Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 14.08.2019, Az.: 6 A 7347/16

desertieren; Desertion; Dohuk; innerstaatlicher bewaffneter Konflikt; Irak; Kurdische Autonomieregion; Kurdistan; Peschmerga; Peshmerga; PKK; Türkei; Zakho

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
14.08.2019
Aktenzeichen
6 A 7347/16
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 70020
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. In Teilen des Distrikts Zakho, welcher im Norden der Pro-vinz Dohuk an der Grenze zur Türkei liegt, besteht gegenwärtig ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, weil das türkische Militär in unmittelbarer Nähe von Wohnsiedlungen gelegene Stellungen der als Terrororganisation eingestuften „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) bombardiert.
2. Zum Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Bestrafung wegen Desertion von den Peschmerga

Tenor:

Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Kläger die Klage zurückgenommen haben.

Im Übrigen wird die Beklagte verpflichtet, den Klägern den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. November 2016 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.

Die Kläger tragen 1/3, die Beklagte 2/3 der Kosten des Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Die Kläger, irakische Staatsangehörige kurdischer Volks- und sunnitischer Glaubenszugehörigkeit, begehren die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus.

Sie reisten eigenen Angaben zufolge im Dezember 2015 aus dem Irak aus und im selben Monat in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie in einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtling (im Folgenden: Bundesamt) Asylanträge stellten. Zu ihren persönlichen Verhältnissen erklärten die Kläger im Rahmen ihrer Anhörung beim Bundesamt, sie stammten aus einem kleinen Ort im Distrikt Zakho im Norden der Provinz Dohuk, welcher in der unmittelbaren Nähe der irakisch-türkischen Grenze liege. Zu ihrem Werdegang gaben beide Kläger an, sie hätten keine Schule besucht. Er, der Kläger zu 1., habe u.a. als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft gearbeitet; sie, die Klägerin zu 2., sei Hausfrau gewesen.

Zu den Gründen ihrer Ausreise erklärten die Kläger, sie seien wegen der bedrohlichen Sicherheitslage in ihrer Heimatsregion ausgereist. Der Kläger zu 1. gab hierzu u.a. an, einer seiner Brüder sei im Jahr 2005 mit einer verheirateten Frau fortgelaufen, woraufhin die Familie der Frau ihre eigene Tochter umgebracht und der Familie des Klägers gegenüber Rache geschworen habe. Sein Vater habe etwa im Jahr 2005 Anzeige bei der Polizei erstattet, aber diese habe nichts unternommen, außer, nach seinem Bruder zu suchen. Sein Bruder habe den Irak deshalb im Jahr 2008 in Richtung Norwegen verlassen und wohne seitdem dort. Seiner Familie sei seitdem nichts passiert, allerdings seien sie im Alltag sehr vorsichtig. Ferner ergänzte der Kläger zu 1., ein anderer seiner Brüder sei im Jahr 2015 beim Kampf der Peschmerga gegen den IS gestorben; ein weiterer Bruder leide seit einem Treffer in den Nacken an einer Behinderung. In Bezug auf den Heimatort der Familie erklärte der Kläger zu 1., es käme zu andauernden Bombenangriffen türkischer Flugzeuge auf Stellungen der PKK, welche sich in den Bergen rund um seinen Heimatort befänden. Die Flugzeuge würden auch Dörfer im Grenzgebiet zerstören. Auf die Nachfrage des Entscheiders ergänzte der Kläger zu 1., sie hätten nicht versucht, in eine andere Stadt zu ziehen, weil sie im Falle des Umzuges in eines der umliegenden Dörfer mit Sicherheit Probleme mit der sie bedrohenden Familie bekommen hätten.

Mit Bescheid vom 16. November 2016, den Klägern am 18. November 2016 zugestellt, lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) sowie auf Anerkennung als Asylberechtigte (Nr. 2) ab und erkannte den Klägern den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Zudem stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Nr. 4) und drohte die Abschiebung der Kläger in den Irak an (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) befristete es auf dreißig Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 6). Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, die Kläger hätten sich allgemein auf die unsichere Lage im Irak berufen, von der die gesamte Bevölkerung gleichermaßen betroffen sei.

Gegen diesen Bescheid haben die Kläger am 2. Dezember 2016 Klage erhoben. Zur Begründung gaben sie an, der Kläger zu 1. habe sein Heimatland wegen einer ernsthaften Bedrohung durch die Peschmerga verlassen. Er habe den Peschmerga über einen langjährigen Zeitraum angehört und sei auch dafür bezahlt worden. Als er desertiert sei, hätten Angehörige der Peschmerga nach ihm gesucht. Er habe dies nicht bereits bei seiner Anhörung beim Bundesamt vorgetragen, da er Angst gehabt habe, von den deutschen Behörden als Terrorist eingestuft zu werden. Kurdische Bekannte hätten ihm dazu geraten, nichts von der Zugehörigkeit zu den Peschmerga zu erzählen. Außerdem fürchteten die Kläger die Kriegssituation im Irak. In Bezug auf die Klägerin zu 2. läge ein Abschiebehindernis nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vor. Sie leide an einer beidseitigen Hüftdisplasie, welche zum Teil bereits operativ behandelt worden sei. Diesbezüglich reichten die Kläger ein fachärztliches Attest ein.

In der mündlichen Verhandlung hat die Prozessbevollmächtigte der Kläger erklärt, sie nehme die Klage zurück, soweit sie ursprünglich auch die Anerkennung als Asylbe-rechtigte sowie die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt habe.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 16. November 2016 zu verpflichten,

1. den Klägern den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

2. hilfsweise, festzustellen, dass in ihrer Person Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

1.

Das Verfahren ist nach § 92 Abs. 3 S. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) nach der teilweisen Klagerücknahme in der mündlichen Verhandlung in dem aus dem Tenor in Verbindung mit der Sitzungsniederschrift ersichtlichen Umfang mit der Kostenfolge des § 155 Abs. 2 VwGO einzustellen.

2.

Die im Übrigen aufrechterhaltene Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter entscheidet, hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet. Der Einzelrichter ist dabei nicht daran gehindert, auf Basis der mündlichen Verhandlung vom 14. August 2019 über die Klage zu entscheiden, obgleich weder der Kläger noch ein Vertreter der Beklagten erschienen ist. Das Gericht hat die Beteiligten nämlich mit der Ladung darauf hingewiesen, dass auch in ihrer Abwesenheit mündlich verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).

Die Kläger haben gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus. Der Bescheid des Bundesamtes vom 16. November 2016, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt die Kläger in ihren Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

Die Kläger haben einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gem. § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 S. 1 AsylG, weil sie stichhaltige Gründe (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, n.v.; Beschluss vom 26.08.2016 - 9 ME 146/16 -, n.v.) für die Annahme vorgebracht haben, dass ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 3 AsylG durch einen in § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3 c AsylG genannten Akteur droht.

Prognosemaßstab für die Relevanz des drohenden Schadenseintritts ist die Frage der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (Nds. OVG, Urteil vom 07.09.2015 - 9 LB 98/13 -, juris Rn. 26; OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, juris Rn. 34; VG Lüneburg, Urteil vom 10.07.2017 – 3 A 205/16 –, juris Rn. 16). Abzustellen ist darauf, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für einen Schadenseintritt sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Zu begutachten ist hierbei die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (vgl. BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 - 9 C 14.89 -, juris). Dabei entspricht die zunächst zum nationalen Recht entwickelte Rechtsdogmatik zur Frage der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ auch dem neueren europäischen Recht (BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 29).

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs sowie der aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse ist das Gericht im vorliegenden Fall zu der Überzeugung gelangt, dass die für einen Schadenseintritt sprechenden Umstände bei einer zusammenfassenden Bewertung größeres Gewicht aufweisen als die dagegensprechenden Umstände. Im Falle ihrer Rückkehr in den Irak droht den Klägern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 1 AsylG. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß Absatz 1 Satz 2 Nummer 3 der Norm eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts.

Der Begriff des internationalen bewaffneten Konflikts erfasst nach dem gemeinsamen Artikel 2 der Genfer Konventionen von 1949 in Verbindung mit Art. 1 des I. Zusatzprotokolls einen förmlich erklärten Krieg oder jeden anderen bewaffneten Konflikt zwischen Staaten, auch wenn der Kriegszustand von einer der Konfliktparteien nicht anerkannt wird (Keßler, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 4 AsylVfG, Rn. 13). Demgegenüber ist das Tatbestandsmerkmal des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nicht völkerrechtlich auszulegen, sondern unter Berücksichtigung der Vorgaben des Art. 15 lit. c) der Richtlinie 2011//95/EU (Qualifikationsrichtlinie – QR). Ausschlaggebend ist hierbei, ob eine Situation willkürlicher Gewalt festzustellen ist, also eine Lage, in der die regulären Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder in der zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen. Weder kommt es auf den Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte noch auf die Intensität und Dauerhaftigkeit des Konflikts an; entscheidend ist ausschließlich das Ausmaß der willkürlichen Gewalt (Keßler, a.a.O., § 3 AsylVfG, Rn. 14; EuGH, Urteil vom 30.01.2014 – C-285/12, Asylmagazin 2014, S. 76, Rn. 28, 34 – Diakité). Ein bewaffneter Konflikt muss sich nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken; vielmehr genügt es, wenn nur ein Teil von Kampfhandlungen betroffen ist (BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 – 10 C 43.07, InfAuslR 2008, S. 474).

Eine ernsthafte individuelle Bedrohung liegt dabei vor, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls in die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (EuGH, Urteil vom 17.02.2009 – C-465/09, ECLI:EU:C:2009:94, Rn. 35 – Elgafaji). Eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben kann sich hiernach auch aus einer allgemeinen Gefahr für eine Vielzahl von Zivilpersonen im Rahmen eines bewaffneten Konflikts ergeben, wenn sich die Gefahr in der Person des Ausländers verdichtet. Eine solche Verdichtung bzw. Individualisierung kann sich zum einen aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Ausländers ergeben. Sie kann unabhängig davon zum anderen ausnahmsweise auch bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (BVerwG, Urteil vom 14.07.2009 – 10 C 9/08, BeckRS 2009, 39593, LS 1; Urteil vom 17.11.2011 – 10 C 13/10, BeckRS 2012, 45614, Rn. 17-19). Diese Voraussetzungen sind im Falle der Kläger erfüllt.

Ausweislich der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel besteht im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 S. 1 HS 1 AsylG) in der Herkunftsregion der Kläger, dem Distrikt Zakho, ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, da die türkische Armee – mit impliziter Duldung der kurdischen Regionalregierung – Stellungen der als Terrororganisation eingestuften Untergrundorganisation Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) mit Luftangriffen und Artilleriebeschuss bombardiert.

In dem an der Grenze zur Türkei gelegenen Distrikt Zakho gelten der Beschuss durch Flugzeuge und Artillerie als regelmäßige Vorkommnisse, wobei die Geschosse oftmals in der unmittelbaren Nähe von Wohngebieten einschlagen oder diese treffen (Ruadaw, Artikel vom 31. März 2019, „Locals in Zakho ask officials to intervene in PKK-Turkey conflict). Hintergrund ist, dass die mit der Türkei in einem militärischen Konflikt befindliche PKK ihren Hauptsitz in den nördlichen Bergregionen Dohuks unterhält (Ruadaw, Artikel vom 23. Juni 2019, „Turkish artillery strikes suspected PKK positions in Zakho“). Insbesondere in den Jahren 2018 und 2019 führte das türkische Militär regelmäßige Angriffe auf PKK-Stellungen durch, wobei zugleich zivile Objekte (Wohnhäuser, Ackerflächen) zerstört und Zivilisten ohne PKK-Affiliation getötet wurden (Kurdistan24, Artikel vom 6. Juli 2019, „Kurdistan parliament condemns deadly Turkish strikes inside Kurdistan Region“; Kurdistan24, Artikel vom 4. April 2019, „Villagers flee as Turkey repeatedly shells Kurdistan Region border areas“). Im Januar 2019 stürmten Bewohner einen Außenposten der türkischen Luftwaffe in Dohuk, nachdem sechs Zivilisten durch Luftschläge ums Leben gekommen waren (Ruadaw, Artikel vom 23. Juni 2019, „Turkish artillery strikes suspected PKK positions in Zakho“). Im Mai bzw. Juni 2019 drangen türkische Truppen im Zuge der Operation „Claw“ ohne Unterstützung der kurdischen Peschmerga bis zu 30 km tief in das nordirakische Grenzgebiet vor und begonnen, begleitet von Luftunterstützung und Artilleriebeschuss, mit militärischen Operationen gegen PKK-Stellungen. Betroffen hiervon waren die Gebiete Sidkan, Souran, Khawakurk, Benkurd, das Qandil-Gebirge, ferner die Außenbereiche von Amadiya und Zakho (Iraqi News, Artikel vom 3. Juni 2019, „Turkish troops penetrate 30km into Iraqi territory“; Ruadaw, Artikel vom 5. Juni 2019, „Family accuse Turkish military of killing Yezidi man near Border“). Ende Mai 2019 beschuldigte eine assyrische Nachrichtenseite das türkische Militär, ein im Norden von Dohuk gelegenes Dorf mit den Namen Tashish bombardiert zu haben, in dem sich PKK-Kämpfer unter bewusster Inkaufnahme ziviler Opfer versteckt hätten (Assyrian International News Agency, Artikel vom 23. Mai 2019, „Turkish-Iraqi Border: Turks Bomb and Kurds Use Assyrians As Human Shields“).

