersteigen (siehe zum Vorgenannten jeweils: The Independent, Artikel vom 2. Juni 2016, „Isis bombers, bribery and endless checkpoints - the death-defying trials of an Iraqi trucker“; Al Jazeera, Artikel vom 11. Juni 2015, „Q&A: The long and dangerous road to Baghdad“; The Financial Times, Artikel vom 14. April 2015, „Trucks struggle to navigate Iraq’s Isis-controlled roads“).

Mit den fortschreitenden Gebietsverlusten des IS ist auch diese Gruppierung im zunehmenden Maße auf eine „Besteuerung“ der örtlichen Wirtschaft angewiesen, d.h. die Erpressung von Schutzgeldern. Gerade die Erhebung von „Gebühren“ von LKW-Fahrern an Checkpoints, von Anhängern des IS zum Teil als Zakat bezeichnet (islamische Almosenabgabe bzw. die fünfte Säule des Islam), hat sich für den IS zu einer lukrativen Einnahmequelle entwickelt, wobei die Gruppierung nach Auskunft von Betroffenen durchschnittlich bis zu 300 bis 400 US-Dollar pro Fahrzeug erhebt, bei wichtigen Transporten wie Medikamenten bis zu 1.000 US-Dollar pro LKW. Fahrer, die Ladungen transportieren, welche der IS – wie zum Beispiel Tabak – als unislamisch betrachtet, riskieren darüber hinaus, ausgepeitscht zu werden und die gesamte Ladung zu verlieren. Im Gegenzug für die Zahlung der Schutzgelder erhalten die Fahrer eine Quittung mit dem Siegel des IS, welche die meisten verstecken, um an später anzufahrenden Checkpoint der irakischen Armee nicht den Ärger der Sicherheitskräfte auf sich zu ziehen (The Financial Times, a.a.O.).

LKW-Fahrer berichten zudem von dem ständigen Risiko, von Angehörigen des IS oder der irakischen Sicherheitskräfte jeweils entweder als Apostaten oder als IS-Anhänger beschuldigt und misshandelt zu werden, wobei auch Fälle tödlicher Gewalt verzeichnet sind. Frachtunternehmen wechseln deshalb kontinuierlich zwischen sunnitisch- oder schiitisch-arabischen und kurdischen Fahrern, um je nach Wegstrecke das Risiko von Übergriffen zu minimieren. Zusätzlich berichten Fahrer von extremistischen oder mafiaartigen Gruppen, welche LKW-Fahrer töten und ihre Fahrzeuge verbrennen, um Angst zu verbreiten (The Independent, Artikel vom 2. Juni 2016, „Isis bombers, bribery and endless check-points - the death-defying trials of an Iraqi trucker“; The Independent, Artikel vom 7. Dezember 2014, „The most dangerous truck route in the world? A Mad Max-style endurance race from the Jordan border through the heart of Isis territory“).

