Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 22.05.2003, Az.: L 10/9 SB 184/01
Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft; Erheblichkeit der funktionellen Störungen in einem Wirbelsäulenabschnitt; Morphologische Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 22.05.2003
- Aktenzeichen
- L 10/9 SB 184/01
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 15404
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0522.L10.9SB184.01.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Oldenburg - 13.11.2001 - AZ: S 1 SB 171/01
Rechtsgrundlagen
- § 69 Abs. 1 SGB IX
- § 30 Abs. 1 BVG
Redaktioneller Leitsatz
Liegen allein funktionelle Störungen in einem Wirbelsäulenabschnitt vor, so kann dies höchstens zu einem GdB (Grad der Behinderung) von 30 führen, wenn nicht weitere Umstände hinzutreten.
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 13. November 2001 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger ein Drittel der Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Der Senat hält die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich. Die Entscheidung konnte deshalb gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss ergehen.
II.
Die Beteiligten streiten darüber, ob bei dem 1955 geborenen Kläger die Voraussetzungen für einen Grad der Behinderung (GdB) von mehr als 40 vorliegen.
Das Versorgungsamt (VA) Heidelberg hatte bei dem Kläger zuletzt mit Bescheid vom 27. Januar 1998 einen GdB von 30 und das Vorliegen einer dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit wegen der Funktionsstörungen ...operierter Bandscheibenvorfall mit Restbeschwerden Postnukleotomie-Syndrom" festgestellt. Im Oktober 2000 beantragte der Kläger bei dem VA Oldenburg die Feststellung eines höheren GdB sowie der Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches der erheblichen Gehbehinderung (Merkzeichen ...G"). Nach Beiziehung von Befundberichten der behandelnden Ärzte des Klägers lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 14. März 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juli 2001 den Antrag ab. Eine wesentliche Änderung der der bestandskräftigen Feststellung zu Grunde liegenden tatsächlichen Verhältnisse sei nicht eingetreten.
Dagegen hat der Kläger Klage bei dem Sozialgericht (SG) Oldenburg erhoben und die Anerkennung eines höheren GdB und zunächst auch des streitigen Merkzeichens begehrt. Zur Begründung hat er insbesondere auf die nach der Bandscheibenoperation verbliebenen Folgen verwiesen. Das SG hat den Kläger von Dr. G. auf orthopädischem Fachgebiet begutachten lassen und sodann die Klage mit Urteil vom 13. November 2001 abgewiesen. Eine wesentliche Änderung gegenüber dem Zustand von 1998 sei nicht eingetreten. Ein GdB von 40 sei erst bei einem außergewöhnlichen Schmerzsyndrom gerechtfertigt, das aber auch Dr. G. nicht habe feststellen können.
Gegen das ihm am 20. November 2001 zugestellte Urteil wendet sich die vorliegende am 11. Dezember 2001 bei dem Landessozialgericht eingegangene Berufung des Klägers, mit der er nur noch die Feststellung eines höheren GdB begehrt. Nachdem der Beklagte sich mit Schriftsatz vom 2. April 2002 bereit erklärt hatte, einen GdB von 40 seit dem 13. November 2001 festzustellen, führt der Kläger zur weiter gehenden Begründung insbesondere aus, ein GdB von mehr als 40 sei im Hinblick auf die Narbenbildung, die Segmentinstabilität und die Hüftbeugeschwäche links auch ohne die Annahme eines außergewöhnlichen Schmerzsyndroms gerechtfertigt.
Der Kläger beantragt,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 13. November 2001 aufzuheben und den Bescheid des Versorgungsamtes Oldenburg vom 14. März 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesversorgungsamtes Niedersachsen vom 19. Juli 2001 in der Fassung des Teilanerkenntnisses vom 2. April 2002 zu ändern,
- 2.
den Beklagten zu verurteilen, bei ihm einen GdB von 50 seit Oktober 2000 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen, soweit sie über das Teilanerkenntnis vom 2. April 2002 hinausgeht.
Er hält die angegriffenen Bescheide in der Fassung des Teilanerkenntnisses für zutreffend und sieht sich in dieser Auffassung durch das Ergebnis der Beweisaufnahme bestätigt.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes hat der Senat weitere medizinische Unterlagen und Berichte von Dr. H. beigezogen und den Kläger außerdem von Dr. I. auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet begutachten lassen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die genannten Unterlagen Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand des angegriffenen Urteils, den sonstigen Aktenhalt sowie auf den Inhalt der des Versorgungsamtes Oldenburg, Aktenzeichen 72-2728 0 Bezug genommen. Die genannten Akten haben der Entscheidungsfindung zu Grunde gelegen.
Die Beteiligten sind darauf hingewiesen worden, dass der Senat beabsichtige, über die Berufung durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 SGG zu entscheiden. Sie haben insoweit Gelegenheit zur Stellungnahme gehabt.
III.
Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Gegenstand des Rechtsstreites ist nach dem von dem Beklagten im Berufungsverfahren abgegebenen und vom Kläger angenommenen Teilanerkenntnis nur noch die Frage, ob bei dem Kläger ein GdB von mehr als 40 vorliegt. Davon ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme beider Instanzen nicht auszugehen.
Ohne dass sich dadurch wesentliche materiell-rechtliche Änderungen ergeben, ist der Anspruch des Klägers inzwischen anhand der Vorschriften des Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) zu beurteilen, das an die Stelle des aufgehobenen Schwerbehindertengesetzes getreten ist. Gemäß § 69 Abs. 1 SGB IX sind die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Maßgabe der im Rahmen des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes festgelegten Maßstäbe als GdB festzustellen. Die Einschätzung sowohl der Einzelgrade als auch des Gesamtgrades der Behinderung erfolgt nach Maßgabe der ...Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" in der aktuell gültigen Fassung von 1996 (AHP 1996). Diese wirken rechtsnormähnlich und sind daher zu berücksichtigen (vgl. etwa Bundessozialgericht, Urteil vom 23. Juni 1993, Az: 9/9a RVs 1/91, SozR 3-3870 § 4 Nr. 6; Urteil vom 11. Oktober 1994, Az: 9 RVs 1/93, SozR 3-3870 § 3 Nr. 5; Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 6. März 1995, Az: 1 BvR 60/95, SozR 3-3870 § 3 Nr. 6).
Nach diesen Maßstäben steht dem Kläger ein höherer GdB als 40 nicht zu. Soweit der Beklagte die Veränderungen an der Lendenwirbelsäule des Klägers nebst den Operationsfolgen mit einem GdB von 40 bewertet, ist damit bereits ein außergewöhnliches Schmerzsyndrom erfasst. Das SG hat zu Recht darauf hingewiesen, dass allein die funktionellen Störungen in einem Wirbelsäulenabschnitt höchstens mit einem GdB von 30 bemessen werden können. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die zutreffenden Ausführungen in dem angefochtenen Urteil Bezug genommen, § 153 Abs. 2 SGG.
Die von dem Kläger darüber hinaus geltend gemachte Hüftgelenksbeugeschwäche bedingt keine zusätzlich zu berücksichtigende Behinderung. Dr. J. hat in seinem Arztbrief vom 22. Oktober 2001 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Hüftgelenksbeweglichkeit anlässlich seiner Untersuchung unauffällig gewesen ist. Die Beugeschwäche sei wahrscheinlich algogen. Ihre Bewertung ist in der Berücksichtigung des von der Lendenwirbelsäule ausgehenden Schmerzsyndroms enthalten. Der Senat hat keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beugeschwäche so gravierend ausgeprägt wäre, dass sie die Vergabe eines eigenständigen Einzelgrades der Behinderung erforderte. Weder Dr. G. noch Dr. I. haben dergleichen berichtet.
Weitere etwa zu berücksichtigende Gesundheitsstörungen liegen bei dem Kläger nicht vor. Der von Dr. H. in dem Befundbericht vom 20. Oktober 2002 geäußerte Verdacht auf das Vorliegen psychiatrischer Erkrankungen hat sich in der deshalb durchgeführten Begutachtung auf diesem Fachgebiet nicht bestätigt. Auch liegt bei dem Kläger keine somatoforme Schmerzstörung vor. Die diesbezügliche Einschätzung durch die Sachverständige Dr. I. überzeugt auch den Senat. Sie hat nämlich zu Recht darauf hingewiesen, dass eine derartige Erkrankung definitionsgemäß voraussetzt, dass für die geklagten Beschwerden organische Korrelate nicht vorliegen, vgl. ICD 10, F 45.4. Gerade so ist die Situation bei dem Kläger aber nicht. Vielmehr sind die morphologischen Veränderungen im Bereich seiner Lendenwirbelsäule als körperliche Ursache des Schmerzsyndroms anzuschuldigen. Bei dem Kläger liegt lediglich insoweit eine gestörte Schmerzverarbeitung vor, als er den Einfluss von psychischen Faktoren auf vorhandene Beschwerden und insbesondere Schmerzen kaum akzeptiert und deshalb an der Bewältigung der Schmerzen nicht in dem gebotenen Umfang mitarbeitet.
Nur ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass auch bei dem Vorliegen einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung ein höherer Grad der Behinderung nicht gerechtfertigt wäre. Hätten die Schmerzen des Klägers keine körperliche Ursache, so wäre der Einzelgrad der Behinderung für die Funktionsstörung der Lendenwirbelsäule allein nach den funktionellen Ausfällen zu vergeben. Wenn sich andererseits eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung bei ihm so auswirkte, als hätte er ein außergewöhnliches Schmerzsyndrom der Wirbelsäule, so würde er bei der Bildung des Gesamtgrades der Behinderung letztlich auch nur so zu stellen sein, als hätte er zusätzlich zu der Funktionsstörung der Lendenwirbelsäule ein außergewöhnliches Schmerzsyndrom.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der §§ 183, 193 SGG.
Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG.