Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 11.08.2003, Az.: 8 Sa 341/03
Stillschweigende Übernahme eines Tarifvertrages auf das Arbeitsverhältnis; Anspruch auf tarifliche Sonderzahlung ; Vorverlegung eines tariflichen Stichtages durch bloße vorzeitige Auszahlung
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 11.08.2003
- Aktenzeichen
- 8 Sa 341/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 17879
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:2003:0811.8SA341.03.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Lüneburg - 22.01.2003 - AZ: 3 Ca 432/02
Rechtsgrundlage
- § 4 TVG
Fundstellen
- LAGReport 2004, 1-2
- NZA-RR 2004, 205 (Volltext mit amtl. LS)
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Es ist anerkannt, dass sich die vertragliche Bezugnahme auf tarifvertragliche Regelungen auch aus einer betrieblichen Übung oder konkludentes Verhalten der Arbeitsvertragsparteien ergeben kann.
- 2.
Enthält ein Tarifvertrag über eine Sonderzahlung eine Stichtagsregelung und bestimmt der Tarifvertrag im Sinne einer Fiktion einen bestimmten Tag als Auszahlungstag, wird durch bloße vorzeitige Zahlung der tariflichen Sonderleistung der tarifliche Auszahlungszeitpunkt, bzw. der Stichtag nicht vorverlegt.
In dem Rechtsstreit
hat die 8. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 11.08.2003
durch
die Vorsitzende Richterin am Landesarbeitsgericht Stöcke-Muhlack und
die ehrenamtlichen Richter Wiche und Kunze
für Recht erkannt:
Tenor:
- 1)
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Lüneburg vom 22.01.2003 - 3 Ca 432/02 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
- 2)
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten - soweit für das Berufungsverfahren von Belang - (noch) um die Zahlung einer tariflichen Sonderzahlung. Der 1948 geborene Kläger war seit dem 03.07.1982 bei der Schuldnerin bzw. deren Rechtsvorgängerin beschäftigt. Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Rechts-vorgängerin wurde auch über die Schuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Dieser kündigte das Arbeitsverhältnis am 26.08. zum 30.11.2002 fristgerecht.
Seit über 20 Jahren wurde im Betrieb des Beklagten auf Grund betrieblicher Übung eine tarifliche Sonderzahlung nach dem Tarifvertrag über betriebliche Sonderzahlungen der Metall- und Elektroindustrie Hamburg und Umgebung (nachfolgend "Tarifvertrag" genannt) geleistet. Die Auszahlung erfolgte mit dem Novembergehalt Ende des Monats November. Eine Betriebsvereinbarung über den Auszahlungstermin besteht nicht. Das Arbeitsverhältnis der Parteien endete zum 30.11.2002, nachdem der Kläger insoweit die Berufung gegen das im Kündigungsschutzprozess ergangene erstinstanzliche Urteil zurückgenommen hatte.
Für das Jahr 2002 erhielt der Kläger keine tarifliche Sonderzahlung. Der Tarifvertrag hat - soweit vorliegend von Entscheidung - folgenden Wortlaut:
§ 1 Abs. 1
1.
Arbeitnehmer und Auszubildende, die jeweils am Ausszahlungstag in einem Arbeits- und Ausbildungsverhältnis stehen und zu diesem Zeitpunkt dem Betrieb ununterbrochen 6 Monate angehört haben, haben im Kalenderjahr einen Anspruch auf betriebliche Sonderzahlungen. Ausgenommen sind die Arbeitnehmer, die zu diesem Zeitpunkt ihr Arbeitsverhältnis gekündigt haben.§ 4 Ziff. 1 - 3
1.
Der Zeitpunkt der Auszahlung wird durch Betriebsvereinbarung geregelt.2.
Falls dieser Zeitpunkt durch Betriebsvereinbarung nicht geregelt ist, gilt als Auszahlungstag im Sinne des § 2 Ziff. 1 der 1. Dezember.In diesem Fall ist es dem Arbeitgeber unbenommen, die Erfüllung der Zahlung vorher durchzuführen.
3.
Über Abschlagszahlungen können Regelungen in die Betriebsvereinbarung aufgenommen werden.
Mit der vorliegenden Klage begehrt der Kläger die Zahlung der tariflichen Sonderleistung.