Nach Auskunft eines Parlamentariers des kurdischen Regionalparlaments aus Juni 2019 töteten Luftschläge des türkischen Militärs zudem innerhalb eines Monats zwei Zivilisten und verletzten vier schwer; Dörfer im Grenzgebiet des Distrikt Zakhos wurden evakuiert. Zivilisten beklagten sich darüber, wegen konstanter Bombardements weder ihre Häuser verlassen noch ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können (Kurdistan24, Artikel vom 9. Juni 2019, „PKK-Turkey armed conflict left 6 casualties in Kurdistan last month: MP“; Ruadaw, Artikel vom 23.7.2019, „‘Only our people are the victims‘ Amedi mayor says of bombardements‘). Nach zwei Tagen mit zivilen Todesopfern durch türkische Bombardements forderte die kurdische Regionalregierung Ende Juni 2019 sowohl Ankara als auch die PKK dazu auf, die Konflikte nicht in mit Zivilisten bevölkerten Gebieten auszutragen (Kurdistan24, Artikel vom 6. Juli 2019, „Kurdistan parliament condemns deadly Turkish strikes inside Kurdistan Region“).

Im Falle ihrer Rückkehr in den Irak sind die Kläger infolge dieses innerstaatlichen bewaffneten Konflikts auch einer ernsthaften individuellen Bedrohung für Leib und Leben ausgesetzt. Es bestehen gefahrerhöhende Umstände in ihrer Person, weil stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass sie allein durch ihre Anwesenheit in ihrem Heimatort Gefahr laufen, durch Artilleriebeschuss bzw. Bombardierungen aus der Luft zu Schaden oder ums Leben zu kommen. Die diesbezüglichen Aussagen der Kläger zu 1. und 2. enthielten hinreichende Realkennzeichen, welche nach den Grundsätzen der psychologischen Aussageanalyse für die Wiedergabe eines real erlebten Geschehens sprechen. Sie schilderten das Geschehen insbesondere im Kerngeschehen logisch konsistent, mit quantitativen Detailreichtum nebst Nennung ungewöhnlicher Details, im Zuge einer unstrukturierten Erzählweise nebst spontaner Ergänzungen bzw. Verbesserungen, ferner unter Angabe räumlich-zeitlicher Verknüpfungen nebst Schilderung der Motivations- und Gefühlslage der Beteiligten. Diesbezüglich wird im Einzelnen auf die ausführliche Sitzungsniederschrift verwiesen.

