Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 21.09.2015, Az.: 9 LB 20/14

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegenüber einer afghanischen Staatsangehörigen; Begründete Furcht vor Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe; Westliche Prägung in der Identität infolge eines längeren Aufenthalts in Europa

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
21.09.2015
Aktenzeichen
9 LB 20/14
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2015, 28368
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2015:0921.9LB20.14.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Lüneburg - 12.06.2012

Fundstellen

  • AUAS 2015, 268-271
  • DÖV 2015, 1076
  • InfAuslR 2016, 25-29
  • Streit 2015, 157-160
  • ZAR 2015, 405

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Afghanische Frauen, die infolge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in die Islamische Republik Afghanistan ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann, bilden eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylVfG.

  2. 2.

    Die Annahme eines westlichen Lebensstils ist nach § 3b Abs. 1 Nr.4a Halbsatz 1 AsylVfG nur beachtlich, wenn er die betreffende Frau in ihrer Identität maßgeblich prägt, d.h. auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht.

  3. 3.

    Ob eine in ihrer Identität westlich geprägte afghanische Frau im Fall ihrer Rückkehr in die Islamische Republik Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG ausgesetzt ist, bedarf einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls. Dabei ist die individuelle Situation der Frau nach ihrem regionalen und sozialen, insbesondere dem familiären Hintergrund zu beurteilen.

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg - Einzelrichterin der 3. Kammer - vom 12. Juni 2012 geändert.

Die Beklagte wird unter Aufhebung von Ziffer 2 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12. August 2010 verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens. Die außergerichtlichen Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens tragen die Beteiligten jeweils zur Hälfte. Gerichtskosten werden für die Verfahren in beiden Rechtszügen nicht erhoben.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die jeweilige Vollstreckungsschuldnerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die jeweilige Vollstreckungsgläubigerin zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Sie ist nach eigenen Angaben afghanische Staatsangehörige, wurde am 30. März 1993 in Herat geboren und reiste im September 2009 zusammen mit ihrem Ehemann - einem am 27. März 1992 ebenfalls in Herat geborenen afghanischen Staatsangehörigen - in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo beide einen Asylantrag stellten.

In ihrer Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gab die Klägerin im Wesentlichen an, sie sei im Alter von sechs oder sieben Jahren von Afghanistan in den Iran gegangen, wo sie ihren jetzigen Ehemann geheiratet habe. Dieser sei nach Afghanistan abgeschoben worden. Sie hätten daraufhin zwei Wochen in Herat bei ihren Schwiegereltern gelebt und seien sodann geflüchtet, weil ihr Leben wegen ihres Cousins, der erfolglos bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten habe, als sie dreizehn Jahre alt gewesen sei, in Gefahr gewesen sei. Dieser habe während ihres Aufenthalts in Herat zusammen mit weiteren Männern das Wohnhaus ihrer Schwiegereltern überfallen, ihrem Schwiegervater eine Schädelverletzung zugefügt und ihrem Schwager die Hand gebrochen. Er habe sie - die Klägerin und ihren Ehemann - erpresst, sich scheiden zu lassen oder 100.000,- Dollar zu zahlen; andernfalls würden sie umgebracht.

Ihr Ehemann gab in seiner Anhörung im Wesentlichen an, auch er habe, seit er sechs oder sieben Jahre alt gewesen sei, im Iran gelebt, wo er die Klägerin geheiratet habe. Nach seiner Abschiebung nach Afghanistan hätten sie kurz bei seinen Eltern in Herat gelebt. Infolge des - im Wesentlichen ähnlich beschriebenen - Zwischenfalls mit dem Cousin seiner Ehefrau seien sie nach Deutschland geflohen.

Mit Bescheiden vom 12. August 2010 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Anträge der Klägerin und ihres Ehemanns auf Anerkennung als Asylberechtigte ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorlägen. Der Klägerin und ihrem Ehemann wurde unter Setzung einer Ausreisefrist die Abschiebung nach Afghanistan angedroht. Zur Versagung der Flüchtlingseigenschaft der Klägerin führte das Bundesamt aus, die geltend gemachte nichtstaatliche Verfolgung sei nicht glaubhaft. Es bestünden durchgreifende Zweifel am Wahrheitsgehalt der Schilderung der Klägerin. Eine konkret ihr drohende geschlechtsspezifische Verfolgungsmaßnahme habe die Klägerin nicht geltend gemacht.

