Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 29.09.2015, Az.: 2 ME 234/15

Prüfung; Bewertungsmaßstab; Verfahrensfehler; zweite juristische Staatsprüfung; Verfahrensfehler

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
29.09.2015
Aktenzeichen
2 ME 234/15
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 45091
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 29.07.2015 - AZ: 6 B 41/15

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Liegt die Ursache für die rechtswidrige Begünstigung einzelner Prüfungsteilnehmer in der Sphäre des Prüfungsamtes, ist es für die Annahme eines Verfahrensfehlers ausreichend, wenn eine Beeinflussung des Bewertungsmaßstabes nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann.

Tenor:

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Lüneburg - 6. Kammer - vom 29. Juli 2015 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 7.500,-- EUR festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde des Antragsgegners hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat den Antragsgegner aller Voraussicht nach zu Recht verpflichtet, der Antragstellerin die Teilnahme an dem nächsten Klausurendurchgang für die VA-und ZG-Klausur zu ermöglichen, diese vorläufig zu bewerten und der Antragstellerin im Falle des Bestehens vorläufig die Teilnahme an der mündlichen Prüfung zu gestatten, weil ein Verstoß gegen den prüfungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit nicht auszuschließen ist.

Die Darlegungen des Antragsgegners im Beschwerdeverfahren geben keinen Anlass zu einer anderen Bewertung.

1. Seinem Vortrag, die Bewertung der jeweiligen Prüfungsleistung beruhe auf einem objektiven Maßstab und hänge nicht von dem in der jeweiligen Prüfung zutage getretenen durchschnittlichen Leistungsvermögen der verschiedenen Prüflinge ab, daher könne ein Prüfungsergebnis nicht dadurch unrichtig werden, dass Mitprüflinge sich bessere Examensnoten erschlichen hätten - im vorliegenden Fall gehörte zu dem Klausurendurchgang der Antragstellerin (Oktober 2013) ein Kandidat, der rechtswidrig in den Besitz der Klausurlösungen gelangt und dessen zweite juristische Staatsprüfung zwischenzeitlich bestandskräftig für nicht bestanden erklärt worden ist -, ist in dieser Absolutheit nicht zu folgen.

Allerdings hat im (theoretischen) Ausgangspunkt die Bewertung einer Prüfungsleistung nach einem objektiven/absoluten Maßstab zu erfolgen ohne Rücksicht darauf, wie andere Prüflinge des Durchgangs die Prüfungsfrage gelöst haben. Die Prüfer, die in der Regel aufgrund ihrer Prüfungserfahrungen eine Vielzahl von Prüfungsdurchgängen vor Augen haben, ordnen die jeweilige Aufgabenstellung und die Prüfungsleistungen in diesen übergeordneten Rahmen ein, ohne maßgeblich darauf abzustellen, ob es sich konkret um eine schwachen oder leistungsstarken Prüfungsdurchlauf handelt; denn zu beurteilen sind die individuellen Fähigkeiten bezogen auf den angestrebten Beruf, nicht dagegen sind die Leistungen der jeweiligen Prüfungsgruppe lediglich untereinander ins Verhältnis zu setzen. Der innerhalb einer insgesamt schwachen Prüfungsgruppe noch am besten abschneidende Mitprüfling kann also nicht allein deshalb bereits eine hervorragende Bewertung erhalten, ebenso wenig wie die Leistung des schwächsten Mitglieds einer insgesamt starken Prüfungsgruppe allein deswegen als unzureichend bewertet werden darf (vgl. BVerwG, Beschl. v. 13.9.1983 - 7 B 119.83 -, v. 30.10.1984 - 7 B 111/84 -, jeweils juris; Bay. VGH, Urt. v. 16.5.2012 - 7 B 11.2645 -, juris; Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 6. Aufl., Rnr. 532).

Soweit daraus allerdings von der o.a. Rechtsprechung gefolgert wird, der Bewertungsmaßstab könne generell nicht durch von auf Täuschung zurückzuführenden Verschiebungen im allgemeinen Leistungsniveau der Prüflinge beeinflusst werden, vermag der Senat dem mit dem Verwaltungsgericht in dieser Allgemeinheit nicht zu folgen.

