Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 19.05.2003, Az.: L 13 B 48/02 SB

Übernahme von Sachverständigenkosten; Vorsorgliche Aufklärung eines voraussichtlich nicht entscheidungserheblichen Sachverhalts; Sachgerechte Interessenwahrnehmungen in sozialgerichtlichen Verfahren

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
19.05.2003
Aktenzeichen
L 13 B 48/02 SB
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 15105
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0519.L13B48.02SB.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Bremen - 20.11.2002 - AZ: S 28 SB 85/99

Redaktioneller Leitsatz

Eine Kostenübernahme nach § 109 SGG (Sozialgerichtsgesetz) kann auch bei verfahrensrechtlich unrichtiger Sachbehandlung durch das Gericht geboten sein, insoweit muss der Rechtsgedanke des § 190 Abs. 1 Satz 1 SGG entsprechend angewendet werden, gemäß dessen ist die Niederschlagung einer Gebühr möglich, die durch unrichtige Behandlung der Sache ohne Schuld der gebührenpflichtigen Beteiligten entstanden ist.

Tenor:

Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Bremen vom 20. November 2002 geändert.

Die Kosten für die Sachverständigengutachten des Orthopäden F. vom 15. September 2000 und des Internisten Prof. Dr. G. vom 13. Juni 2002 werden zur Hälfte auf die Staatskasse übernommen.

Gründe

1

I.

Die Klägerin wandte sich in der Hauptsache gegen einen Bescheid vom 10. August 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Februar 1999, mit dem die Beklagte den Grad der Behinderung (GdB) von 60 auf 30 herabgesetzt hatte.

2

Bei der Klägerin war u.a. wegen einer Brustkrebserkrankung im Stadium der Heilungsbewährung ein GdB von 60 festgestellt. Im Rahmen einer im Februar 1998 von Amts wegen eingeleiteten Überprüfung zog die Beklagte verschiedene medizinische Unterlagen bei. Mit Schreiben vom 14. Mai 1998 hörte sie die Klägerin im Hinblick auf eine beabsichtigte Herabsetzung des GdB an. Sie teilte ihr mit, hinsichtlich des operierten Brustdrüsenleidens sei der Heilungsbewährungszeitraum komplikationslos abgelaufen, sodass der GdB nunmehr den tatsächlichen Verhältnissen anzupassen sei. Nach Beiziehung eines weiteren Befundberichts des behandelnden Frauenarztes erteilte die Beklagte den angefochtenen Bescheid vom 10. August 1998, mit dem sie ab dem 1. September 1998 einen GdB von 30 feststellte. Zur Begründung gab sie an, nach dem Ergebnis der eingeholten ärztlichen Befunde sei die Heilungsbewährungszeit positiv verlaufen. Die Einwendungen im Anhörungsverfahren und der zusätzlich eingeholte frauenärztliche Befundbericht hätten zu keiner anderen Entscheidung geführt.

3

Im anschließenden Widerspruchsverfahren teilte die Beklagte der Klägerin mit Schreiben vom 17. Dezember 1998 ergänzend mit, im Neufeststellungsverfahren seien u.a. Befundberichte des Frauenarztes vom 28. Februar und 25. Juli 1998 herangezogen worden. Nach dem Ergebnis der Auswertung dieser Unterlagen sei die Heilungsbewährungszeit positiv verlaufen. Es werde nach dem gegenwärtigen Sachstand keine Möglichkeit gesehen, dem Widerspruch abzuhelfen. Bevor eine abschließende Entscheidung getroffen werde, erhalte die Klägerin nochmals Gelegenheit zur Äußerung. Mit Widerspruchsbescheid vom 11. Februar 1999 wies die Beklagte den Widerspruch sodann als unbegründet zurück.