Die Klägerin und ihr Ehemann haben gegen die Bescheide Klage erhoben. Sie haben weitere Einzelheiten zu dem behaupteten Vorfall mit dem Cousin der Klägerin vorgetragen und geltend gemacht, der Klägerin drohe im Fall der Rückkehr nach Afghanistan auch eine geschlechtsspezifische Verfolgung. Sie sei bei ihrer Einreise nach Deutschland im September 2009 erst 16 Jahre alt gewesen. Seither lebe sie wie eine junge deutsche Frau und könne sich ein Leben in Afghanistan ohne Freiheit und ohne Selbstbestimmung nicht mehr vorstellen. Sie gehe zur Schule, gelegentlich in die Diskothek und ins Schwimmbad. Sie verlasse das Haus ohne ihren Ehemann. Sie trage kein Kopftuch und könne sich dies auch nicht mehr vorstellen. In Afghanistan wäre sie gezwungen, eine Burka zu tragen und müsste unter dem Ausschluss elementarer Rechte wie der Rechte auf Freiheit, Arbeit und Bildung leben.

Nach teilweiser Rücknahme ihrer Klage, soweit sie zunächst auch ihre Anerkennung als Asylberechtigte begehrt hatten, haben die Klägerin und ihr Ehemann beantragt,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung der Bescheide des Bundesamtes vom 12. August 2010 zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen,

hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 oder 7 Satz 2 AufenthG vorliegen,

weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufentG vorliegen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 12. Juni 2012 das Verfahren eingestellt, soweit die Klage zurückgenommen worden ist. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt: Die Klägerin und ihr Ehemann hätten keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weil sie nicht glaubhaft hätten darlegen können, dass sie aus begründeter Furcht vor politischer Verfolgung aus ihrem Heimatland ausgereist seien bzw. dass ihnen gegenwärtig eine solche aus den in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Gründen drohe. Es sei nicht davon auszugehen, dass sie vor ihrer Ausreise Verfolgungshandlungen ausgesetzt oder von solchen Handlungen unmittelbar bedroht gewesen seien. Insoweit werde auf den angefochtenen Bescheid verwiesen. Auch in der mündlichen Verhandlung hätten die Klägerin und ihr Ehemann nicht überzeugend dargetan, selbst eine Verfolgung erlitten zu haben. Die Schilderungen der Klägerin zu dem Vorfall mit ihrem Cousin stünden in erheblichem Widerspruch zu ihren Angaben vor dem Bundesamt und den Angaben ihres Ehemanns. Der Klägerin drohe auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung allein in Anknüpfung an ihr Geschlecht. Sie habe sich weder gegenüber dem Bundesamt noch in der mündlichen Verhandlung darauf berufen, in Afghanistan deshalb Bedrohungen im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt gewesen zu sein. Dass sie sich ein Leben in Afghanistan nicht mehr vorstellen könne, genüge nicht.

Am 27. Oktober 2013 wurde in der Bundesrepublik Deutschland das bislang einzige Kind der Klägerin und ihres Ehemanns geboren. Mit Bescheid vom 16. April 2014 stellte das Bundesamt das Asylverfahren des Kindes ein und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen.

Der Senat hat mit Beschluss vom 3. Februar 2014 (9 LA 37/13) den Antrag des Ehemanns der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil abgelehnt. Auf den Antrag der Klägerin hat der Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage, ob verheiratete afghanische Frauen, die seit mehreren Jahren in Deutschland leben und sich eine westliche Lebensweise angeeignet haben, bei einer Rückkehr nach Afghanistan von geschlechtsspezifischer Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylVfG bedroht sind, gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG die Berufung zugelassen, soweit das Verwaltungsgericht ihre Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgewiesen hat; im Übrigen hat der Senat den Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung abgelehnt.

Zur Begründung ihrer Berufung vertieft die Klägerin ihr bisheriges Vorbringen und trägt ergänzend vor: Es sei zu berücksichtigen, dass sie seit ihrem sechsten Lebensjahr im Iran gelebt habe und daher mit den strengen Moralvorstellungen für Frauen in Afghanistan nicht vertraut sei. Zudem stamme sie aus Herat, wo besonders strenge Sitten- und Moralregeln für Frauen gälten. Frauen würden in Afghanistan weiterhin diskriminiert. Auch habe die Gewalt gegen Frauen dort erheblich zugenommen.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung von Ziffer 2 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12. August 2010 zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie erwidert: Die Klägerin sei durch ihren Aufenthalt in Deutschland nicht in einem solchen Maße westlich geprägt, dass ihr eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zuzumuten sei. Die Teilnahme am Leben in Deutschland begründe keine geschlechtsspezifische Verfolgung im Herkunftsland. Frauen hätten in Afghanistan im Einverständnis mit ihren Vätern bzw. Ehemännern die Möglichkeit, Schulen zu besuchen und z.B. als Ärztin, Lehrerin oder in der Regierung zu arbeiten. Der Ehemann der Klägerin, der mit ihr zusammen nach Deutschland gereist sei, habe sicher Verständnis für ihre Bedürfnisse und werde sie bei einer Rückkehr unterstützen. Eine beachtliche Gefährdung für Frauen, nur weil sie es ablehnten, gemäß der in Afghanistan für sie geltenden Einschränkungen zu leben, sei nicht anzunehmen. Ein patriarchalisch-islamisch geprägtes Wertesystem verstoße nicht generell gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, die Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes betreffend die Klägerin, ihren Ehemann und ihren Bruder sowie die Ausländerakten des Landkreises Stade betreffend die Klägerin und ihren Ehemann verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat nach der gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgebenden Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Ziffer 2 des von ihr angefochtenen Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, in der festgestellt wird, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei ihr nicht vorliegen, ist rechtswidrig.

Nach § 3 Abs. 4 AsylVfG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt - was bei der Klägerin nicht der Fall ist - die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG.

Die Klägerin ist Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG. Danach ist ein Ausländer dann Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich 1. aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe 2. außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder b) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Die Klägern befindet sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe - der Gruppe afghanischer Frauen, deren Identität aufgrund eines längeren Aufenthalts in Europa westlich geprägt ist - außerhalb der Islamischen Republik Afghanistan, deren Staatsangehörigkeit sie besitzt und deren Schutz sie nicht in Anspruch nehmen kann.

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylVfG gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylVfG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft. Eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylVfG bilden danach auch solche afghanischen Frauen, die infolge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in die Islamische Republik Afghanistan ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann. Derart in ihrer Identität westlich geprägte afghanische Frauen teilen im erstgenannten Fall einen unveränderbaren gemeinsamen Hintergrund, im zweitgenannten Fall bedeutsame Merkmale im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylVfG. Sie werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der afghanischen Gesellschaft als andersartig betrachtet.

Afghanische Frauen, die dieser sozialen Gruppe angehören, können sich je nach den Umständen des Einzelfalls aus begründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG außerhalb der Islamischen Republik Afghanistan aufhalten.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG gelten nach § 3a Abs. 1 AsylVfG Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder 2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Die nach Nr. 2 zu berücksichtigenden Maßnahmen können Menschenrechtsverletzungen sein, aber auch sonstige Diskriminierungen. Die einzelnen Eingriffshandlungen müssen für sich allein nicht die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung nach Nr. 1 entspricht (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 - 10 C 23.12 - Rn. 34). Nach § 3a Abs. 2 AsylVfG können als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylVfG unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt (Nr. 1) sowie Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen (Nr. 6), gelten.

Eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylVfG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylVfG) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylVfG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylVfG).

Maßgebend für die Beantwortung der Frage, ob sich ein Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Heimatlandes befindet, ist der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013, a.a.O., Rn. 19). Dieser setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013, a.a.O., Rn. 32). Dabei greift zugunsten eines Vorverfolgten bzw. in anderer Weise Geschädigten eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.2010 -10 C 5.09 - Rn. 20 ff.).

Der Senat geht angesichts der derzeitigen Erkenntnismittellage davon aus, dass afghanische Frauen, deren Identität in der oben beschriebenen Weise westlich geprägt ist, in der Islamischen Republik Afghanistan je nach den Umständen des Einzelfalls auch ohne eine Vorverfolgung oder Vorschädigung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen durch nichtstaatliche Akteure zumindest in der Form von Menschenrechtsverletzungen oder Diskriminierungen, die in ihrer Kumulierung einer schwerwiegenden Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG), ausgesetzt sein können. Insbesondere können ihnen die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylVfG) und sonstige Handlungen, die an ihre Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen (§ 3a Abs. 2 Nr. 6), drohen.

Zwar hat sich die Situation afghanischer Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft erheblich verbessert (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2.3.2015, S. 14). Die Islamische Republik Afghanistan hat sich in ihrer Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze formal dazu verpflichtet, die Gleichberechtigung und Rechte der Frauen zu achten und zu stärken (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2.3.2015, S. 14). Auch wurde durch das im Wege eines Präsidialdekrets im Jahr 2009 erlassene Gesetz zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen - dessen Verabschiedung durch beide Parlamentskammern allerdings weiterhin aussteht (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2.3.2015, S. 15; Amnesty International, Their lives on the line: women human rights defenders under attack in Afghanistan, Apr. 2015, S. 56 ff; USDOS, Country Report on Human Rights Practices 2014 - Afghanistan vom 25.6.2015) - eine wichtige Grundlage geschaffen, Gewalt gegen Frauen - erstmals überhaupt - unter Strafe zu stellen. Gleichwohl gibt es in der Islamischen Republik Afghanistan nach wie vor gravierende Rechtsverletzungen zulasten von Frauen (Fortschrittsbericht der Bundesregierung von Nov. 2014, S. 15 f.). Es mangelt vielfach an der praktischen Umsetzung der genannten Rechte (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2.3.2015, S. 14; Amnesty International, Their lives on the line: women human rights defenders under attack in Afghanistan, Apr. 2015, S. 56).

Insbesondere ist in der afghanischen Gesellschaft in allen Lebensbereichen Gewalt gegenüber Frauen tief verwurzelt (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 6.8.2013, S. 55; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan Update: Die aktuelle Sicherheitslage vom 5.10.2014, S. 13). Die Afghanistan Independent Human Rights Commission bezeichnet dies als eines der gravierendsten Menschenrechtsprobleme in Afghanistan (AIHRC, Summary of the Findings Report on Violence against Women vom 8.3.2015). Es wird geschätzt, dass mehr als 87 % aller afghanischen Frauen bereits körperliche, sexuelle, psychologische Gewalt oder eine Zwangsheirat erfahren mussten. Mehr als 60 % der afghanischen Frauen sind mehreren Formen der Gewalt ausgesetzt (UN General Assembly, Report of the Special Rapporteur on violence against women, its causes and consequences, Mission to Afghanistan, 12.5.2015, S. 5 ). Die gegenüber Frauen verübte Gewalt ist zum Teil äußerst brutal. Sie umfasst beispielsweise Tötungen in Form von Verbrennungen sowie das Abschneiden von Körperteilen (AIHRC, Summary of the Findings Report on Violence against Women vom 8.3.2015).

Als weiteres Hauptproblem bezeichnet die Afghanistan Independent Human Rights Commission den Umstand, dass Frauen in der Islamischen Republik Afghanistan in besonderem Maße Belästigungen auf der Straße ausgesetzt sind (AIHRC, Summary of the Findings Report on Violence against Women vom 8.3.2015).

Auch ist es für viele afghanische Frauen immer noch sehr schwierig, außerhalb des Bildungs- und Gesundheitssektors Berufe zu ergreifen. Einflussreiche Positionen werden abhängig von Beziehungen und Vermögen vergeben. Oft scheitern Frauen schon an den schwierigen Transportmöglichkeiten und eingeschränkter Bewegungsfreiheit ohne männliche Begleitung (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2.3.2015, S. 14).

Gewaltakten, Belästigungen und sonstigen Diskriminierungen können in der Islamischen Republik Afghanistan insbesondere solche Frauen ausgesetzt sein, die in der Wahrnehmung anderer gesellschaftliche Normen verletzen. Denn im gesellschaftlichen Bereich bestimmen nach wie vor eine orthodoxe Auslegung der Scharia und archaisch-patriarchalische Ehrenkodizes die Situation von Frauen. Der Verhaltenskodex der afghanischen Gesellschaft verlangt von ihnen grundsätzlich den Verzicht auf Eigenständigkeit. Falls sie sich den gesellschaftlichen Normen verweigern, besteht die Gefahr der sozialen Ächtung (vgl. BAMF, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, Apr. 2010, S. 27). Afghanische Frauen, die in der Wahrnehmung anderer gesellschaftliche Normen verletzen, werden gesellschaftlich stigmatisiert, allgemein diskriminiert und ihre Sicherheit ist gefährdet (UNHCR-Richtlinien vom 6.8.2013, S. 62).

Dementsprechend geht der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), der eine besonders sorgfältige Prüfung der Asylanträge der Risikogruppe "Frauen" empfiehlt (vgl. UNHCR, "Darstellung allgemeiner Aspekte hinsichtlich der Situation in Afghanistan - Erkenntnisse u.a. aus den UNHCR-Richtlinien 2013" von Aug. 2014, S. 3), davon aus, dass je nach den individuellen Umständen des Einzelfalls nicht nur bei afghanischen Frauen, die bereits Opfer sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt oder schädlicher traditioneller Bräuche geworden sind oder entsprechend gefährdet sind, sondern auch bei afghanischen Frauen, die nach der öffentlichen Wahrnehmung gegen die sozialen Sitten verstoßen, wahrscheinlich ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz besteht (UNHCR-Richtlinien vom 6.8.2013, S. 64).

Nach der Rechtsprechung des Senats sind unter Frauen, die nach der öffentlichen Wahrnehmung gegen die sozialen Sitten verstoßen und damit einer geschlechtsspezifischen, von den individuellen Umständen abhängigen Verfolgung unterliegen können, solche Frauen zu verstehen, deren Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition und dem Gesetz auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird (vgl. Senatsbeschluss vom 21.1.2014 - 9 LA 60/13 - Rn. 6). Hierzu können nicht nur Frauen zählen, die - wie z.B. Parlamentarierinnen, Beamtinnen, Journalistinnen, Anwältinnen, Frauen- und Menschenrechtsaktivistinnen oder Lehrerinnen - Aktivitäten im öffentlichen Leben entfalten, damit dem traditionellen Rollenbild widersprechen und von konservativen Elementen in der Gesellschaft systematisch eingeschüchtert, bedroht, attackiert und gezielt getötet werden (vgl. dazu BAMF, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, Apr. 2010, S. 27, 67; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan Update: Die aktuelle Sicherheitslage vom 5.10.2014, S. 14; USCIRF, Annual Report 2015, Afghanistan, S. 136; UN General Assembly, Report of the Special Rapporteur on violence against women, its causes and consequences, Mission to Afghanistan, 12.5.2015, S. 7). Vielmehr verstoßen nach der öffentlichen Wahrnehmung in der afghanischen Gesellschaft auch solche Frauen gegen die sozialen Sitten, deren Identität derart westlich geprägt ist, dass ihr Verhalten deutlich vom Rollenbild der Frau in der afghanischen Gesellschaft abweicht. Nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. EGMR, Urteil vom 20.7.2010 - 23505/09, N. v. Sweden - HUDOC Rn. 55) werden afghanische Frauen, die einen weniger konservativen Lebensstil angenommen haben - z.B. solche, die aus dem Exil im Iran oder in Europa zurückgekehrt sind - in der Islamischen Republik Afghanistan nach wie vor als soziale und religiöse Normen überschreitend wahrgenommen und können deshalb Opfer von Gewalt oder anderer Formen der Bestrafung werden, die von der Isolation und Stigmatisierung bis hin zu Ehrenmorden auf Grund der über die Familie, die Gemeinschaft oder den Stamm gebrachte "Schande" reichen können (so auch Österr. BVerwG, Erkenntnis vom 31.7.2015 - W175 2100068-1 - veröffentlicht unter https://www.ris.bka.gv.at; siehe ferner Österr. BVerwG, Erkenntnisse vom 29.4.2015 - W120 1428376-3 -; vom 7.5.2015 - W175 2011342-1 -; vom 19.5.2015 - W191 2104127-1 -; vom 8.6.2015 - W202 1411035-3 -; vom 12.6.2015 - W197 2016697-1 -; vom 18.6.2015 - W163 2102498-1 -; vom 30.6.2015 - W191 2105467-1/5E -; vom 13.7.2015 - W200 1415926-1 -; vom 31.7.2015 - W175 2100069-1, jeweils veröffentlicht unter https://www.ris.bka.gv.at). Allerdings ist die Annahme eines westlichen Lebensstils nach § 3b Abs. 1 Nr. 4a Halbsatz 1 AsylVfG nur beachtlich, wenn er die betreffende Frau in ihrer Identität maßgeblich prägt, d.h. auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht, und eine Aufgabe dieser Lebenseinstellung nicht (mehr) möglich oder zumutbar ist.

Ob eine in ihrer Identität westlich geprägte afghanische Frau im Fall ihrer Rückkehr in die Islamische Republik Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG ausgesetzt ist, bedarf einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls. Dabei ist die individuelle Situation der Frau nach ihrem regionalen und sozialen, insbesondere dem familiären Hintergrund zu beurteilen (vgl. Senatsbeschluss vom 21.1.2014, a.a.O., Rn. 5 m.w.N.). Denn die konkrete Situation afghanischer Frauen kann sich je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2.3.2015, S. 14). Insbesondere ist zu berücksichtigen, ob und inwieweit die betreffende afghanische Frau voraussichtlich durch einen Familien- oder Stammesverbund vor Verfolgungsmaßnahmen geschützt werden kann. Eine Verfolgungsgefahr besteht vor allem für alleinstehende Frauen und Frauen ohne männlichen Schutz (vgl. Senatsbeschluss vom 21.1.2014, a.a.O., Rn. 5).

Ausgehend von diesen Maßstäben ist der Senat davon überzeugt, dass die Klägerin im Fall der Rückkehr in ihre Heimatstadt Herat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe afghanischer Frauen, deren Identität westlich geprägt ist, ausgesetzt wäre.

Der Senat hat keinen Zweifel daran, dass die Klägerin eine solche nachhaltige Prägung erfahren hat.

Sie hat sich nach dem Eindruck des Senats gut in die deutsche Gesellschaft integriert. Sie spricht die deutsche Sprache und konnte sich in der mündlichen Verhandlung teilweise ohne Dolmetscherin mit dem Gericht verständigen. In der Flüchtlingsunterkunft, in der sie anfangs lebte, hat sie ihren glaubhaften Angaben zufolge den Kindern Deutsch beigebracht. Ihrem äußeren Erscheinungsbild nach unterscheidet sich die Klägerin nicht von jungen deutschen Frauen. Sie trug in der mündlichen Verhandlung - wie auf allen in den Akten befindlichen Fotos - kein Kopftuch und war wie deutsche Frauen ihres Alters gekleidet, ohne dabei aus verfahrenstaktischen Gründen gezielt westlich "gestylt" zu wirken. Auch hat sie nach Überzeugung des Senats die Lebensgewohnheiten vieler deutscher junger Frauen angenommen, die - wie sie - ein Kleinkind haben: Die Klägerin hat einen breit gefächerten Freundeskreis, der unter anderem eine deutsche Frau ihres Alters mit Kleinkind und eine deutsche Familie umfasst. Sie treibt mit Vorliebe Sport. Neben Laufen und Fahrradfahren geht sie ins Schwimmbad, seit der Geburt ihres Kindes meistens gemeinsam mit ihrem Ehemann, aber auch ohne ihn zusammen mit ihren Freundinnen. Ferner tanzt sie gern, im letzten Jahr im Fitnessstudio, nun weiterhin zuhause. Die Klägerin geht auch aus, etwa ins Kino. Soweit es möglich ist, nimmt sie bei ihren Aktivitäten ihr Kind mit. Sie erachtet es aber als völlig selbstverständlich, dass sie auch allein unterwegs sein kann und dann ihr Ehemann auf das Kind aufpasst. Obgleich die Klägerin, die in der Bundesrepublik Deutschland drei Jahre lang eine Hauptschule und eine berufsbildende Schule besucht hat, ihr Berufsvorbereitungsjahr schwangerschaftsbedingt abbrechen musste, ist sie fest gewillt, dieses zu beenden, den noch ausstehenden Hauptschulabschluss nachzuholen und im Anschluss daran eine Ausbildung aufzunehmen, sobald ihr Kind den Kindergarten besucht. Zu diesem Zweck hat sie sich - nachdem sie sich durch zwei Schulpraktika in Kindergärten entsprechende Einblicke verschafft hat - gemeinsam mit ihrem Ehemann bereits um einen Kindergartenplatz für ihr Kind gekümmert. Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit der Angaben der Klägerin zu ihrer Lebensweise in der Bundesrepublik Deutschland. Die Klägerin hat auf den Senat einen ausgesprochen authentischen Eindruck gemacht. Sie hat ernsthaft und ohne Widersprüche vorgetragen. Ihre Angaben wirkten weder übertrieben noch auf das Verfahren abgestimmt. Sie wurden in allen wesentlichen Punkten durch ihren informatorisch angehörten Ehemann bestätigt.

