Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 24.05.2003, Az.: L 9 SB 151/01

Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) von 50 und Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Gehbehinderung) bzw. "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung); Antrag auf Neufeststellung wegen wesentlicher Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen; Zeitpunkt des Eintritts und Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigung durch eine Wirbelsäulenerkrankung; Voraussetzungen der "erheblichen Gehbehinderung" (Merkzeichen "G")

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
24.05.2003
Aktenzeichen
L 9 SB 151/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 21145
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0524.L9SB151.01.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hildesheim - 17.09.2001 - AZ: S 17 SB 304/00

Redaktioneller Leitsatz

Wer ortsübliche Wegstrecken von ca. 2 km noch innerhalb von 30 Minuten zurückzulegen kann, bei dem ist die Gehfähigkeit nicht derart eingeschränkt, dass eine "erhebliche Gehbehinderung" (Merkzeichen "G") gegeben ist.

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Der Berufungskläger begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung - GdB - von 50 und die Zuerkennung des Merkzeichens "G" bereits seit Antragstellung im Oktober 1997 sowie die Zuerkennung des Merkzeichens "aG".

2

Mit letztem maßgeblichen Bescheid vom 20. Juni 1997 stellte das Versorgungsamt (VA) Braunschweig - Außenstelle Hildesheim - bei dem 1952 geborenen Berufungskläger einen GdB von 40 unter Zugrundelegung der nachfolgenden Funktionsbeeinträchtigungen:

1.
inaktive Oberlappentuberkulose beiderseits, Einschränkung der Lungenfunktion,

2.
Residuen nach Polyneuritis,

3.
Fettleber

3

neu fest (Abhilfebescheid vom 20. Juni 1997).

4

Der Berufungskläger stellte beim VA am 7. Oktober 1997 und am 29. Juni 1998 jeweils einen Antrag nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) auf Feststellung eines höheren GdB für die bisher festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen, auf Feststellung weiterer Funktionsbeeinträchtigungen, auf Erhöhung des GdB und auf Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises wegen folgender Funktionsbeeinträchtigungen:

5

Einschränkung der Lungenfunktion, funktionelle Bewegungsstörung, Muskelerkrankung der linken Seite, bronchiale Hyperreagibilität.

6

Auch wies der Berufungskläger darauf hin, dass Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich des rechten Kniegelenkes hinzugetreten seien (Antrag vom 26. Juni 1998). Der Berufungsbeklagte zog Befundberichte diverser den Berufungskläger behandelnder Ärzte bei. Nach Einholung der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. C., der keine signifikante Verschlechterung im Gesundheitszustand des Berufungsklägers feststellte und der als zusätzliche Funktionsbeeinträchtigung des Berufungsklägers eine Belastungsschwäche des rechten Kniegelenkes mit einem verwaltungsinternen und den Gesamt-GdB nicht erhöhenden Einzel-GdB von 10 beschrieb, lehnte der Berufungsbeklagte mit Bescheid vom 19.05.2000 den Antrag auf Neufeststellung mit der Begründung ab, dass keine wesentliche Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen des Berufungsklägers eingetreten sei, der eine Erhöhung des GdB rechtfertige. Außerdem lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des beantragten Merkzeichens "G" nicht vor.

7

Hiergegen legte der Berufungskläger Widerspruch ein. Der Berufungsbeklagte zog weitere Arztunterlagen bei, insbesondere das fachchirurgische Zusammenhangsgutachten des Prof. Dr. D., Georg- August-Universität E. vom 6. Juli 1999, erstattet für die Berufsgenossenschaft der Feinmechanik und Elektrotechnik. Nach Einholung der gutachtlichen versorgungsärztlichen Stellungnahme der Ärztin für Neurologie Dr. F. vom 11. Oktober 2000, die auf Grund dieser Unterlagen ab März 2000 abweichend von der bisherigen Beurteilung den Gesamt-GdB mit 50 bewertete und die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" bejahte - auf der Grundlage einer inaktiven Oberlappen-TBC beiderseits (Einzel-GdB 30), chronische Lumboischialgie, Schulter-Arm-Syndrom beidseits (Einzel-GdB 30), Residuen nach Polyneuritis (Einzel-GdB 20) - stellte das VA mit Abhilfebescheid vom 23. Oktober 2000 bei dem Berufungskläger mit Wirkung vom 1. März 2000 einen GdB von 50 und die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" ebenfalls ab 1. März 2000 fest unter Zugrundelegung folgender Funktionsbeeinträchtigungen:

1.
inaktive Oberlappen-Tuberkulose beidseits (Einzel-GdB 30),

2.
chronische Lumboischialgie, Schulter-Arm-Syndrom beidseits (Einzel-GdB 30),

3.
Residuen nach Polyneuritis (Einzel-GdB 20).

8

Der weiter gehende Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 20. November 2000 zurückgewiesen.

9

Die hiergegen am 1. Dezember 2000 erhobene Klage, mit welcher der Berufungskläger die Feststellung eines GdB von 50 und das Merkzeichen "G" bereits rückwirkend ab Antragstellung am 7. Oktober 1997 und die Feststellung der Voraussetzungen einer außergewöhnlichen Gehbehinderung (Merkzeichen "aG") begehrt, hat das SG Hildesheim nach Einholung der Befundberichte des Arztes G. vom 26. Februar 2001 und des Arztes H. vom 2. März 2001, der Stellungnahme vom 8. Mai 2001 und nach Beiziehen des sozialmedizinischen Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung in Niedersachsen (MDKN) vom 18. April 2000, des Befundbogens des Dr. I. vom 22. Juni 2000 und des Arztbriefes des Orthopäden Dr. J. vom 2. Mai 2001 mit Gerichtsbescheid vom 17. September 2001, auf dessen Entscheidungsgründe verwiesen wird, die Klage abgewiesen mit der Begründung, dass der Berufungskläger keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 und auf Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "G" bereits vor dem 1. März 2000 ab Antragstellung am 7. Oktober 1997 und insbesondere auch keinen Anspruch auf Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "aG" habe.

