Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 12.05.2003, Az.: L 10/5 V 23/02
Voraussetzungen einer Schädigungsfolge; Theorie der rechtlich wesentlichen Bedingung; Schussverletzung am linken Scheitelbein; Seitverbiegung der Lendenwirbelsäule
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 12.05.2003
- Aktenzeichen
- L 10/5 V 23/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 21792
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0512.L10.5V23.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Osnabrück - 11.12.1998 - AZ: S 7 V 7/96
Rechtsgrundlagen
- § 30 BVG
- § 48 SGB X
- § 1 BVG
Redaktioneller Leitsatz
Ursache im Sinne des § 1 BVG (Bundesversorgungsgesetz) sind nur solche Bedingungen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn, die von wesentlicher Bedeutung sind, also im Vergleich zu allen anderen Bedingungen für den Eintritt der streitigen Gesundheitsstörung in etwa gleiche Bedeutung haben.
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 11. Dezember 1998 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob bei dem Kläger im Wege eines Verschlimmerungsantrages eine weitere Schädigungsfolge anzuerkennen und die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) gemäß § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) auf mehr als 70 v.H. festzusetzen ist.
Bei dem 1923 geborenen kriegsverletzten Kläger hatte das Versorgungsamt Osnabrück zuletzt mit Bescheid vom 14. Dezember 1960 auf Grund des versorgungsärztlichen Gutachtens des Neurologen Dr. D. vom 10. November 1960 als Schädigungsfolgen
"Schussverletzung des linken Scheitelbeins mit geringem Knochendefekt und praktischer Lähmung des rechten Beines sowie neurologischen Ausfällen des rechten Armes und linken Beines, leichte Hirnleistungsschwäche"
sowie eine dadurch bedingte MdE gemäß § 30 Abs. 1 BVG um 70 v.H. festgestellt. Den Grad der MdE hat das Versorgungsamt später gemäß § 30 Abs. 2 BVG wegen besonderen beruflichen Betroffenseins auf 80 v.H. erhöht.
Mit dem im Januar 1995 gestellten Neufeststellungsantrag begehrte der Kläger die Gewährung höherer Versorgungsbezüge. Zur Begründung machte er eine Verschlimmerung der Folgen der Hirnverletzung sowie Rückenschmerzen als Folge einer auf die Schädigungsfolgen zurückzuführenden Spinalstenose geltend. Der Beklagte veranlasste eine Begutachtung des Klägers durch den Chirurgen Dr. E., der in seinem Gutachten insbesondere zu der Auffassung gelangte, die Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule seien alters- und konstitutionell bedingt, weil weder eine Beckenverkippung, noch eine nennenswerte Fehlbelastung der unteren Wirbelsäule, noch eine fixierte Skoliose, noch eine Instabilität vorlägen.
Mit Bescheid vom 18. Mai 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Januar 1996 lehnte der Beklagte daraufhin die Neufeststellung des Versorgungsanspruches ab. Eine wesentliche Änderung sei nicht eingetreten.
Dagegen hat der Kläger Klage bei dem Sozialgericht (SG) Osnabrück erhoben und die Feststellung einer MdE von mehr als 70 v.H. begehrt. Zur Begründung hat er vorgetragen, die anerkannte Hirnschädigung habe sich erheblich verschlechtert. Die Lähmung des rechten Beines habe zu einer Fehlbelastung der Wirbelsäule und in ihrer Folge zur Entwicklung von Verschleißveränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule geführt.
Das SG hat den Kläger von dem Neurologen und Psychiater Dr. Dr. F. und dem Orthopäden Dr. G. begutachten lassen, die übereinstimmend zu dem Ergebnis gelangt sind, dass in den anerkannten Schädigungsfolgen eine wesentliche Änderung nicht eingetreten sei. Soweit nunmehr gegenüber dem Zeitpunkt der Feststellung von 1960 neue Gesundheitsstörungen eingetreten seien, seien diese nicht mit den Schädigungsfolgen in Zusammenhang zu bringen.
Auf Antrag des Klägers gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hat das SG ihn darüber hinaus von dem Neurologen und Psychiater Dr. H. und dem Orthopäden Dr. I. begutachten lassen. Während Dr. H. in seinem Gutachten abschließend ausgeführt hat, auf seinem Fachgebiet sei eine wesentliche Änderung des Schädigungsfolgen nicht eingetreten, hat Dr. I. die Auffassung vertreten, durch eine erhebliche Fehlstatik sei es zu einer Zunahme der degenerativen Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule des Klägers mit der Folge einer spinalen Stenose gekommen. Hierfür sei eine MdE in Höhe von 30 v.H. in Ansatz zu bringen, sodass der Gesamtgrad der MdE ab Januar 1995 mit 80 v.H. einzuschätzen sei.
