Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 28.05.2003, Az.: L 3/9/6 U 142/00
Anerkennung und Entschädigung einer Lärmschwerhörigkeit als Berufskrankheit; Objektive Beweislast für das Vorliegen einer Berufskrankheit; Vollbeweis als mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit; Hinreichende Wahrscheinlichkeit für Kausalzusammenhang; Berufsunabhängige Ursachen für eine Schwerhörigkeit
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 28.05.2003
- Aktenzeichen
- L 3/9/6 U 142/00
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 20031
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0528.L3.9.6U142.00.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Oldenburg - AZ: S 7 U 6/99
- LSG Niedersachsen - AZ: L 3/9/6 U 142/00
Rechtsgrundlagen
- § 551 Abs. 1 RVO
- Nr. 2301 BKV
Redaktioneller Leitsatz
Im Unfallversicherungsrecht gilt der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit jedenfalls für den konkret-individuellen Kausalzusammenhang zwischen der mit der versicherten Tätigkeit in innerem Zusammenhang stehenden Verrichtung und der schädigenden Einwirkung ("haftungsbegründende Kausalität") und zwischen dieser und dem Eintritt der Erkrankung ("haftungsausfüllende Kausalität").
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der am E. geborene Kläger macht die Anerkennung und Entschädigung einer Lärm-schwerhörigkeit als Berufskrankheit nach Ziffer 2301 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) geltend.
Von 1956 bis 1969 war der Kläger - unterbrochen durch einen zweijährigen Wehrdienst in der türkischen Armee - in Druckereien in der Türkei tätig, und zwar zumindest überwiegend im Bereich der Verpackung (vgl. Schreiben des Klägers vom 16. Oktober 1997). Jedenfalls bezogen auf die letzten Jahre seiner Tätigkeit in der Türkei hat der Kläger im März 1998 ausdrücklich bestätigt, dass die Verpackungsarbeiten ohne maschinelle Hilfe ausgeführt worden seien und dass er dabei keinen Lärmeinwirkungen ausgesetzt gewesen sei.
Anschließend arbeitete er bis Ende Oktober 1973 als Arbeiter in der Spinnerei und Spulerei der Vereinigten Kammgarnspinnerei (VKS) in F ... Nach Einschätzung der Beklagten ist davon auszugehen, dass bei dieser beruflichen Tätigkeit bei der Kammgarnspinnerei ein Lärmbeurteilungspegel von 85 dB (A) erreicht oder überschritten worden ist, da die durchschnittlichen Beurteilungspegel für eine Tätigkeit im Bereich von Kammgarnringspinnmaschinen ca. 92 dB (A) und für eine Tätigkeit im Bereich von Spulmaschinen ca. 89 dB (A) betragen.
Von November 1973 bis September 1994 war der Kläger als Rangierer und Hemmschuhleger im Bahnhof G., von Oktober 1994 bis Februar 1995 als Mitarbeiter im Bereich der Hausreinigung und seit 01. März 1995 als Weichenreiniger bei der Deutschen Bundesbahn tätig.
Als Rangierarbeiter bestand die Hauptgabe des Klägers darin, ablaufende Wagen bzw. Wagengruppen mit Hemmschuhen zu bremsen. Darüber hinaus war er insbesondere auch mit dem Kuppeln und dem sog. Langmachen von Zügen befasst.
Am 11. Mai 1995 erstattete der HNO-Arzt Dr. H. eine ärztliche Anzeige über den Verdacht einer Berufskrankheit nach Ziffer 2301.
Im Auftrag der beigeladenen Eisenbahn-Unfallkasse erstattete deren Technischer Aufsichtsdienst am 18. Juni 1996 eine Stellungnahme, derzufolge bei Hemmschuhlegern die schichtbezogenen Messwerte den sog. Lärmgrenzwert von 85 dB(A) allenfalls auf besonders großen und stark frequentierten Rangierbahnhöfen erreichen könnten, zu diesen besonders großen Bahnhöfen zähle der Bahnhof G. jedoch nicht.