Zahlreiche Fahrer stranden wegen dieser Gefahren auf der Wegstrecke und hausen unter Brücken, weil eine Rückkehr an ihren Heimatort zu gefährlich geworden ist, insbesondere, weil sie die (zwischenzeitlich erhöhten) Bestechungsgelder an den Checkpoints nicht mehr zahlen können. Infolge dieser Gefahrenlage besteht eine erhebliche Personalknappheit bei Speditions- und Frachtunternehmen. Ein Fahrer, der sich zu einem Einsatz im Irak bereiterklärt, kann seinen üblichen Monatslohn nach Angabe von Brancheninsidern innerhalb einer Woche verdreifachen. Nach Auskunft von Gewerkschaftsvertretern zahlen die Unternehmen zusätzliche Boni, Gefahren- und Erschwerniszulagen sowie Zulagen für Essen und Benzin für diejenigen Fahrer, welche sich bereiterklären, bestimmte gefährliche Routen zu übernehmen. Selbständige Fahrer, die ihren eigenen LKW steuern („owner-operators“), können bis zu 2.000 US-Dollar für eine Tour erzielen, wobei allerdings Strecken, welche ursprünglich innerhalb mehrerer Tage zu bewältigen waren, nunmehr ein bis zwei Wochen in Anspruch nehmen können (The Independent, Artikel vom 2. Juni 2016, „Isis bombers, bribery and endless check-points - the death-defying trials of an Iraqi trucker“; ferner: Al Jazeera, Artikel vom 11. Juni 2015, „Q&A: The long and dangerous road to Baghdad“). Einschlägige Stellenbörsen werben vor dem Hintergrund dieser Personalknappheit für eine Tätigkeit von LKW-Fahrern im Irak, weisen jedoch zugleich auf die Einsatzgefahren sowie darauf hin, dass Militärveteranen bevorzugt eingestellt würden (www.findatruckingjob.com/Iraq-truck-driving-jobs, „Iraq truck driver jobs are in demand!“; ausdrücklich: Military Hire, Inserat vom 29. Juli 2019, „LCIV CTEF: Heavy Truck Driver – Military Veterans Preferred“, https://www.militaryhire.com/jobs-for-veterans/job/1911984/LCIV-CTEF-Heavy-Truck-Driver/country/Iraq/; Abruf jeweils: 13. August 2019):

„Es wird darauf hingewiesen, dass der Arbeitseinsatz in potentiell gefährlichen Gebieten erfolgen kann, insbesondere in Kampf- oder Kriegsgebieten. Dies könnte das Risiko umfassen, durch feindliche Kräfte oder den Beschuss durch eigene Truppen körperliche Schäden zu erleiden. Diese Gefahren sind den Arbeitsbedingungen in einem gefährlichen Umfeld immanent.“

Diese Erkenntnismittel zur Gefährdung von LKW-Fahrern im Irak finden ihre sachliche Entsprechung in den glaubhaften Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Es steht aufgrund der aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, an seinem Heimatort von bewaffneten Gruppierungen, d.h. Angehörigen der Armee, PMF-Milizen oder sunnitischen terroristischen Gruppierungen, gegen seinen Willen zum Transport besonders sensibler bzw. gefährlicher LKW-Ladungen gezwungen zu werden und hierbei Opfer gewaltsamer Übergriffe zu werden. Die diesbezügliche Aussage des Klägers enthielt hinreichende Realkennzeichen, welche nach den Grundsätzen der psychologischen Aussageanalyse für die Wiedergabe eines real erlebten Geschehens sprechen. Er schilderte das Geschehen insbesondere im Kerngeschehen logisch konsistent, mit quantitativen Detailreichtum nebst Nennung ungewöhnlicher Details, im Zuge einer unstrukturierten Erzählweise nebst spontaner Ergänzungen bzw. Verbesserungen, unter Angabe räumlich-zeitlicher Verknüpfungen nebst Schilderung der Motivations- und Gefühlslage der Beteiligten sowie unter Thematisierung unverstandener Handlungselemente. Diesbezüglich wird im Einzelnen auf die ausführliche Sitzungsniederschrift verwiesen.

Der Kläger hat hierbei insbesondere ausführlich dargelegt, dass er seit zwei oder drei Jahren vor seiner Ausreise aus dem Irak mangels anderer Arbeitsmöglichkeiten als LKW-Fahrer in der Firma seines Vaters tätig gewesen sei, wobei er abwechselnd mit seinem Bruder Aufträge erledigt habe. Hauptsächlich hätten sie für Händler Lebensmittel transportiert (z.B. Weizen, Gemüse, Mehl und Reis); schwerpunktmäßig seien sie von Al Kot aus nach Bagdad oder Basra gefahren. Diese Tätigkeit sei sehr gefährlich gewesen, weil man viele Checkpoints passieren müsse, ohne dass man wüsste, ob es sich z.B. um einen Checkpoint einer terroristischen Gruppierung handle. Außerdem hätten Parteien und sonstige Gruppierungen LKW-Fahrer regelmäßig gezwungen, Waffen oder andere gefährliche Gegenstände zu transportieren.