Die Klägerin ist darüber hinaus ihren glaubhaften Angaben zufolge nicht mehr in den Traditionen und Gebräuchen des Islams - der Staatsreligion der Islamischen Republik Afghanistan (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2.3.2015, S. 10) - verhaftet. Sie lebt den muslimischen Glauben nicht mehr in der Form, wie es von ihr in der afghanischen archaisch-patriarchalischen Gesellschaft verlangt würde. In der mündlichen Verhandlung hat sie eine erhebliche Distanz zu den Glaubenstraditionen und dem religiösen Leben in ihrem Herkunftsland zum Ausdruck gebracht. So hält sie insbesondere die muslimischen Regeln, beispielsweise den Fastenmonat Ramadan, nicht ein, begleitet - wie ihr Ehemann bestätigt hat - diesen des Öfteren zu christlichen Gottesdiensten und Veranstaltungen und erzieht gemeinsam mit ihm ihr Kind religiös-weltanschaulich neutral mit dem Ziel, dass dieses später selbst entscheiden kann, ob und welcher Religion es folgen will. Sie selbst hat sich nach ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung noch nicht entschieden, nach welchem Glauben sie künftig leben will. Auch diese Angaben der Klägerin zeigen, dass sie nicht aus verfahrenstaktischen Gründen eine überzogene oder gar erfundene Darstellung gewählt hat, sondern ihre Ausführungen ihre tatsächliche Lebenseinstellung und Lebensweise wieder geben.

Der Senat ist deshalb davon überzeugt, dass die westliche Lebensweise, die sich die Klägerin angeeignet hat, auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin ihren glaubhaften Angaben zufolge, die mit denen ihres Bruders in dessen Asylverfahren übereinstimmen, nur bis zu ihrem sechsten oder siebten Lebensjahr in Afghanistan lebte. Während ihres anschließenden zehn Jahre langen Aufenthalts in Maschhad, der zweitgrößten Stadt im Iran mit mehr als 2 Millionen Einwohnern, verfolgte sie bereits einen weniger konservativen Lebensstil als er in Afghanistan üblich war. So konnte sie anstelle des Tschadors meistens einen Mantel mit Kopftuch tragen, ferner die Schule besuchen, an Englisch- und Computerkursen teilnehmen und Fahrrad fahren. Im Alter von 16 Jahren reiste die Klägerin sodann in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie seit nunmehr sechs Jahren lebt. Hier hat sie die maßgebend prägende Zeit als Jugendliche und junge Erwachsene verbracht und ist nach dem Eindruck des Senats zu einer selbstbewussten, durchsetzungsstarken und emanzipierten Persönlichkeit herangewachsen.

Der Senat ist davon überzeugt, dass die Klägerin nicht dazu in der Lage wäre, sich einem dem traditionellen Sitten- und Rollenbild von Frauen in der Islamischen Republik Afghanistan angepassten Lebensstil zu unterwerfen. Denn da sie Afghanistan bereits als Kind verließ, hat sie - abgesehen von dem zweiwöchigen Zeitraum vor ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland - noch nie den Einschränkungen im alltäglichen Leben als Frau in der Islamischen Republik Afghanistan unterlegen. Unter dem Eindruck ihres zweiwöchigen Aufenthalts in Herat hat sie in der mündlichen Verhandlung - nach Ansicht des Senats aus einem tiefen inneren Angstgefühl heraus - mit Nachdruck betont, unter keinen Umständen mehr in Afghanistan als Frau leben zu können. Angesichts der geschilderten Umstände geht auch der Senat davon aus, dass die westliche Lebensweise in der Persönlichkeit der Klägerin so tief verwurzelt ist, dass sie sie nicht mehr ablegen kann.