Es ist allgemein anerkannt und entspricht der Lebenswirklichkeit, dass in die Bewertung auch relative Elemente einfließen; denn der besonders gute oder schlechte Ausfall eines bestimmten Prüfungsdurchgangs beeinflusst mit die Annahme des Prüfers, wo als Basis für die abgestufte Notenbildung die durchschnittliche Leistung (jeweils bezogen auf den übergeordneten Rahmen) anzusetzen ist. Mittelbar werden mithin die theoretisch nur absolut zu messenden Anforderungen im Rahmen einer Prüfung zumindest teilweise wieder relativiert (OVG NW, Urt. v. 20.11.2012 - 14 A 755/11 -, NVwZ-RR 2013, 469, juris mwN.; Niehues/Fischer/Jeremias aaO., Rnr. 535, 635, Ost, Die Bewertung von Prüfungsleistungen und die Gleichheit, NWVBl. 2013, 209 ff.).

Mit auf dieser (auch) vergleichenden Betrachtung fußt gerade der im Prüfungsrecht den Prüfern bei ihrer Bewertung eingeräumte prüfungsspezifische Spielraum; denn er wird damit begründet, dass Prüfungsnoten nicht isoliert gesehen werden dürfen, sondern in einem dem Gericht nicht zur Verfügung stehenden Bezugssystem zu finden sind, das durch die persönlichen Erfahrungen und Vorstellungen der Prüfer beeinflusst wird (BVerfG, Beschl. v. 17.4.1991 – 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83 –, BVerfGE 84, 34, 58, juris; BVerwG, Beschl. v. 17.12.1997 - 6 B 55.97 -, juris; Sen. Urt. v. 19.8.2015 - 2 LB 276/14 -, juris; Niehues/Fischer/Jeremias, aaO., Rnr. 534).

Liegt eine unzulässige Bevorzugung eines Kandidaten des Klausurendurchgangs vor, können sich andere Prüfungsteilnehmer darauf allerdings nur berufen, wenn dieser Fehler auch für ihre eigene Prüfungsbewertung von Bedeutung ist; denn grundsätzlich hat der Prüfungsteilnehmer kein subjektiv-öffentliches Recht auf Beachtung des Grundsatzes der Chancengleichheit als ein objektiv-rechtliches Gebot (vgl. Bay. VGH, Urt. v. 16.5.2012 - 7 B 11.2645 -, juris; OVG NW, Urt. v. 20.11.2012 - 14 A 755/11 -, NVwZ-RR 2013, 469, juris)

2. Dahinstehen kann, ob - wovon der Antragsgegner ausgeht - eine Beeinflussung der Bewertung durch die rechtswidrig erlangten Noten eines anderen Kandidaten stets positiv nachgewiesen werden muss (so im Ergebnis BVerwG, Beschl. v. 13.9.1983 - 7 B 119.83 -, juris) oder ob es generell schon ausreicht, wenn die Beeinflussung nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann (so Niehues/ Fischer/Jeremias, aaO., Rnr. 538; vgl. auch OVG NW, Urt. v. 20.11.2012 - 14 A 755/11 -, NVwZ-RR 2013, 469, juris, wonach die Gefahr einer Verfälschung der Bewertungsgrundlagen ausreicht); denn zumindest im vorliegenden Fall ist aufgrund seiner Besonderheiten nur der geringere Wahrscheinlichkeitsmaßstab anzusetzen. Die Besonderheit im vorliegenden Verfahren liegt darin, dass der damalige Referatsleiter des Prüfungsamtes, also ein leitender Mitarbeiter des Antragsgegners, die Klausurlösungen an Prüflinge gegen entsprechende Gegenleistungen weitergegeben hat (vgl. hierzu Landgericht Lüneburg, Strafurteil v. 26.2.2015 - 33 KLs/760 Js 44594/14 (20/14)). Der Antragsgegner kann nicht darauf verweisen, das Verhalten des Referatsleiters sei erst im Frühjahr 2014 bekannt geworden, sondern er muss sich diese rechtswidrigen Handlungen seines Mitarbeiters zurechnen lassen. Liegt die Ursache für die rechtswidrige Begünstigung einzelner Prüfungsteilnehmer damit aber eindeutig in der Sphäre des Antragsgegners, sind die Interessen der nicht bevorzugten Prüflinge besonders schützenswert. Zumindest in derartigen Fällen ist es daher für die Annahme eines Verfahrensfehlers ausreichend, wenn die Beeinflussung des Bewertungsmaßstabs nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann.