Die Kläger haben hiernach glaubhaft dargelegt, aus dem Dorf Banek zu stammen, welches ca. 35 km entfernt und nordöstlich von der Stadt Zakho im gleichnamigen Distrikt liegt. Dort hätten sie Lebensmittel angepflanzt und Schafe gehütet. Rund um das Dorf, d.h. ca. 1 km entfernt, lägen hohe Berge mit den kurdischen Namen Shabani, Sare Dere sowie Kiza, in denen sich Stellungen von PKK-Kämpfern befänden, die regelmäßig von Flugzeugen der türkischen Luftwaffe bombardiert würden. Sie selbst, so ergänzten die Kläger, hätten die (zum Teil nächtlichen) Bombardements rund um ihr Heimatdorf permanent hören können. Manchmal seien auch PKK-Kämpfer einfach ins Dorf gekommen, um sich dort zu verstecken, obgleich sie damit die Dorfbewohner gefährdet hätten. Viele Dorfbewohner aus anderen Ortschaften seien verletzt worden oder in andere Ortschaften oder in andere Länder geflohen. So seien beispielsweise alle Bewohner eines christlichen Nachbardorfes mit dem Namen Sharaanish geflohen. Ca. fünf Kilometer von ihrem Ort entfernt habe es ein Dorf mit dem Namen Menin gegeben, welches jetzt aber ebenfalls verlassen sei, ebenso wie das Nachbardorf Ablah. In einem ca. 40 km von seinem Heimatdorf entfernten Ort mit dem Namen Kani Mase, in dem viele Angehörige des Stammes Barware lebten, seien in den letzten zwei Jahren ca. 16 Zivilisten durch Bombardements ums Leben gekommen. Hierbei habe es sich um Bauern und Schafzüchter gehandelt, welche ca. einen Kilometer von ihren Dörfern entfernt von Militärflugzeugen bombardiert worden seien. Das hiermit dargetane Risiko, dass die Kläger, insbesondere die noch minderjährigen Kläger zu 3. bis 6. im Alter von zwölf, zehn, sieben und vier Jahren, im Falle einer Rückkehr in ihren Heimatort durch die dargestellten Bombardierungen zu Schaden kommen, besteht unter Berücksichtigung der obigen Erkenntnismittellage weiterhin.

Der den Klägern drohende ernsthafte Schaden ist auch rechtlich beachtlich im Sinne des § 4 Abs. 3 S. 1, § 3c Nrn. 1, 2 AsylG. Ferner steht den Klägern vor der weiterhin drohenden Schadensgefahr kein interner Schutz im Sinne von § 4 Abs. 3 S. 1 in Verbindung mit § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Hiernach wird einem Ausländer der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor dem drohenden ernsthaften Schaden oder Zugang zu Schutz nach § 3d AsylG hat (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG), sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Ein anderer Ort auf dem Gebiet der kurdischen Autonomieregion, die allein als innerstaatliche Fluchtalternative in Betracht kommt (vgl. VG Hannover, Urteil vom 07.08.2019 – 6 A 1240/17, juris Rn. 33 m.w.N.), scheidet unter Berücksichtigung der aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse aus. In diesem Zusammenhang berücksichtigt der Einzelrichter zum einen die schwierige humanitäre Lage in der Provinz Dohuk sowie der kurdischen Autonomieregion generell (ausführlich hierzu: VG Aachen, Urteil vom 03.04.2019 – 4 K 1853/16.A, juris S. 9 ff.), zum anderen den Umstand, dass die Klägerin zu 2. infolge ihrer beidseitigen Hüftdysplasie gegenwärtig nicht mehr erwerbstätig ist; ferner, dass der Kläger zu 1. nicht mehr bei den kurdischen Peschmerga aufgenommen werden dürfte, nachdem er nach einer Verwundung im Gefecht mit dem „Islamischen Staat“ (IS) desertierte. Insbesondere kommen die Ortschaften rund um ihren Heimatort nicht als Fluchtalternative in Betracht, sollten diese überhaupt vor Bombardierungen sicher sein. Die Kläger haben nämlich in der mündlichen Verhandlung glaubhaft und sehr detailliert dargelegt, wie tief der Konflikt mit dem mit ihrer Familie verfeindeten Stamm Sindi reicht, welcher die Unterstämme Man Ezdin und Guli umfasse und zahlreiche Dörfer westlich von Zakho bevölkere. Gerade der Umstand, dass der Bruder des Klägers ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau aus diesem Stamm hatte, gilt in der stammesrechtlich geprägten kurdischen Gesellschaft als schwerwiegender Verstoß gegen die Ehre des Stammes. Die Bevölkerung des kurdischen Tells des Irak hat nach wie vor einen relativ hohen Grad an tribalen, patriarchalen Strukturen, in denen ein ausgeprägtes Ehrverständnis besteht (ausführlich hierzu: VG Hannover, Urteil vom 11.06.2018 – 6 A 7325/16, juris Rn. 23 ff.). Dieses hat die Ehre der Familie — bzw. erweitert auch die des Clans oder Stammes — zum Gegenstand. Die Wahrung oder der Verlust der Familienehre ist an das Einhalten und Befolgen sozialer Traditionen und Normen gebunden. Besonders weibliche Familienmitglieder sind hiervon betroffen, denn ihr Verhalten bedingt die Familienehre direkt. Diese Familienehre zu wahren, obliegt den männlichen Familienmitgliedern. Sollten sie also von (als solchem wahrgenommenen) „Fehlverhalten" erfahren, ist es dem Ehrverständnis folgend ihre Aufgabe, einzugreifen (Deutsches Orient Institut (DOI) Stellungnahme vom 3. Mai 2017 gegenüber dem Verwaltungsgericht Wiesbaden, – Auskunft zum Beschluss 13 K 8604/16, S. 2 f.). Das Gut der familiären Ehre gilt als derart elementar, dass Verstöße hiergegen mit zunehmendem Zeitablauf nicht an Bedeutung verlieren; vielmehr kann die verletzte Familie noch über Jahre oder gar über Generationen hinweg Vergeltung suchen (Danish Immigration Service, Honour Crimes against Men in Kurdistan Region of Iraq (KRI) and the Availability of Protection, März 2010, S. 3). Die Möglichkeit, effektiven gerichtlichen oder polizeilichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen, besteht hierbei de facto nicht (VG Hannover, Urteil vom 11.06.2018 – 6 A 7325/16, juris Rn. 46 ff.).

3.

Demgegenüber droht dem Kläger zu 1. insofern kein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nrn. 1, 2 AsylG durch einen staatlichen Akteur, als er in der mündlichen Verhandlung glaubhaft sowie unter Vorlage von Dienstausweisen und Lichtbildern angegeben hat, vor seiner Ausreise von den Peschmerga desertiert zu sein.

Bei den Peschmerga (Kurdisch: „Die dem Tod ins Auge Sehenden“) handelt es sich um die jeweiligen militärischen Kräfte der beiden opponierenden kurdischen Parteien Demokratische Partei Kurdistans (KDP) und Patriotische Union Kurdistans (PUK; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Irak: Peschmerga in der KRG-Region, Auskunft der SFH-Länderanalyse, 7. Januar 2019, S. 4). Die irakische Verfassung von 2005 erkennt die Kurdische Autonomie Region (KRG-Region) als föderale Region mit eigenen Behörden an. In Artikel 117 ist festgehalten, dass die föderalen Einheiten für den Aufbau ihrer Sicherheitskräfte, der Polizei und der Grenzsicherung ihrer Gebiete verantwortlich sind, was den Peschmerga einen legalen Status als Sicherheitskräfte der KRG-Region zubilligt, die auf regionaler Ebene separat von den irakischen Sicherheitskräften operieren. Gemäß Gesetz Nummer 5 aus dem Jahr 2009 sind die Peschmerga die offizielle militärische Kraft in der KRG-Region; es ist verboten, dass politische Parteien ihre eigenen Milizen oder Privatarmeen führen. Aufgrund der zum größten Teil gescheiterten Integrationsversuche der Peschmerga unter dem Ministry of Peshmerga Affairs sind heute indessen nur 14 Brigaden, die sogenannten Regional Border Guards, unter diesem Ministerium vereint. Die beiden führenden Parteien verfügen folglich weiterhin über ihre eigenen Sicherheitsapparate der Peschmerga, die den jeweiligen Parteibüros unterstellt sind (SFH, a.a.O., S. 5). Die KRG-Region ist dabei in die Hoheitsgebiete der beiden Parteien unterteilt, wobei die KDP die Provinzen Erbil und Dohuk kontrolliert, die PUK hingegen Sulaimaniyya (SFH, a.a.O., S. 4). Die Peschmerga sind in diesen Gebieten entsprechend der Kontrolle der beiden Parteien stationiert (SFH, a.a.O., S. 5).