Jedenfalls aber hält der Senat es aufgrund der genannten Umstände für unzumutbar, die Klägerin dazu zu zwingen, sich nunmehr einem dem traditionellen Sitten- und Rollenbild von Frauen in der Islamischen Republik Afghanistan angepassten Lebensstil zu unterwerfen. Denn sie müsste dafür den wesentlichen Kerngehalt ihrer Persönlichkeit aufgeben und würde dadurch in ihrer Menschenwürde verletzt.

Mit ihrem westlich geprägten Verhalten würde die Klägerin im Fall der Rückkehr in ihre Heimatstadt Herat unweigerlich auffallen und wäre mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geschlechtspezifischen Gewaltakten, Belästigungen und Diskriminierungen ausgesetzt, die in ihrer Kumulation einer schweren Menschenrechtsverletzung gleichkämen. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund zu befürchten, dass afghanische Frauen in der Region Herat in ihrer Bewegungs- und Handlungsfreiheit aufgrund eines ausgeprägt traditionellen Verhaltenskodex besonders stark eingeschränkt sind (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 10.1.2012, S. 22). Weder der Ehemann der Klägerin noch ein sonstiger Familien- oder Stammesverbund könnte sie gegen Verfolgungshandlungen schützen. Der Ehemann der Klägerin ist erst 23 Jahre alt, hat wie die Klägerin seit seinem sechsten oder siebten Lebensjahr im Iran gelebt und genießt in der Islamischen Republik Afghanistan keine hervorgehobene Stellung. Abgesehen von einer Tante, die Hausfrau ist, einem gesundheitlich angeschlagenen Onkel, der bereits 62 Jahre alt ist, und deren Sohn, zu dem kein Kontakt besteht, leben den glaubhaften Angaben der Klägerin zufolge in Herat und auch in anderen Landesteilen der Islamischen Republik Afghanistan keine Verwandte der Klägerin mehr. Die Familie ihres Ehemanns lebt inzwischen - allenfalls bis auf entfernte Verwandte, zu denen kein Kontakt besteht - in der Islamischen Republik Iran.

Auch der afghanische Staat würde der Klägerin im Fall der Rückkehr keinen Schutz gegen die ihr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung bieten. Nach § 3c Nr. 3 in Verbindung mit § 3d Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG kann Schutz vor Verfolgung vom Staat nur geboten werden, sofern dieser willens und in der Lage ist, einen wirksamen und nicht nur vorübergehenden Schutz im Sinne des § 3d Abs. 2 AsylVfG zu bieten. Die afghanischen staatlichen Akteure aller drei Gewalten sind jedoch entweder nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2.3.2015, S. 14; Amnesty International, Their lives on the line: women human rights defenders under attack in Afghanistan, Apr. 2015, S. 59; UN General Assembly, Report of the Special Rapporteur on violence against women, its causes and consequences, Mission to Afghanistan, 12.5.2015, S. 17).

Schließlich hat die Klägerin innerhalb der Islamischen Republik Afghanistan auch keine Fluchtalternative. Nach § 3e Abs. 1 AufenthG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er 1. in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylVfG hat und 2. sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Hier fehlt es bereits an der erstgenannten Voraussetzung. Denn die Klägerin hat nach Überzeugung des Senats eine derart nachhaltige westliche Prägung erfahren, dass sie auch in weniger konservativen Landesteilen der Islamischen Republik Afghanistan als der Provinz Herat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG ausgesetzt wäre. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner Entscheidung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative auch deshalb ausscheidet, weil von der Klägerin - wofür ebenfalls beachtliche Gründe sprechen - nach dem insoweit maßgebenden Zumutbarkeitsmaßstab, der über das Fehlen einer im Rahmen des § 60 Abs. 7 Sätze 1 und 3 AufenthG beachtlichen existenziellen Notlage hinausgeht (vgl. BVerwG, Urteile vom 29.5.2008 - 10 C 11.07 - Rn. 35; vom 31.1.2013 - 10 C 15.12 - Rn. 20) vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, dass sie sich zusammen mit ihrem Ehemann und ihrem Kleinkind in einem anderen Landesteil der Islamischen Republik Afghanistan niederlässt.

Nach alledem ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.