4

Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) Bremen den medizinischen Sachverhalt von Amts wegen durch Beiziehung von Befundberichten aufgeklärt. Sodann hat es auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zwei Sachverständigengutachten eingeholt (Beweisanordnungen vom 5. Mai 2000 und 5. Februar 2002). In der mündlichen Verhandlung am 15. November 2002 hat der Vorsitzende darauf hingewiesen, »dass die hier erfolgte Anhörung wohl nicht als ordnungsgemäß angesehen werden« könne. Daraufhin hat der Vertreter der Beklagten die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat dieses Anerkenntnis angenommen und beantragt, die Kosten für die eingeholten Sachverständigengutachten auf die Staatskasse zu übernehmen.

5

Mit Beschluss vom 20. November 2002 hat das SG diesen Antrag abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt, die nach § 109 SGG eingeholten Gutachten hätten nicht zur Meinungsbildung des Gerichts beigetragen. Die angefochtenen Bescheide seien wegen nicht ordnungsgemäß durchgeführter Anhörung formell rechtswidrig gewesen. Zu dieser rein rechtlichen Einschätzung hätten die ärztlichen Gutachten nichts beigetragen.

6

Gegen den ihr am 29. November 2002 zugestellten Beschluss hat die Klägerin am 9. Dezember 2002 Beschwerde erhoben. Zur Begründung hat sie vorgetragen, die Kosten für die Gutachten seien auf die Staatskasse zu übernehmen, da sie bei sachgerechter Handhabung des Rechtsstreits durch das SG nicht hätten eingeholt werden müssen. Vielmehr hätte das SG bereits bei Klageeingang den Hinweis erteilen können, dass es an der Anhörung fehle und der Neufeststellungsbescheid bereits aus diesem Grund rechtswidrig sei.

7

Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die hier entscheidende Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Umfang einer Anhörung habe bei Klageerhebung noch nicht existiert und habe daher auch nicht berücksichtigt werden können. Im Übrigen sei die Frage, ob die Anhörung als ausreichend anzusehen sei, nicht allein vom Vorsitzenden, sondern in der mündlichen Verhandlung von der Kammer zu entscheiden gewesen. Es könne daher nicht falsch gewesen sein, zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung auch den medizinischen Sachverhalt aufzuklären. Ferner hätten die Anträge nach § 109 SGG bei sachgerechter Rechtsverfolgung gar nicht gestellt werden dürfen. Der durch eine zugelassene Rechtsanwältin vertretenen Klägerin sei es zuzumuten gewesen, auch die formelle Rechtmäßigkeit der Bescheide zu überprüfen, zu diesem Zweck Einsicht in die Behördenakten zu nehmen und entsprechend in der Klagebegründung vorzutragen.

8

Die Klägerin beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Bremen vom 20. November 2002 aufzuheben und die Kosten für die Gutachten des Orthopäden F. vom 15. September 2000 und des Prof. Dr. G. vom 13. Juni 2002 auf die Staatskasse zu übernehmen.

9

Die Beklagte beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

10

Die Verwaltungsakte der Beklagten - Antr.List.Nr. 618921 - und die Gerichtsakte - L 13 B 48/02 SB (S 28 SB 85/99) - sind Gegenstand der Beschlussfassung gewesen.

11

II.

Die zulässige Beschwerde ist teilweise begründet.

12

Das SG hat die Übernahme der Kosten für die nach § 109 SGG eingeholten Sachverständigengutachten auf die Staatskasse zu Unrecht insgesamt abgelehnt. Die Übernahme der Hälfte der Kosten ist gerechtfertigt. Zwar sind die Gutachten für die Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts nicht von Bedeutung und damit für die Rechtsfindung auch nicht erforderlich gewesen. Denn die angefochtenen Bescheide waren bereits formell rechtswidrig, sodass eine Aufklärung des medizinischen Sachverhalts zur Überprüfung ihrer materiellen Rechtmäßigkeit nicht notwendig war.

13

Eine Kostenübernahme nach § 109 SGG kann allerdings auch bei verfahrensrechtlich unrichtiger Sachbehandlung durch das Gericht geboten sein (so auch Landessozialgericht - LSG - Rheinland-Pfalz, Breithaupt 1986, 454). Insoweit kann der Rechtsgedanke des § 190 Abs. 1 Satz 1 SGG entsprechend angewendet werden. Diese Vorschrift lässt die Niederschlagung einer Gebühr zu, die durch unrichtige Behandlung der Sache ohne Schuld der gebührenpflichtigen Beteiligten entstanden ist.

14

Bei richtiger Sachbehandlung hätte das SG die Beweisanordnungen vom 5. Mai 2000 und 5. Februar 2002 nicht erlassen dürfen. Denn ein Antrag nach § 109 SGG ist abzulehnen, wenn es auf den Umstand, zu dem der medizinische Sachverständige Stellung nehmen soll, nicht ankommt (Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl., § 109 Rdnr. 10a). Das war hier der Fall. Auch bereits zum Zeitpunkt der ersten Beweisanordnung vom 5. Mai 2000 war durch die Rechtsprechung des BSG (Urteile vom 25.3. und 28.04.1999, Az. B 9 SB 14/97 R und B 9 SB 5/98 R, SozR 3-1300 § 24 Nr. 14 und 15) geklärt, dass vor Erlass eines Herabsetzungsbescheides dem Betroffenen das Ergebnis eines eingeholten Befundberichts und der Name des Arztes, der diesen erstattet hat, mitzuteilen sind. Das war hier nicht geschehen. Bis zum Erlass der letzten Verwaltungsentscheidung (Widerspruchsbescheid vom 11. Februar 1999) hatte die Beklagte die Klägerin nicht vollständig darüber informiert, welche medizinischen Unterlagen sie beigezogen hatte und welchen wesentlichen Inhalt diese hatten.

15

Vor diesem Hintergrund hätten die Anträge der Klägerin nach § 109 SGG abgelehnt werden müssen. Die offenbar ohne nähere Prüfung der Sach- und Rechtslage erfolgte Einholung der Gutachten lässt sich auch nicht mit der Erwägung nachträglich rechtfertigen, dass die Kammer hinsichtlich der formellen Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide in der mündlichen Verhandlung möglicherweise zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre als der Vorsitzende im vorbereitenden Verfahren. Eine solche vorsorgliche Aufklärung eines voraussichtlich nicht entscheidungserheblichen Sachverhalts lässt sich bereits aus fiskalischen Gründen nicht rechtfertigen.

16

Diese verfahrensrechtlich unrichtige Sachbehandlung des SG führt allerdings nur zur Übernahme der Hälfte der Gutachtenkosten auf die Staatskasse. Denn es liegt ein Mitverschulden seitens der anwaltlich vertretenen Klägerin vor, das hier in entsprechender Anwendung des § 190 Abs. 1 Satz 1 SGG bei der nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffenden Entscheidung nach § 109 SGG zu berücksichtigen ist. Zu einer sachgerechten Interessenwahrnehmung im sozialgerichtlichen Verfahren gehört es, die mit der Klage angefochtenen Bescheide einer Überprüfung in formeller wie in materieller Hinsicht unter Berücksichtigung der aktuellen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu unterziehen. Dazu wird in der Regel die Einsicht in die Behördenakten erforderlich sein. Dieses gilt insbesondere dann, wenn es - wie bei einer Anfechtungsklage gegen einen Herabsetzungsbescheid - entscheidend auch auf die Einhaltung verfahrensrechtlicher Vorschriften seitens der Behörde ankommt. Vorliegend befasst sich die Klagebegründung, die ohne vorherige Akteneinsicht erstellt worden ist, ausschließlich mit dem medizinischen Sachverhalt und damit mit der materiellen Rechtmäßigkeit des angefochtenen Herabsetzungsbescheides. Die hier unnötig entstandenen Kosten für zwei Sachverständigengutachten in nicht unerheblicher Höhe hätten dadurch vermieden werden können, dass die sich bei näherer Überprüfung ergebenden Bedenken hinsichtlich der formellen Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide vorgebracht und die Anträge nach § 109 SGG nur hilfsweise gestellt worden wären.

17

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).