Ebenso hat der Kläger glaubhaft geltend gemacht, dass sowohl er als auch sein Bruder von bewaffneten Gruppierungen gezwungen worden sei, LKW-Fahrten durchzuführen. Diesbezüglich hat der Kläger zunächst mit erheblichem Detailreichtum geschildert, wie er im Jahr 2015 einige Monate vor dem Tod seines Bruders von einer bewaffneten Gruppierung genötigt wurde, Lebensmittel in ein Militärcamp in der Nähe von Mosul zu liefern. Entgegen der fehlerhaften Feststellung im Protokoll des Bundesamts sei er nicht vom „Regime“ zum Transport gezwungen worden, sondern von Angehörigen der Volksmobilisierungseinheiten, die ihm sinngemäß gesagt hätten: „Wenn Du nicht fährst, ist das Verrat gegen Dein Land.“ In diesem Zusammenhang konnte der Kläger sowohl die Hinfahrt zu dem Camp als auch das Verhalten der bewaffneten Begleitperson der Miliz, welche am Zielort zurückblieb, ebenso detailreich schildern wie seine überstürzte Abfahrt aus dem Camp, seine massive Angst um sein Leben sowie seine anschließende zweiwöchige Arbeitsunfähigkeit.

Des Weiteren hat der Kläger überaus plastisch geschildert, wie sein Vater einige Monate von Angehörigen einer ihm unbekannten bewaffneten Gruppierung aufgefordert wurde, einen Transport für die Gruppe zu übernehmen, wobei er, der Kläger, bis zum heutigen Tag nicht wisse, ob es sich um Terroristen, PMF-Milizionäre oder Angehörige der Armee gehandelt habe. Sein Vater habe dies zunächst abgelehnt und ihm und seinem Bruder eingeschärft, keinerlei Aufträge mehr anzunehmen. Letztendlich habe sich sein Bruder einverstanden erklärt, die Tour zu übernehmen, nachdem die Mitglieder der Gruppe seinem Vater gedroht hatten, im Falle der fortdauernden Weigerung seine Kinder zu töten. An dem Tag im September 2015, als sein Bruder mit einem Mitglied der Gruppe fortgefahren sei, habe sein Vater noch vergeblich versucht, von der Person, die seinen Bruder abholte, Garantien für die Sicherheit seines Sohnes zu erhalten. Sein Bruder, so der Kläger, habe seine Mutter noch zu beruhigen versucht und ihr gesagt, sie solle nicht traurig sein, er würde noch am Abend zurückkommen und sie solle das Abendessen vorbereiten. Im Anschluss sei er gegangen. Eine Woche lang hätte die Familie nichts mehr von ihm gehört, dann hätten sie einen Anruf aus der Gerichtsmedizin erhalten. Sein Vater sei hingefahren und habe seinen toten Bruder identifiziert. Später habe die Polizei ihnen erzählt, dass man den LKW seines Bruders auf der Straße gefunden und beschlagnahmt habe, ferner, dass jemand seinen Bruder zweimal in die Beine geschossen und ihn erwürgt habe. Er, der Kläger, wisse bis heute nicht, was sein Bruder habe transportieren sollen. Die gesamte Familie habe seinem Vater hinterher schwere Vorwürfe gemacht, zumal sein Bruder zum Zeitpunkt seines Todes erst 40 Jahre alt gewesen sei.

Unter Berücksichtigung dieser Feststellungen besteht für den Kläger im Falle seiner Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit weiterhin das Risiko, von bewaffneten Gruppierungen zu gefährlichen Transportfahrten gezwungen zu werden und hierbei ernsthafte Einbußen an seiner körperlichen Integrität bis hin zur gewaltsamen Tötung zu erleiden. Dies gilt zum einen, weil die Familie bereits zweimal innerhalb nur weniger Monate zu entsprechenden Transportfahrten herangezogen wurde, zum anderen, weil der (gesundheitlich eingeschränkte) Kläger im Irak bisher keinen anderen Beruf als denjenigen des LKW-Fahrers ausüben konnte.