Mit Bescheid vom 25. Mai 1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17. Dezember 1998 lehnte die Beklagte die Anerkennung und Entschädigung der Lärmschwerhörigkeit als Berufskrankheit mit der Begründung ab, dass der Kläger mit Ausnahme der dreijährigen Tätigkeit in der Kammgarnringspinnerei keine hinreichend lärmbelastete Tätigkeit verrichtet habe, eine nur dreijährige Lärmexposition genüge nicht zur Hervorrufung einer Lärmschwerhörigkeit.
Mit der am 15. Januar 1999 erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, dass die während seiner langjährigen Tätigkeit bei der Bundesbahn erfahrenen Lärmeinwirkungen ursächlich für die Schwerhörigkeit seien.
Mit Urteil vom 22. März 2000, dem Kläger zugestellt am 30. März 2000, hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Hörschaden habe nach dem Ende der Lärmexposition begonnen, auch habe er in der Folgezeit weiter zugenommen. Das Erkrankungsbild sei damit für eine beruflich bedingte Lärmschwerhörigkeit völlig atypisch.
Zur Begründung der am 13. April 2000 eingelegten Berufung hebt der Kläger die Lärmbelastungen an seinem langjährig wahrgenommenen Arbeitsplatz eines Rangierers hervor. Es sei eine Gesamtbetrachtung der auf allen Gleisen des Rangierbahnhofs auftretenden Geräusche geboten. Ein Rangierer sei insbesondere beim Abbremsen der Wagons sehr lauten quietschenden Geräuschen ausgesetzt; ein Aufeinanderprallen der Wagons sei stets mit einem lauten Knall verbunden. Dabei sei die Häufung dieser Lärmbelastungen zu berücksichtigen; jeder Hemmschuhleger haben pro Arbeitsschicht etwa 50 Bremsvorgänge vorzunehmen.
Die Hörminderung sei auch bereits vor 1995 aufgetreten; sie habe jedenfalls seit 1992/93 bestanden. Er habe sich allerdings erst nach längerer Zeit zur Konsultation eines HNO-Arztes entschließen können. Die erhobenen Befunde seien auch als typisch für eine Lärmschwerhörigkeit zu beurteilen.
Der Kläger beantragt,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 22. März 2000 und den Bescheid der Beklagten vom 25. Mai 1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17. Dezember 1998 aufzuheben und
- 2.
festzustellen, dass bei ihm eine Berufskrankheit nach Ziffer 2301 der Anlage zur BKV vorliegt, und
- 3.
die Beklagte zur Entschädigung dieser Berufskrankheit dem Grunde nach zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Ihrer Auffassung nach lässt sich keine langjährige Tätigkeit mit einem personenbezogenen Lärmbeurteilungspegel von mindestens 85 dB (A) feststellen. Darüber hinaus zeigten die beim Kläger erhobenen Audiogramme einen für eine Lärmschwerhörigkeit untypischen Verlauf.
Die Beigeladene stellt keinen Antrag.
Sie führt unter Heranziehung zahlreicher Stellungnahmen ihres technischen Aufsichtsdienstes aus, dass in der Tat beim Auftreffen der aufzuhaltenden Wagons auf die Hemmschuhe hochfrequente Quietschgeräusche aufträten. Deren Impulshaltigkeit sei jedoch nicht so hoch, dass traumatische Schädigungen zu befürchten seien.
Bei Spitzenpegeln von 104 bis 107 dB (A), die sowohl im Rahmen solcher Quietschgeräusche als auch bei den beim Aufprallen eines Wagons auf einen anderen zu erwartenden Knallgeräuschen bei ungünstigen Bedingungen maximal zu verzeichnen seien, werde unter Berücksichtigung der jeweils nur wenige Sekunden währenden Dauer solcher Geräusche - wobei Spitzenpegel sogar nur im Zehntelsekundenbereich zu erwarten seien - bezogen auf einen achtstündigen Arbeitstag im Fall des Klägers ein durchschnittlicher Beurteilungspegel von 85 dB (A) nicht erreicht. Ein solcher schichtbezogener Beurteilungspegel komme unter Berücksichtigung von in anderen Fällen vorgenommenen (auch sog. Sekundärbelastungen mit erfassenden und nur im Rahmen der ohnehin gegebenen Messfehlertoleranz von Witterungsbedingungen beeinflussten) Messungen allenfalls in Betracht, wenn ein Rangierer im Laufe einer Schicht durchschnittlich mindestens 150 Rangierhandlungen zu bewältigen habe, die von dem Kläger während einer Schicht durchschnittlich wahrzunehmenden Rangierhandlungen hätten aber nicht einmal die Zahl von 100 erreicht. Selbst im Rahmen einer Worst-case-Annahme seien bei ihm allenfalls 90 Rangierhandlungen je Schicht zu Grunde zu legen, so dass bei ihm allenfalls von einem schichtbezogenen Beurteilungspegel von 82 dB (A) auszugehen sei.