Der Beklagte ist dem durch Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme des Chirurgen Dr. J. entgegengetreten.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 11. Dezember 1998 als unbegründet abgewiesen. Eine wesentliche Verschlimmerung der Schädigungsfolgen im geistig-seelischen Bereich sei nicht eingetreten. Die bei dem Kläger inzwischen vorliegende Spinalstenose sei auch nicht mittelbare Schädigungsfolge. Eine Wirbelsäulenfehlstatik führe nur bei nicht ausgleichbarer Seitverbiegung zu degenerativen Wirbelsäulenveränderungen. Eine derartige Seitverbiegung liege bei dem Kläger jedoch nicht vor.
Gegen das ihm am 29. Januar 1999 zugestellte Urteil wendet sich die am 12. Februar 1999 bei dem Landessozialgericht eingegangene Berufung des Klägers. Er hält daran fest, dass die Spinalstenose durch das mehr als 50 Jahre andauernde schädigungsbedingte Hinken und Humpeln entstanden sei und dass ihm eine MdE gemäß § 30 Abs. 1 BVG von mehr als 70 v.H. zustehe.
Der Kläger beantragt,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 11. Dezember 1998 und den Bescheid des Versorgungsamtes Osnabrück vom 18. Mai 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesversorgungsamtes Niedersachsen vom 2. Januar 1996 aufzuheben,
- 2.
den Beklagten zu verurteilen, bei ihm eine "spinale Stenose" als weitere Schädigungsfolge i.S. des Bundesversorgungsgesetzes festzustellen und ihm deswegen ab dem 1. Januar 1995 Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 90 v.H. gemäß § 30 Abs. 1 und 2 BVG zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 11. Dezember 1998 zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil und die mit ihm überprüften Bescheide für zutreffend. Die Beteiligten haben übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung und durch den Berichterstatter erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Verwaltungsakte des Versorgungsamtes Osnabrück sowie der über den Kläger geführten Bezug genommen. Die genannten Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist jedoch nicht begründet. Das SG hat zu recht festgestellt, dass dem Kläger weder ein Anspruch auf Anerkennung der spinalen Stenose als weitere Schädigungsfolge im Sinn des § 1 BVG noch auf Versorgung nach einer höheren MdE als um 70 gemäß § 30 Abs. 1 BVG zustehen.
Das SG hat in dem angefochtenen Urteil zutreffend dargelegt, dass dem Begehren nur nach Maßgabe der Vorschrift des § 48 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) entsprochen werden könnte, wenn sich nämlich gegenüber den verbindlichen Feststellungen von 1960 eine wesentliche tatsächliche Änderung ergeben hätte. Das SG hat aber auch zutreffend festgestellt, dass diese Voraussetzung nicht gegeben ist. Denn weder haben sich die anerkannten Schädigungfolgen wesentlich verschlimmert noch ist eine neue Gesundheitsstörung aufgetreten, die als Schädigungsfolge anzuerkennen ist. Zwar ist die Spinalstenose in diesem Sinn eine neue Gesundheitsstörung, weil sie anlässlich der Begutachtung durch Dr. D. am 10. November 1960 noch nicht bestanden hat. Sie ist jedoch nicht Schädigungsfolge.
Gemäß § 1 Abs. 1 und 3 BVG sind solche Gesundheitsstörungen Schädigungsfolgen, die mindestens mit Wahrscheinlichkeit durch die Schädigung verursacht worden sind. Ursache im Rechtssinn sind dabei nur solche Bedingungen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn, die von wesentlicher Bedeutung sind, also im Vergleich zu allen anderen Bedingungen für den Eintritt der streitigen Gesundheitsstörung in etwa gleiche Bedeutung haben (Theorie der rechtlich wesentlichen Bedingung, vgl. dazu Rohr/Strässer, Kommentar zum BVG, § 1 Anm. 9.).
Auch von dem Kläger wird nicht behauptet, die Spinalstenose sei unmittelbar auf das schädigende Ereignis - den Streifschuss am Scheitelbein - zurückzuführen.
Aber auch die bereits anerkannten Schädigungsfolgen, insbesondere auch die Teillähmung des rechten Beines, sind in diesem Sinn nicht Ursache der Spinalstenose des Klägers. Denn diese ist nach den Bewertungsmaßstäben der rechtsnormähnlichen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz; Fassung von 1996 (AHP 1996) (vgl. etwa Bundessozialgericht, Urteil vom 23. Juni 1993, Az: 9/9a RVs 1/91, SozR 3-3870 § 4 Nr. 6; Urteil vom 11. Oktober 1994, Az: 9 RVs 1/93, SozR 3-3870 § 3 Nr. 5; Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 6. März 1995, Az: 1 BvR 60/95, SozR 3-3870 § 3 Nr. 6) mit den anerkannten Schädigungsfolgen nicht in Zusammenhang zu bringen. Bei Gliedmaßenschäden können die gleichen Folgen am Bewegungsapparat auftreten wie nach einer Amputation mit vergleichbarer Funktionsstörung (AHP 1996, Rdnr. 129 Abs. 4, S. 302). Selbst für Gliedmaßenverluste ist indes nach den verbindlichen Maßstäben der AHP 1996 ein Zusammenhang mit Funktionsstörungen, wie sie der Kläger beklagt, nicht herzustellen.
Zunächst ist bereits zweifelhaft, ob die Teillähmung des rechten Beines zu einer statischen Fehlbelastung der Lendenwirbelsäule geführt haben kann. Denn die Teillähmung hat keine Längendifferenz der Beine verursacht, sodass ein Beckenschiefstand und in seiner Folge eine Seitverbiegung der Lendenwirbelsäule nicht durch die Schädigungsfolgen verursacht worden ist. Dass eine anderweitige statische Fehlbelastung durch eine durch die Schädigungsfolgen bedingte Fehlstellung des Beckens verursacht sein könnte, ist nicht ersichtlich.
Dahingestellt bleiben kann, ob etwa ein Beckenschiefstand als Folge einer nicht seitengleichen Versorgung mit orthopädischen Schuhen entstanden ist, wofür sich allerdings in der Akte kein Hinweis ergibt. Dahingestellt bleiben kann auch, ob es etwa ohne Beckenschiefstand durch die möglicherweise auch die Rückenmuskulatur betreffende seitendivergente Teillähmung zu der Seitverbiegung der Lendenwirbelsäule gekommen sein könnte, wofür sich aus der Akte allerdings ebenfalls kein tragfähiger Hinweis ergibt. Denn selbst unter der Annahme einer letztlich schädigungsbedingten Skoliose der Lendenwirbelsäule würde die von dem Kläger geltend gemachte Spinalstenose nicht darauf zurückzuführen sein.
Allerdings kann eine Seitverbiegung der Lendenwirbelsäule zu degenerative Veränderungen führen. Dies gilt jedoch nur, wenn und soweit sie allein oder bevorzugt den konkavseitigen Bereich der Seitverbiegung betreffen (AHP 1996, Rdnr. 129 Abs. 1, Unterabsatz 7, S. 301). Die degenerativen Veränderungen der nach links ausgebogenen Lendenwirbelsäule des Klägers sind nach dem Ergebnis der in erster Instanz durchgeführten Beweisaufnahme aber nicht eindeutig auf den Innenbereich der Verbiegung beschränkt oder dort wenigstens besonders stark ausgeprägt. Vielmehr finden sich in etwa gleichstarke Veränderungen auch linksseitig und an Vorder- und Rückseite der Lendenwirbelsäule. Soweit Dr. I. die Röntgenaufnahmen vom 25. Februar 1998 und 27. März 1995 in der Zusammenfassung seines Gutachtens anders interpretiert, steht er damit bereits in Gegensatz zu dem Text seiner eigenen Auswertung der Röntgenaufnahmen. Hierbei beschreibt er auch sehr ausgeprägte Veränderungen an den Vorder- und Hinterkanten der Wirbelkörper sowie neben den rechtsseitigen auch linksseitige Veränderungen. Dr. I. steht mit seiner Abschlussbewertung aber auch im Gegensatz zu den Feststellungen von Dr. G ...
Selbst soweit der Senat mit den Wertungen von Dr. I. von verstärkten rechtsseitigen degenerativen Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelkörper 4 und 5 ausgeht, lässt sich damit ein ursächlicher Zusammenhang zu der Spinalstenose nicht herstellen. Denn die Stenose befindet sich nicht etwa in diesem möglicherweise noch von Schädigungsfolgen betroffenen Abschnitt sondern im Bereich der Lendenwirbelkörper 1 bis 3. Dr. G. und Dr. I. sind sich bei der Auswertung der MRT-Untersuchung vom 9. August 1996 darüber einig, dass die Spinalstenose sich in dem genannten Wirbelsäulenabschnitt befindet und dass die Bandscheiben zwischen den Lendenwirbelkörpern 1 und 2 sowie 2 und 3 vorgewölbt sind. Nur ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass auch Dr. I. jedenfalls für diesen Wirbelsäulenabschnitt nicht von seitendivergenten Veränderungen ausgeht.
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Höherbemessung des Grades der MdE. Nachdem er inzwischen zu Recht nicht mehr geltend macht, die bereits mit dem Bescheid vom 14. Dezember 1960 anerkannten Schädigungsfolgen hätten sich wesentlich verschlimmert, kann ein höherer Grad der MdE im Verschlimmerungsverfahren nur in Betracht kommen, wenn und soweit weitere Schädigungsfolgen anzuerkennen sind. Nach den vorstehenden Ausführungen ist aber dies nicht der Fall.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der §§ 183, 193 SGG.
Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.