Der dem Kläger drohende ernsthafte Schaden ist auch rechtlich beachtlich im Sinne des § 4 Abs. 3 S. 1, § 3c AsylG. Hiernach kann die Verfolgung ausgehen vom Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat oder die in Nummer 2 der Norm genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Dies gilt zum einen, sofern die Bedrohung der klägerischen Familie von Angehörigen der (regulären) irakischen Armee oder von PMF-Milizen ausgeht, denn diese stellen staatliche Organisationen im Sinne des § 3c Nr. 1 AsylG dar (VG Hannover, Urteil vom 25.7.2019 – 6 A 2971/17, juris Rn. 39, 48; Urteil vom 12.11.2018 – 6 A 6923/16, juris LS 1, Rn. 41). Zum anderen ist die dem Kläger drohende Schadenszufügung auch beachtlich, sofern sie von sonstigen bewaffneten Gruppierungen ausgeht. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes und des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl ist die irakische Polizei nämlich nicht in der Lage, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2076), 12. Februar 2018, S. 9; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 70). Ohnehin existiert kein Polizeigesetz, womit die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten zum (Nicht-) Handeln sehr weitgehend sind. Die Schwäche der irakischen Sicherheitskräfte hat es darüber hinaus vornehmlich schiitischen Milizen erlaubt – etwa den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, Asa’ib Ahl Al-Haqq und Kata’ib Hezbollah – Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen (AA, a.a.O., S. 9). Nach Angaben örtlicher Vertrauenspersonen ist es vor allem in dicht besiedelten Gebieten wie Bagdad außerdem besonders schwierig, zufriedenstellende Polizeiarbeit zu leisten (Landinfo/Migrationsverket – Joint Norwegian-Swedish Fact Finding Mission to Iraq, Iraq: Rule of Law in the Security and Legal system, November 2013, S. 23).

Ferner steht dem Kläger vor der weiterhin drohenden Schadensgefahr kein interner Schutz im Sinne von § 4 Abs. 3 S. 1 in Verbindung mit § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Hiernach wird einem Ausländer der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor dem drohenden ernsthaften Schaden oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung (vgl. zuletzt Urteil v. 26.10.2017 - 6 A 7844/17 und 6 A 9126/17) an, dass sich Flüchtlinge im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können. Es fehlt den Flüchtlingen die Möglichkeit, sicher in vergleichsweise sichere Landesteile zu reisen und dort aufgenommen zu werden. Die Zugangs- und Niederlassungsvoraussetzungen sind in den Provinzen unterschiedlich ausgestaltet; mitunter gibt es sogar innerhalb einer Provinz je nach (Unter-)Distrikt unterschiedliche Regelungen. Zugangsbeschränkungen an Kontrollpunkten sind nicht immer klar definiert und können je nach Sicherheitslage unterschiedlich angewandt bzw. willkürlich geändert werden. Die Voraussetzungen für eine Bürgschaft entbehren einer Rechtsgrundlage und werden oftmals willkürlich geändert. Sie können an den einzelnen Kontrollpunkten und je nach diensthabendem Personal unterschiedlich gehandhabt werden. Auch wenn Personen alle angegebenen Voraussetzungen an die Bürgschaft erfüllen, ist der Zugang zu einem relativ sicheren Gebiet nicht garantiert, und selbst Menschen mit ernsthaften gesundheitlichen Problemen wurde schon der Zugang verwehrt. Insbesondere ethnische und religiöse Erwägungen können darüber entscheiden, ob der Zugang gewährt oder verwehrt wird. Es besteht das Risiko einer Ausbeutung und Misshandlung, einschließlich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, da einige Bürgen Geld oder „Dienste“ für die Übernahme der Bürgschaft verlangen. Es kann ferner vorkommen, dass Schutz suchende Personen ohne Zugang zu grundlegender Versorgung an den Kontrollpunkten festsitzen, weil diese geschlossen sind oder ihnen der Zutritt zu bestimmten Orten verwehrt wird.