Auch das Fortschreiten der Schwerhörigkeit nach Expositionsende spreche gegen eine berufliche Verursachung.
Der Senat hat ärztliche Unterlagen von Dr. H. beigezogen und ein arbeitsmedizinisches Gutachten von Prof. Dr. I. vom 25. September 2002 eingeholt, das dieser auf Bitten des Senates um eine Stellungnahme vom 20. März 2003 ergänzt hat. Auf den Inhalt dieser Darlegungen wird verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Beigeladenen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Über die vorliegende Berufung entscheidet der Senat mit dem von allen Beteiligten erklärten Einverständnis (vgl. die Schriftsätze des Klägers vom 25. April 2003, der Beklagten vom 10. April und 9. Mai 2003 und der Beigeladenen vom 10. April und 15. Mai 2003) durch seinen Berichterstatter als Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung.
Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg.
Da der Kläger die lärmbelastende berufliche Tätigkeit vor In-Kraft-Treten des Sozialgesetzbuchs Buch VII Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) aufgegeben hat, beurteilt sich das Berufungsbegehren nach den Übergangsvorschriften der §§ 212, 214 SGB VII weiterhin nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Gemäß § 551 Abs. 1 RVO ist eine Berufskrankheit wie ein Arbeitsunfall zu entschädigen. Berufskrankheit ist eine Erkrankung, die durch Rechtsverordnung der Bundesregierung als solche bezeichnet ist und die der Versicherte bei einer unfallversicherungsrechtlich geschützten Tätigkeit erleidet. Nach Nr. 2301 der Anlage 1 zur 7. Berufskrankheitenverordnung (BKVO) vom 20. Juni 1968 (BGBl.. I, 721) i.d.F. der Verordnungen vom 8. Dezember 1976 (BGBl.. I, 3329) und 22. März 1988 (BGBl.. I, 400) zählt die Lärmschwerhörigkeit zu den Berufskrankheiten.
Der Kläger trägt die objektive Beweislast für das Vorliegen der für die begehrte Anerkennung einer Berufskrankheit erforderlichen Tatsachen. Für eine solche Anerkennung müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß im Sinne des "Vollbeweises", also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit - nicht allerdings die bloße Möglichkeit - ausreicht (vgl. BSG, Urt. v. 27. Juni 2000, Az: B 2 U 29/99 R und Brackmann/Krasney, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, SGB VII, 12. Aufl, § 9 RdNrn 22, 23 m.w.N.). Dabei gilt der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit jedenfalls für den konkret-individuellen Kausalzusammenhang zwischen der mit der versicherten Tätigkeit in innerem Zusammenhang stehenden Verrichtung und der schädigenden Einwirkung ("haftungsbegründende Kausalität") und zwischen dieser und dem Eintritt der Erkrankung ("haftungsausfüllende Kausalität"). Ob dies ebenso für das Vorliegen der generellen Geeignetheit der bestimmten Einwirkung für das Entstehen oder die Verschlimmerung der Erkrankung gilt oder ob hier der strengere Maßstab des vollen Nachweises zu fordern ist (vgl. zum Meinungsstand etwa Lauterbach/Koch, Unfallversicherung, § 9 SGB VII RdNr. 105), ist im vorliegenden Zusammenhang nicht zu entscheiden (vgl. dazu ebenfalls BSG, Urt. v. 27. Juni 2000 a.a.O.).
