Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 20.05.2003, Az.: L 6 U 460/01

Zahlung von Verletztenrente wegen der Erkrankung an einer Berufskrankheit; Beschäftigung als Maler und Maurer in einem Bauunternehmen; Kontakt mit Holzschutzmitteln, Eternit und Rhepanol; Erkrankung an chronisch-obstruktiver Bronchitis, Rhinitis, Augentränen und Schwindel; Voraussetzungen der Berufskrankheiten Nrn. 1317 und 1302 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV); Nachweis einer Erkrankung an Polyneuropathie bzw. Enzephalopathie und einer Erkrankung durch Halogenkohlenwasserstoffe

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
20.05.2003
Aktenzeichen
L 6 U 460/01
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 21111
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0520.L6U460.01.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Aurich - 30.10.2001 - AZ: S 3 U 119/98

Redaktioneller Leitsatz

Die Gesundheitsstörungen Polyneuropathie und Enzephalopathie sind erst dann als bewiesen anzusehen bei einem so hohen Wahrscheinlichkeitsgrad, dass bei einem Abwägen aller Umstände des Einzelfalles kein vernünftiger, die Lebensverhältnisse klar überschauender Mensch an ihrem Vorliegen mehr zweifelt.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 30. Oktober 2001 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

1

I.

Der Kläger erstrebt die Feststellung, dass seine Beschwerden - Missempfindungen und Kribbeln in den Beinen, Schwindelerscheinungen, Antriebsarmut, Gedächtnisstörungen (seine Angaben gegenüber Prof. Dr. C.) - Folgen der Berufskrankheit (BK) Nrn. 1302 (Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe) oder 1317 (Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische) der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) sind. Außerdem begehrt er die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Verletztenrente.

2

Der im August 1936 geborene Kläger war zunächst als Schiffsjunge, Arbeiter, Schweißer und Bauhelfer bei verschiedenen Arbeitgebern tätig. Von 1964 bis 1982 war er bei dem Bauunternehmen Hockmann als Maler und Maurer beschäftigt (Auskunft der Firma D. vom 16. Juni 1993; Bericht des technischen Aufsichtsdienstes (TAD) vom 3. August 1993). Dort hatte er u.a. Kontakt mit Holzschutzmitteln, Eternit und Rhepanol (Auskunft der Firma D. vom 21. August 1992). Nach den Ermittlungen des TAD war er auch bei anderen Arbeitgebern gesundheitsgefährdenden Stoffen, u.a. Holzschutzfarben, ausgesetzt (Bericht des TAD vom 3. August 1993). Seit 1983 war er arbeitslos, seit 1984 bezieht er Rente wegen Berufsunfähigkeit, seit 1987 wegen Erwerbsunfähigkeit (Angaben des Klägers gegenüber Dr. E., MDKN-Gutachten vom August 1987).

3

Im September 1992 machte der Kläger geltend, dass der Umgang mit den giftigen Substanzen in der Baubranche zu einer Schädigung des Zentralnervensystems und zu einem Bronchialleiden mit Asthma geführt habe. Im Februar 1993 erstattete Dr. F. die BK-Anzeige. Der Kläger stehe seit 1985 bei ihm wegen einer Vielzahl von Erkrankungen, u.a. wegen Sensibilitätsstörungen (polyneuropathieähnlich), in Behandlung. Er führte eine chronisch-obstruktive Bronchitis, eine Rhinitis, Augentränen und Schwindel auf den Umgang mit PCP und Lindan zurück (BK-Anzeige vom Februar 1993; Berichte vom 5. August 1994 und 1. November 1994).