Es ist nicht ersichtlich, dass der Fall des Klägers hiervon abweichen könnte. In diesem Zusammenhang berücksichtigt der Einzelrichter insbesondere, dass der Kläger in seinen Erwerbsmöglichkeiten eingeschränkt ist, da er an einer körperlichen Behinderung leidet, ferner, dass er im Falle einer Rückkehr in den Irak nicht auf eine finanzielle oder sonstige Unterstützung seiner Familie zählen kann. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung nämlich glaubhaft dargelegt, insbesondere durch detaillierte Schilderung des konkreten Streitgesprächs mit seinem Vater, dieser habe jeglichen Kontakt zu ihm abgebrochen. Sein Vater sei davon ausgegangen, dass Terroristen seinen Bruder getötet hätten und habe ihn, den Kläger, aufgefordert, den Volksmobilisierungseinheiten beizutreten. Dies habe er seinerseits mit der Begründung abgelehnt, er schulde dem Land gar nichts, und seinen Bruder mache dies auch nicht wieder lebendig. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger diesen Vortrag zudem glaubhaft dahingehend ergänzt, er sei kein religiöser Mensch, sehe sich insbesondere nicht als Schiit und wolle keinesfalls an den im Irak vorherrschenden Glaubenskriegen zwischen Sunniten und Schiiten teilnehmen.

Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 2 AsylG bestehen nicht.

2.

Demgegenüber hat der Kläger keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Nach Maßgabe der in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse lässt sich nicht feststellen, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, aufgrund seiner Religion sowie der ihm zugeschriebenen politischen Haltung Verfolgungshandlungen (§ 3 Abs. 1, § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG) zu erleiden.

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Eine Verfolgung wegen politischer Überzeugung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 4 AsylG liegt vor, wenn diese an eine abweichende Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung zu Fragen des öffentlichen Staats- oder Gesellschaftslebens angeknüpft, unabhängig davon, auf welchen Lebensbereich sich diese bezieht. Entscheidend ist, ob Opposition im weiteren Sinne bekämpft wird, und sei es auch nur durch „normale“ Strafverfolgung mit Politmalus (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3b AsylG, Rn. 2).

Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss ferner zwischen den in § 3 Abs.1 Nr. 1, § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen (oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen) eine kausale Verknüpfung bestehen. Auf eine etwaige subjektive Motivation des Verfolgers kommt es dabei nicht entscheidend an (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Maßgebend ist vielmehr die objektive Zielrichtung, welche der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.1.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55, Rn. 22, 24, Marx, AsylG, 2017, § 3a Rnr. 50 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678). Für eine erkennbare objektive Zielrichtung der Maßnahme genügt es, wenn ein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG einen wesentlichen Faktor für die Verfolgungshandlung darstellt (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7).

Dieser gesetzliche Maßstab ist im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Es lässt sich nicht feststellen, dass die dem Kläger drohenden Verfolgungshandlungen an die oben dargestellten Verfolgungsgründe anknüpfen. Die mündliche Verhandlung ließ lediglich den Rückschluss darauf zu, dass bewaffnete Gruppierungen den Kläger bzw. seinen Bruder instrumentalisierten, indem sie diese zu riskanten Transportfahrten in Konfliktgebiete zwangen. Die Androhung von Gewalt diente dieser Instrumentalisierung. Der Umstand, dass einer der Täter dem Kläger vorhielt, sofern er sich weigere, sei dies „Verrat an seinem Land“, war für sich betrachtet nicht aussagekräftig genug, um den Rückschluss zuzulassen, dass der Akteur hiermit eine abweichende politische Haltung sanktionieren wollte. Im Vordergrund stand gerade die „werkzeugartige“ Einbindung des Klägers in die Zwecke der Organisation zur Durchführung riskanter Fahrten.