Er hat beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger 1.650,47 EUR brutto nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz gem. § 1 DÜG seit 01.12.2002 zu zahlen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat die Auffassung vertreten, der Anspruch des Klägers auf Zahlung des Weihnachtsgeldes sei unbegründet. Anspruchsgrundlage bilde der § 2 Abs. 1 des Tarifvertrages über betriebliche Sonderzahlungen der Metall- und Elektroindustrie Hamburg und Umgebung Stichtag für die Auszahlung sei der 1.12. eines jeden Jahres. Zu diesem Zeitpunkt habe das Arbeitsverhältnis nicht mehr bestanden.
Durch Urteil vom 22.01.2003 hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf die tarifliche Jahressonderzuwendung nach § 2 Ziff. 1 Satz 1 des Tarifvertrages, weil er vor dem 01. Dezember 2002 ausgeschieden sei. § 4 Ziff. 2 bestimme als Auszahlungstag i. S. der § 2 Ziff. 1 den 01. Dezember. Eine Betriebsvereinbarung über den Zahlungstag bestehe nicht. Freiwillig habe die Schuldnerin bereits im November die Sonderzahlung erbracht. Rechtlich gelte jedoch der 01. Dezember als Stichtag.
Gegen dieses dem Kläger am 04.02.2003 zugestellte Urteil hat der Kläger am 26.02.2003 Berufung zum Landesarbeitsgericht eingelegt und diese am 17.03.2003 begründet.
Der Kläger ist nach wie vor der Auffassung, ihm stehe nach den tariflichen Bestimmungen ein Anspruch auf die Jahressonderzuwendung zu. Der Anspruch auf Zahlung des Weihnachtsgeldes sei aus dem Rechtsgrund der betrieblichen Übung begründet. Es sei zu berücksichtigen, dass sich die tatsächliche Auszahlung des Weihnachtsgeldes nicht nach dem angegebenen Tarifvertrag richte, sondern bereits mit dem Novembergehalt ausgezahlt werde. Wegen der lang anhaltenden Regelmäßigkeit dieser Vorgehensweise habe er darauf vertrauen können, dass auch im Jahre 2002 das Weihnachtsgeld zum Ende des Monats November 2002 fällig werde. Insbesondere hätten die Insolvenzschuldnerin und der Betriebsrat diese Praktiken über 2 Jahrzehnte geduldet und entsprechend durchgeführt. Sich nunmehr auf den Tarifvertrag zu berufen, stehe im Widerspruch zu § 4 Abs. 3 Tarifvertragsgesetz.
Der Kläger beantragt - unter Zurücknahme der Berufung im Übrigen -,
das Urteil des Arbeitsgerichts Lüneburg vom 22.01.2003 - 3 Ca 432/02 - teilweise abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger 1.650,47 EUR brutto nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit 01.12.2002 zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil und ist der Meinung, die Voraussetzungen für einen Zahlungsanspruch lägen nach §§ 2, 4 des Tarifvertrages nicht vor. § 2 des Tarifvertrages bestimme, dass derjenige Arbeitnehmer einen Anspruch auf das Weihnachtsgeld habe, der zum Auszahlungstag in einem Arbeitsverhältnis stehe. Den Auszahlungstag definiere § 4 des Tarifvertrages, ohne dass es auf den tatsächlichen Auszahlungszeitpunkt ankäme. Dies lasse sich ohne weiteres § 4 Nr. 2 Satz 2 des Tarifvertrages entnehmen. Nach dieser Vorschrift sei es dem Arbeitgeber unbenommen, die Erfüllung der Zahlung vorher durchzuführen.
Zur Ergänzung der Sachdarstellung wird auf die von den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zahlung der tariflichen Sonderleistung nach den Bestimmungen des Tarifvertrages über betriebliche Sonderzahlungen der Metall- und Elektroindustrie Hamburg und Umgebung (im Folgenden Tarifvertrag genannt).
1.
Der Anspruch ergibt sich nicht aus dem auf das Arbeitsverhältnis der Parteien kraft betrieblicher Übung anwendbaren Tarifvertrag. Es ist anerkannt, dass sich die vertragliche Bezugnahme auf tarifvertragliche Regelungen auch aus einer betrieblichen Übung oder konkludentes Verhalten der Arbeitsvertragsparteien ergeben kann (BAG vom 19.01.1999 - 1 AZR 606 -NZA 1999, 879 m.w.N.). Eine stillschweigende Übernahme eines Tarifvertrages auf das Arbeitsverhältnis kann dann in Betracht kommen, wenn die Parteien jahrelang die für einen Betrieb einschlägigen Tarifverträge auf das Arbeitsverhältnis angewendet haben, wie im vorliegenden Fall. Im Betrieb der Schuldnerin wurden die Bestimmungen des Tarifvertrages -wie von beiden Parteien übereinstimmend vorgetragen - jahrelang angewandt, die tarifliche Sonderzahlung mit dem Novembergehalt eines jeden Jahres zur Auszahlung gebracht.