4

Bereits im Mai 1979 hatte der Kläger häufigere Schwindelanfälle angegeben (Bericht des Dr. G., vom 15. Mai 1979). Im Rahmen einer stationären Behandlung im Sommer 1987 wurden diese auf eine wahrscheinlich cerebro-vasculäre Ursache zurückgeführt und weiterhin eine chronisch-obstruktive Bronchitis diagnostiziert (Bericht des Prof. Dr. H., vom 9. Juli 1987). Erkrankungen durch Toluol konnten bei Untersuchungen im Jahre 1981 nicht festgestellt werden (Bericht des Dr. I. vom 6. Juli 1981). Im September 1992 teilte der Kläger dem Neurologen J. mit, seit 2 - 3 Jahren unter Schwindel zu leiden, die allmählich zunähmen. Der Neurologe hielt die Gleichgewichtsstörungen für vereinbar mit einer cerebralen Schädigung, bedingt durch ein Schlaf-Apnoe-Syndrom (Bericht vom 25. September 1992). Wegen des Verdachts auf hämorrhagischen Insult erfolgte im September/Oktober 1993 eine stationäre Behandlung des Klägers (Entlassungsbericht des K. vom 30. September 1993; Bericht des L. vom 25. Oktober 1993). Der Arzt für innere Medizin Dr. M. führte in seinem Gutachten vom 3. Januar 1994 die chronisch obstruktive Bronchitis mangels arbeitsplatzbezogener Beschwerden nicht auf eine berufliche Exposition zurück. Zudem bedinge die geringe Funktionseinschränkung keine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vH. Zur Abklärung der Ursache der cerebro-vasculären Beschwerden empfahl er angesichts der anlagebedingten Risikofaktoren - Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörung, Übergewicht - eine neurologische Begutachtung. Daraufhin zog die Beklagte das Vorerkrankungsverzeichnis der AOK, den Bericht des Neurologen N. vom 24. April 1981, die Behandlungsunterlagen des Dr. O. und den Bericht des Neurologen J. vom 9. Mai 1994 bei. Auf Grund der Stellungnahme des Landesgewerbearztes Dr. P. vom 14. März 1995 veranlasste die Beklagte ein neurologisches Gutachten des Prof. Dr. Q. vom 11. Mai 1996 mit elektroenzephalographischen, elektromyografischen und elektroneurografischen Zusatzgutachten des PD Dr. R. vom 12. April 1996. Prof. Dr. C. fand neurologisch keine wesentliche organische Störung. Die Beschwerden des Klägers seien nicht auf eine berufliche Exposition zurückzuführen, weil sie nach Beendigung der Berufstätigkeit nicht zurückgegangen seien, sondern vielmehr zugenommen hätten und die neuropsychologische, testpsychologische und neurophysiologische Untersuchung keine Hinweise auf Störungen des zentralen oder peripheren Nervensystems ergeben habe. Nachdem Dr. P. (Stellungnahme vom 18. Dezember 1996) und Dr. S. (Stellungnahme vom 6. Februar 1997) dieser Beurteilung zustimmten, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 30. April 1997 die Anerkennung der BK Nr. 1302 ab. Die Erkrankung des Klägers sei nicht auf den beruflichen Umgang mit Lösungsmittel zurückzuführen.

5

Im Widerspruchsverfahren legte der Kläger die Berichte des Neurologen J. vom 3. August 1997, 16. November 1997 und 4. Juni 1998 vor. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 1. Juli 1998 zurückgewiesen.

6

Hiergegen hat der Kläger am 14. Juli 1998 Klage erhoben und die Anerkennung der BKen Nrn. 1302, 1303 und 1317 begehrt. Prof. Dr. C. sei den Besonderheiten seines Falles nicht gerecht geworden. Von Bedeutung sei, dass er von 1964 bis 1983 über einen Zeitraum von 20 Jahren Gemischen von Halogenkohlenwasserstoffen ausgesetzt gewesen sei, die alle neurotoxische Wirkung hätten. Zu bedenken sei, dass selbst längere Zeit nach Wegfall der Exposition gegenüber Benzol und seinen Homologen Toluol und Xylol noch Blutbildveränderungen auftreten können. Auf Antrag des Klägers ist das beim Sozialgericht (SG) Aurich am 10. Januar 2001 eingegangene Gutachten des praktischen Arztes T. vom 10. Januar 2000 nebst molekulargenetischer Untersuchungen des Prof. Dr. U. vom 31. März 2000 und einer SPECT-Untersuchung des Radiologen Dr. V. vom 19. Januar 2000 eingeholt worden. Das SG Aurich hat mit Urteil vom 30. Oktober 2001 die Klage abgewiesen: Zwar sei der Kläger über 10 Jahre einer Reihe von toxischen Stoffen ausgesetzt gewesen. Eine Erkrankung des zentralen oder peripheren Nervensystems, die dieser Exposition zugeordnet werden könnte, sei beim Kläger jedoch nicht eindeutig festgestellt worden. Die von Prof. Dr. W. durchgeführten Untersuchungen hätten keine Hinweise auf eine cerebrale Funktionsstörung, eine Herdstörung oder weitere Störungen des zentralen oder peripheren Nervensystems ergeben. Zudem spreche der vom Kläger angegebene Verlauf gegen den beruflichen Zusammenhang. Nach derzeitiger Erkenntnis entwickelten sich lösungsmittelbedingte Polyneuropathien oder Enzephalopathien nach Beendigung der beruflichen Exposition zurück oder stagnierten jedenfalls. Der Kläger aber habe über eine stetige Zunahme seiner Beschwerden berichtet. Die anders lautende Einschätzung des Sachverständigen T. entspreche nicht der derzeit herrschenden medizinischen Lehrmeinung. Deshalb habe sich die Kammer ihm nicht anschließen können. Die BK Nr. 1317 scheitere im Übrigen auch an der Rückwirkungsvorschrift des § 6 Abs. 1 BKV in der Fassung vom 31. Oktober 1997. Danach seien eine Polyneuropathie oder Enzephalopathie nur dann als BK anzuerkennen, wenn sie nach dem 31. Dezember 1992 eingetreten seien. Selbst wenn bei dem Kläger eine solche Erkrankung vorläge - wovon die Kammer aber nicht ausgehe - scheitere die Anerkennung daran, dass sie vor diesem Stichtag aufgetreten sei.