Im vorliegenden Fall kann der Kläger eine Anerkennung seiner Schwerhörigkeit als Berufskrankheit nach Ziffer 2301 der Anlage zur BKV nicht beanspruchen, da sich eine berufliche Verursachung nicht einmal mit Wahrscheinlichkeit feststellen lässt, es ist insbesondere auch nicht von einer rechtlich wesentlichen Mitverursachung der beruflichen Tätigkeit auszugehen.
Nach den überzeugenden Ausführungen des vom Senat gehörten Sachverständigen Prof. Dr. I. gibt es keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die knapp vierjährige Lärmexposition im Rahmen der beruflichen Tätigkeit des Klägers bei der Kammgarnspinnerei von 1969 bis 1973 zu einer Hörbeeinträchtigung geführt hat. Bei einem Großteil der solcherart exponierten Personen ruft eine Lärmexposition dieser Dauer und Intensität keine dauerhafte Beeinträchtigung des Hörvermögens hervor. Es ist nicht ersichtlich, dass dies beim Kläger anders zu beurteilen ist, zumal auch unter Zugrundelegung seiner Angaben Hörprobleme erst rund zwei Jahrzehnte später aufgetreten sind.
Bezüglich der vom Kläger angeschuldigten Tätigkeit als Rangierer bei der Bundesbahn lässt sich ebenso wenig mit Wahrscheinlichkeit ein Ursachenbeitrag zu der ab 1995 diagnostizierten Schwerhörigkeit feststellen. Die Beigeladene hat unter Mitwirkung ihres technischen Aufsichtsdienstes in dessen umfänglichen Stellungnahmen unter Auswertung von an anderen Rangierbahnhöfen gewonnenen Messergebnissen zur Überzeugung des Senates dargelegt, dass der Kläger an seinem Arbeitsplatz als Rangierarbeiter und Hemmschuhleger am Güterbahnhof G. einem schichtbezogenen Beurteilungspegel von durchschnittlich allenfalls 82 dB (A) ausgesetzt war.
Auch von Seiten des Klägers ist nicht in Abrede gestellt worden, dass die Zahl der Rangiervorgänge am Güterbahnhof G. im Durchschnitt je Arbeitsschicht deutlich unterhalb derjenigen Zahl lag, die bei der Schicht auf dem Güterbahnhof Erfurt erreicht wurde, bei der die vom technischen Aufsichtsdienst der Beigeladenen herangezogenen personenbezogenen und daher auch Sekundärbelastungen erfassenden Messungen durchgeführt wurden, die einen Beurteilungspegel von 85 dB (A) ergeben haben. Unter Berücksichtigung der deutlich geringeren Zahl der lärmverursachenden Rangiervorgänge leuchtet es ein, dass der technischen Aufsichtsdienst der Beigeladenen bezogen auf den vom Kläger wahrgenommenen Arbeitsplatz lediglich von einem schichtbezogenen Beurteilungspegel von maximal 82 dB (A) ausgeht. Auch der vom Senat gehörte Sachverständige hat keine Notwendigkeit zu weiteren Ermittlungen gesehen.
Ausgehend von dem danach anzunehmenden schichtbezogenen Beurteilungspegel von maximal 82 dB (A) lässt sich aber, wie Prof. Dr. I. ebenfalls überzeugend ausgeführt hat, nach derzeitigem wissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht ausreichend begründen, dass eine solche Lärmeinwirkung zu einer Lärmschwerhörigkeit im Sinne der Ziff. 2301 der Anlage zur BKV geführt hat; ein solcher Kausalzusammenhang lässt sich nicht einmal wahrscheinlich machen.
Darüber hinaus ist festzuhalten, dass eine - vorliegend ohnehin nicht festzustellende - Lärmschwerhörigkeit nach Beendigung der Lärmexposition nicht weiter fortschreitet (vgl. das Gutachten von Prof. J.). Schon deshalb muss die auch nach Aufgabe der Tätigkeit als Rangierer festzustellende weitere Zunahme der Schwerhörigkeit beim Kläger auf andere - berufsunabhängige - Ursachen zurückzuführen sein.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.