Dem Kläger droht überdies nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, wegen seiner Weigerung, sich den PMF-Milizen beizutreten, verfolgt zu werden. Zwar kann einem irakischen Staatsangehörigen muslimischer Glaubenszugehörigkeit nach Lage des Einzelfalls religiöse und/oder politische Verfolgung drohen, wenn er sich weigert, sich PMF-Milizen anzuschließen, wobei als Täter neben den Milizionären auch Angehörige der eigenen Familie bzw. des eigenen Stammes in Betracht kommen (zur Zwangsrekrutierung durch die Mahdi-Armee: VG Hannover, Urteil vom 11.6.2018 – 6 A 7435/16, juris Rn. 43 ff.; zur Zwangsrekrutierung durch Asa‘ib Ahl al-Haqq: Urteil vom 9.7.2018 – 6 A 7643/16, n.v., S. 13 ff.; für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes in diesem Fall: VG Braunschweig, Urteil vom 25. April 2017 – 2 A 406/16, n.v., S. 7 ff.; siehe auch: VG Göttingen, Urteil vom 22.03.2017 – 2 A 390/16 -, n.v., S. 3 ff.). Ausweislich der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel lässt sich allerdings kein genereller Erfahrungs-satz aufstellen, dass PMF-Milizen zwangsläufig mit Gewalt auf fehlgeschlagene Rekru-tierungsversuche reagieren, zumal die Gruppierungen über zahlreiche Bewerber verfügen, sei es über herkömmliche Rekrutierungskampagnen (Social-Media-Auftritte etc.), sei es aufgrund des sozialen Drucks der örtlichen Gemeinschaften und Stämme.

In Bezug auf die Rekrutierungspraxis der PMF-Milizen stellt ACCORD in einer Anfragebeantwortung aus Juni 2017 fest, nach Informationen örtlicher Vertrauenspersonen hätten sich in schiitischen Provinzen mehr als 75 Prozent der männlichen Einwohner schiitischen Milizen innerhalb der PMF angeschlossen. Die Mehrzahl dieser Rekruten seien Reservisten, die nicht kämpften. Der Zustrom gehe schwerpunktmäßig auf die Fatwa des Großayatollah Sistani zurück, der im Hinblick auf die vorangegangenen Gebietsgewinne des IS am 13. Juni 2014 alle Männer im kampfesfähigen Alter zu den Waffen rief (ACCORD, Iraq: recruitment (including forced recruitment) of young men by Shia militias in Shia regions; consequences of refusal to be recruited [a-10168], 9. Juni 2017, S. 4 f.). Lediglich in Einzelfällen wird auch von irakischen Flüchtlingen berichtet, die von den Milizen desertiert seien oder sich den „Brecheisen-Rekrutierungsmethoden“ entzogen hätten (MEE, Artikel vom 1. Dezember 2015, „Sunni tribes joining shia militias as war against IS heats up in Iraq“). Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit erfordert vor diesem Hintergrund das Hinzutreten weiterer, qualifizierender Umstände, sei es, dass eine Miliz ihr besonderes Augenmerk auf einzelne Personen gerichtet hat und diese etwa für ein Fehlverhalten in Gestalt einer öffentlichkeitswirksamen Ablehnung sanktionieren möchte (VG Hannover, Urteil vom 9.7.2018 – 6 A 7643/16, n.v., S. 13 ff.), sei es, weil Stammesführer einzelne Mitglieder bedrohen mit dem Ziel, diese mögen sich einer PMF-Miliz anschließen und Anschläge des IS gegen den eigenen Stamm rächen (VG Hannover, Urteil vom 11.6.2018 – 6 A 7435/16, juris Rn. 43 ff.). An derartigen qualifizierenden Umständen fehlt es indessen im vorliegenden Fall. Weder hat eine PMF-Miliz ein besonderes Rekrutierungsinteresse an dem Kläger gefasst bzw. diesen zurechtweisen wollen noch wurde er konkret von Mitgliedern seines Stammes bzw. seiner Familie mit Gewaltmaßnahmen bedroht.

3.

Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich der Bezeichnung Irak als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO ebenfalls aufzuheben. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der des subsidiären Schutzstatus, was nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2a AsylG der Bezeichnung des Staates Irak in der Abschiebungsandrohung entgegensteht.

Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.