7

Gegen das ihm am 26. November 2001 zugestellte Urteil hat der Kläger am 18. Dezember 2001 Berufung eingelegt. Er stützt sein Begehren auf das Gutachten des Arztes T ... Die Einschätzung, dass seine Beschwerden nach Berufsaufgabe zugenommen hätten, beruhe auf seiner subjektiven Empfindung, die kein Maßstab für die Beurteilung sei. Entscheidend sei, dass die objektiven Untersuchungsbefunde durchgehend einheitlich beschrieben worden seien.

8

Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    das Urteil des SG Aurich vom 30. Oktober 2001 und den Bescheid der Beklagten vom 30. April 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juli 1998 aufzuheben,

  2. 2.

    festzustellen, dass seine Beschwerden Folgen einer Berufskrankheit Nr. 1302 oder Nr. 1317 der Anlage zur BKV sind,

  3. 3.

    die Beklagte zu verurteilen, ihm Verletztenrente in Höhe von 20 v.H. der Vollrente zu zahlen.

9

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Aurich vom 30. Oktober 2001 zurückzuweisen.

10

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

11

Mit Verfügung der Berichterstatterin vom 13. Januar 2003 ist den Beteiligten mitgeteilt worden, dass der Senat die Berufung für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält und deshalb beabsichtigt, die Berufung durch Beschluss zurückzuweisen.

12

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten und die Gerichtsakte Bezug genommen, die Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung gewesen sind.

13

II.

Die statthafte Berufung ist zulässig. Sie ist aber unbegründet. Das SG Aurich hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass seine Beschwerden als Folge einer BK Nr. 1302 oder 1317 der Anlage zur BKV anerkannt werden. Aus diesem Grunde hat er auch keinen Anspruch auf Verletztenrente nach den auf diesen Sachverhalt noch anwendbaren §§ 551, 581 Reichsversicherungsordnung (RVO, vgl. Art 36 Unfallversicherungsneuordnungsgesetz, § 212 SGB VII).

14

Der Kläger erfüllt nicht die Voraussetzungen der BK Nr. 1317 - Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische - der Anlage zur BKV. Zwar war er während seiner Berufstätigkeit toxischen Lösungsmitteln ausgesetzt. Dieser Umstand allein rechtfertigt aber nicht bereits die Anerkennung einer BK. Vielmehr muss weiterhin eine Gesundheitsstörung vorliegen, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf diese toxischen Einwirkungen zurückzuführen ist. Daran fehlt es beim Kläger. Es lässt sich nicht im Wege des erforderlichen Vollbeweises feststellen, dass er an einer Polyneuropathie oder Enzephalopathie leidet. Diese Gesundheitsstörungen sind erst dann als bewiesen anzusehen bei einem so hohen Wahrscheinlichkeitsgrad, dass bei einem Abwägen aller Umstände des Einzelfalles kein vernünftiger, die Lebensverhältnisse klar überschauender Mensch an ihrem Vorliegen mehr zweifelt (vgl BSGE 32, 203 ff sowie BSG, Urteil vom 27. März 1990, 2 RU 45/89). Zweifel am Vorliegen dieser Gesundheitsstörungen beim Kläger bestehen auf Grund der Tatsache, dass - abgesehen von dem Arzt T. - keiner der zahlreichen, den Kläger seit 1979 behandelnden Ärzte eine entsprechende Diagnose gestellt hat. Auch der Neurologe J. hat wie die Gutachter Prof. Dr. W. neurologisch keine pathologischen Befunde erhoben und deshalb auch keine entsprechende Diagnose mitgeteilt. Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus den vom Kläger überreichten Arztbriefen des Neurologen J. vom Herbst 1997. In diesem Zeitraum hat der Arzt nur den Verdacht auf eine Polyneuropathie (Berichte vom 3. August 1997 und 4. Juni 1998) geäußert oder diese für möglich gehalten (Bericht vom 16. November 1997). Der neurologische Befund war jedoch wie zuvor unauffällig, und die Beschwerden hat der Neurologe J. als unspezifisch bezeichnet. Angesichts dessen vermochte sich der Senat - wie schon zuvor auch das SG Aurich - nicht der Beurteilung des Arztes T. anschließen. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die zutreffenden Ausführungen im Urteil des SG Aurich verwiesen (§ 142 Abs. 2 S. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

15

Aus den gleichen Gründen erfüllt der Kläger auch nicht die Voraussetzungen der BK Nr. 1302 - Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe. Denn es lässt sich im Wege des Vollbeweises keine Gesundheitsstörung feststellen, die zu dieser Listenerkrankung zählt. Für die vom Kläger geltend gemachten Beschwerden sind in erster Linie Krankheiten des zentralen Nervensystems (wie eine Polyneuropathie oder eine Enzephalopathie) in Betracht zu ziehen. Diese Erkrankungen aber liegen bei dem Kläger - wie bereits ausgeführt - nach den Feststellungen der Gutachter Prof. Dr. W. nicht vor.

16

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

17

Es liegt kein Grund vor, die Revision zuzulassen ( § 160 Abs. 2 SGG).