Vor diesem Hintergrund ist die vorläufige einzelfallbezogene Einschätzung des Verwaltungsgerichts nicht zu beanstanden, bei einem Umfang von lediglich 15 bis 20 im Klausurendurchgang der Antragstellerin zu korrigierenden Arbeiten könne bezogen auf die VA-Klausur nicht ausgeschlossen werden, dass die überdurchschnittliche - wie sich später ergeben hat aber auf rechtswidrigem Handeln beruhende - Leistung eines Kandidaten (15 Punkte) das Bild des Korrektors hinsichtlich des Schwierigkeitsgrads der zu lösenden Aufgabe jener Klausur deutlich beeinflusst habe, ebenso bestehe bezüglich der mit 5 Punkten bewerteten, ebenfalls einem Täuschungsverdacht desselben Kandidaten unterliegende ZG-Klausur die Möglichkeit der Verzerrung des Beurteilungsmaßstabes, weil die Vergabe von 5 Punkten belege, dass es sich bei der Klausur um eine lösbare Aufgabe gehandelt habe (zur Bedeutung der Gruppengröße vgl. auch BVerwG, Urt. v. 14.6.1963 - VII C 44.62 -, BVerwGE 16, 150, juris; OVG NW, Urt. v. 20.11.2012, aaO.; zur Frage der Bedeutung des Grundsatzes der Chancengleichheit bei täuschenden Mitprüflingen vgl. Ost, Die Bewertung von Prüfungsleistungen und die Gleichheit, NWVBl. 2013, 209 ff., 216, 217).

3. Die Möglichkeit einer Beeinflussung des Bewertungsrahmens für die VA- und ZG-Klausur der Antragstellerin durch die Berücksichtigung der Bewertung der auf Täuschung beruhenden Leistungen eines anderen Kandidaten wird nicht durch den Umstand in Frage gestellt, dass zwar jeweils die gleichen Prüferteams tätig geworden sind, indes nach dem Vortrag des Antragsgegners die jeweiligen Erstprüfer in dem genannten Täuschungsfall bei der Antragstellerin lediglich Zweitprüfer waren, die sich zudem dem Votum des (die Leistung des täuschenden Kandidaten noch nicht kennenden) Erstprüfers angeschlossen haben; denn die Bewertungen durch Erstprüfer einerseits und Zweitprüfer andererseits sind gleich zu gewichten. Zudem reicht, wie oben dargelegt, vorliegend schon die Gefahr einer Beeinflussung aus.

4. Unerheblich ist, dass alle vier Prüfer auf Nachfrage des Antragsgegners erklärt haben, sie hätten auch ohne Kenntnis der täuschungsbehafteten beiden Klausuren dieselbe Punktzahl für die Klausuren der Antragstellerin vergeben. Maßgeblich ist, dass die Prüfungsbehörde zurechenbar (vgl. oben 2.) ungleiche Prüfungsbedingungen hergestellt hat, mit der Gefahr einer Verfälschung der Relation in den Bewertungen. Dieser Verfahrensfehler wäre allenfalls dann unerheblich, wenn offensichtlich wäre, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat (vgl. § 46 VwVfG). An diese Voraussetzungen sind im Prüfungsrecht allerdings im Hinblick auf den eingreifenden Grundrechtsschutz durch Verfahren - angesichts der im Prüfungsrecht nur eingeschränkten gerichtlichen Kontrolldichte sind die damit einhergehenden Defizite des Grundrechtsschutzes (Art. 2 Abs.1, Art. 3 Abs.1, Art.12 Abs.1 Art. 19 Abs. 4 GG) soweit wie möglich durch verbindliche Regelungen des Prüfungsverfahrens zu kompensieren (vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, aaO., Rnr. 129) - hohe Anforderungen zu stellen. Dass die Prüfer „offensichtlich“, also unter Ausschluss jeglichen vernünftigen Zweifels (Kopp/Ramsauer, VwVfG, 13. Aufl., § 46 Rnr.36 ff.) im Rahmen ihrer Bewertung ohne Kenntnis der fälschungsbehafteten Klausur nicht auch zu einer anderen Benotung der Antragstellerin hätten kommen können, ist nicht ersichtlich. Die gegenteiligen Bekundungen der Prüfer reichen allein für den Nachweis der Offensichtlichkeit nicht aus.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 52, 53 Abs. 2 GKG (die Hälfte des für Abschlussprüfungen betreffende Klageverfahren anzusetzenden 15.000,-- EUR).

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).