Auch die Lohn- und Gehaltsabrechnungen weisen die Sonderzahlung als "tarifliche Sonderzahlung" aus.
2.
Die Voraussetzungen des tariflichen Anspruches liegen jedoch nicht vor. Am 01.12.2002 - dem tariflich bestimmten Auszahlungstermin - befand sich der Kläger nicht mehr in einem Arbeitsverhältnis zu dem Beklagten. Ein bestehendes Arbeitsverhältnis am Auszahlungstermin wäre jedoch Voraussetzung für den Anspruch gewesen (§ 2 Ziff. 1 des Tarifvertrages). Einen früheren Auszahlungstermin haben die Betriebsparteien nicht festgelegt.
Der Kläger kann sich nicht darauf berufen, die betriebsübliche Vorverlegung des Auszahlungszeitpunktes auf Ende November begründe den Anspruch. Insoweit sieht der Tarifvertrag nämlich nach seinem eindeutigen Wortlaut die Möglichkeit einer früheren Erfüllung - unabhängig von dem in § 4 Ziff. 2 Satz 1 festgelegten Auszahlungstermin und ohne diesen abzuändern - vor. § 4 Ziff. 2 Satz 2 bestimmt nämlich, dass es dem Arbeitgeber in diesem Fall unbenommen ist, die Erfüllung der Zahlung vor dem Auszahlungstermin des 1.12. durchzuführen. Einzig denkbarer Sinn dieser Regelung ist, auch bei früherer Leistung durch den Arbeitgeber den tariflich festgelegten Stichtag unberührt zu lassen. Dies erklärt sich daraus, dass es dem Arbeitgeber beim bargeldlosen Zahlungsverkehr nur schwer möglich ist, die Gutschrift auf dem Konto des Arbeitnehmers exakt zum 01. Dezember zu erreichen.
Enthält ein Tarifvertrag über eine Sonderzahlung eine Stichtagsregelung und bestimmt der Tarifvertrag im Sinne einer Fiktion einen bestimmten Tag als Auszahlungstag, der anderweitig durch Betriebsvereinbarung geregelt werden kann, wird durch bloße vorzeitige Zahlung der tariflichen Sonderleistung oder durch vorherige Abschlagszahlung, auch wenn sie kraft betrieblicher Übung erfolgen, der tarifliche Auszahlungszeitpunkt, bzw. der Stichtag nicht vorverlegt (vgl. LAG Hamm v. 03.12.1999 - 10 Sa 1203/99 - NZA-RR 2000, 371 ff.; LAG Hamm v. 16.09.1994 - 10 Sa 475/94 - n. v.; v. 20.06.1997 - 10 Sa 2151/96 - n. v.; v. 20.08.1999 - 10 Sa 483/99 - n. v.). Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Tarifvertrag ausdrücklich die vorherige Erfüllung des Anspruchs vorsieht und regelt, dass lediglich durch eine Betriebsvereinbarung der Zeitpunkt der Auszahlung i. S. des § 2 Ziff. 1 Tarifvertrag anders regeln könne.
Aus diesem Grund kann der Kläger den Anspruch auch nicht aus dem Gesichtspunkt betrieblicher Übung oder § 4 Abs. 3 Tarifvertragsgesetz (Günstigkeitsprinzip) herleiten. Der Tarifvertrag enthält eine abschließende Regelung. Die Abänderung einzelner Tarifnormen ist nicht möglich ("Rosinentheorie"; LAG Frankfurt v. 11.10.1979 AP Nr. 70 zu § 4 Ausschlussfristen; Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht - Schaub -, 3. Aufl., § 4 TVG, RNr. 65, 68).
Der Kläger hat die Kosten des erfolglos gebliebenen Rechtsmittels zu tragen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Wegen grundsätzlicher Bedeutung war die Revision zum Bundesarbeitsgericht zuzulassen (§ 72 Abs. 2 ArbGG).
Der Streitwert hat sich in der Berufungsinstanz nicht geändert, § 25 GKG.