Eine allgemeine Wehrpflicht besteht im Irak nicht. Auch der Dienst bei den Peschmerga ist freiwillig und regelmäßig über befristete Verträge geregelt (SFH, a.a.O., S. 8). Das irakische Militärstrafgesetz (2007) beschreibt bezüglich Desertion verschiedene Straftatbestände, welche von Geldstrafen bis zur Todesstrafe variieren. So wird zum Beispiel für das Überlaufen zum Feind die Todesstrafe verhängt. Auch im Strafgesetz für die internen Sicherheitskräfte (2008) werden Strafen für die Abwesenheit vom Dienst beschrieben; dabei handelt es sich je nach Dauer der Abwesenheit um unterschiedlich lange Haftstrafen (SFH, a.a.O., S. 11 m.w.N.).

Diese gesetzlichen Grundlagen gelten im ganzen Land, können aber meistens nicht umgesetzt werden. Nach Erkenntnissen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, gestützt u.a. auf Auskünfte des Danish Immigration Service, des Finnish Immigration Service und der Schwedischen Migrationsbehörde, ziehen Desertionen von den Peschmerga in der Praxis in der Regel keine tiefgreifenden Folgen nach sich (SFH, a.a.O., S. 11 m.w.N.; so auch: EASO, Country Guidance Iraq. Guidance Note and Common Analysis, June 2019, S. 18, 56-58). Für Peschmerga mit einem niedrigen Dienstrang sei ein Austritt kein Problem. Lediglich für hochrangige Peschmerga sei es schwieriger, den Dienst zu verlassen; hier könne eine Desertion Konsequenzen haben. Laufende Gerichtsverfahren wegen Desertionen seien allerdings nicht bekannt. Im März 2017 sei der Einzug der bei Dienstantritt hinterlegten finanziellen Garantie die einzige Bestrafung für rechtswidriges Verlassen des Dienstes gewesen. Sogar diese Strafe konnte laut Quellenangaben erlassen werden, wenn die Person triftige Gründe wie beispielsweise eine Erkrankung der Eltern nachweisen könne. Nach Auskunft des Generalsekretärs des Ministry of Peshmerga Affairs habe man in zehn Prozent der Fälle der Desertionen die vom Sponsor hinterlegte Summe beschlagnahmt. Desertierte oder floh jemand mit der Waffe in der Hand, sei auch eine Freiheitsstrafe möglich gewesen. Wenn die Person die Waffen zurückbrachte, sei die Strafe auf eine Geldstrafe reduziert worden. Wer die Waffe verkaufte, riskierte eine Haftstrafe (SFH, a.a.O., S. 11 m.w.N.).

Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnismittellage droht dem Kläger zu 1. wegen seiner Desertion kein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 2 Nrn. 1, 2 AsylG durch eine unmenschliche bzw. unangemessene Bestrafung. Zwar verfügte er seit 1999 über einen unbefristeten Vertrag bei den Peschmerga und wurde im Februar 2015 bei einem Angriff des IS bei Kirkuk angeschossen. Zudem entschied er sich nach einem Heimaturlaub im Dezember 2015 zu desertieren, als er sich eigentlich zum Dienst in Kirkuk hätte zurückmelden müssen. Allerdings stand er eigenen Angaben zufolge lediglich im Rang eines Hauptfeldwebels, wobei es sich um einen der untersten Ränge gehandelt habe. Der unterste Rang, so der Kläger zu 1., teile sich in vier Stufen auf, d.h. einfacher Soldat ersten, zweiten, dritten und vierten Ranges. Er habe lediglich den vierten Rang innegehabt („ein Streifen auf der Schulterklappe“). Darüber hinaus lief der Kläger nicht zum IS über und desertierte auch nicht im Gefecht, sondern blieb dem Dienst nach einem Heimaturlaub fern. Schließlich droht ihm auch keine unangemessene Bestrafung wegen des Verlustes der Dienstwaffe, und zwar schon deshalb, weil er sie zwar nach eigenen Angaben zuhause bei seinem Vater zurückließ, diese jedoch später von Angehörigen der Peschmerga abgeholt wurde.

4.

Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich der Bezeichnung Irak als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO aufzuheben. Die Kläger haben einen Anspruch auf Zuerkennung der des subsidiären Schutzstatus, was nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. a) AsylG der Bezeichnung des Staates Irak in der Abschiebungsandrohung entgegensteht.

Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.