10

Gegen diesen ihm am 27. September 2001 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Berufungskläger am 12. Oktober 2001 Berufung beim Landessozialgericht Niedersachsen eingelegt und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Bereits in dem Verfahren vor dem SG Hildesheim zu dem Az. S 19 SB 321/97 hat der Arzt für innere Medizin Prof. Dr. K. mit Gutachten vom 30. November 1998 festgestellt, dass der Gesamt-GdB mit 50 festzustellen sei. Hinzu komme seine Funktionsbeeinträchtigung im Bereich des rechten Knies und der rechten Hüfte.

11

Zur weiteren Begründung seiner Berufung hat der Berufungskläger diverse Arztunterlagen eingereicht.

12

Mit Teil-Anerkenntnis vom 18. Januar 2002 hat der Berufungsbeklagte anerkannt, dass die bei dem Berufungskläger vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen ergänzt werden durch "Belastungsschmerzen im Bereich beider Kniegelenke" (Einzel-GdB 10) und "chronisches HWS-Syndrom". Dieses Anerkenntnis hat der Berufungskläger als Teil-Anerkenntnis angenommen.

13

Der Berufungskläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,

  1. 1.

    den Gerichtsbescheid des Sozialgerichtes Hildesheim vom 17. September 2001 aufzuheben und den Bescheid des Versorgungsamtes Braunschweig - Außenstelle Hildesheim - vom 19. Mai 2000 in der Fassung des Abhilfebescheides vom 23. Oktober 2000 und des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 20. November 2000 in der Gestalt des Teil-Anerkenntnisses vom 18. Januar 2002 abzuändern,

  2. 2.

    den Beklagten zu verurteilen, den GdB von 50 und das Merkzeichen "G" rückwirkend bereits ab Oktober 1997 festzustellen und

  3. 3.

    3. den Beklagten zu verurteilen, bei dem Kläger das Vorliegen der Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "außergewöhnliche Gehbehinderung" (Merkzeichen "aG") festzustellen.

14

Der Berufungsbeklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

15

Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid und die angefochtenen Bescheide für zutreffend.

16

Der Senat hat durch seinen Berichterstatter im Termin zur Erörterung des Sachverhaltes und zur Beweisaufnahme vom 18. Januar 2002 den Arzt für Orthopädie Dr. L. als medizinischen Sachverständigen gehört. Hinsichtlich seiner Ausführungen wird auf sein schriftliches Gutachten vom 8. Januar 2002 und auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 18. Januar 2002 Bezug genommen.

17

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Prozessakten des ersten und zweiten Rechtszuges, auf den Inhalt der beigezogenen Prozessakten des SG Hildesheim zu dem Az. S 19 SB 321/97 und S 11 U 138/99/L 6 U 350/00 und auf den Inhalt der Schwerbehindertenakten - Az.: M. - Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

18

Gem. §§ 155 Abs. 4, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat durch seinen Berichterstatter als Einzelrichter im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden.

19

Die gem. § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte und gem. § 143 f SGG statthafte Berufung ist zulässig.

20

Das Rechtsmittel ist jedoch nicht begründet.

21

Der von dem Berufungskläger angefochtene Gerichtsbescheid des SG Hildesheim hat zutreffend die Klage abgewiesen; denn die angefochtenen Bescheide des Berufungsbeklagten sind rechtmäßig. Zu Recht hat der Berufungsbeklagte es abgelehnt festzustellen, dass bei dem Berufungskläger ein GdB und die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" bereits vor dem mit Abhilfebescheid vom 23. Oktober 2000 für einen Zeitraum vor dem 1. März 2000 bereits ab Antragstellung im Oktober 1997 vorliegen. Ebenfalls zutreffend hat der Berufungsbeklagte es abgelehnt, die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" im Falle des Berufungsklägers festzustellen. Der Senat nimmt daher zur Vermeidung von Wiederholungen gem. § 153 Abs. 2 SGG auf die Gründe des angefochtenen Gerichtsbescheides Bezug.

22

Neue Gesichtspunkte, die zu einer abweichenden Entscheidung führen könnten, sind im Berufungsverfahren nicht zu Tage getreten.

23

Soweit der Berufungskläger weiterhin geltend macht, dass die bei ihm bestehenden Funktionsstörungen einen GdB von 50 und die Zuerkennung des Merkzeichens "G" bereits vor dem 1. März 2000 ab Antragstellung im Oktober 1997 bedingen und die Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" gegeben seien, vermag der Senat dem im Ergebnis nicht zu folgen. Dies wird insbesondere bestätigt durch das im Berufungsverfahren eingeholte Gutachten des Arztes für Orthopädie Dr. L. in seinem Gutachten vom 8. Januar 2002 und durch seine gutachtlichen Ausführungen im Termin zur Erörterung des Sachverhaltes und zur Beweisaufnahme vom 18. Januar 2002. Darin hat Dr. L. unzweifelhaft ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die Feststellung eines GdB von 50 nicht bereits im Zeitpunkt der Antragstellung im Oktober 1997 und auch nicht im Zeitpunkt der Bescheiderteilung am 20. Juni 1997 vorgelegen haben. Zu diesen Zeiträumen hat der GdB noch 40 betragen. Die beim Berufungskläger vorliegende Wirbelsäulenerkrankung im Lenden- und Halswirbelsäulenbereich mit einem Einzel-GdB von 30 ist erst im Laufe der Jahre danach aufgetreten und durch die im Widerspruchsverfahren beigezogenen Befundunterlagen der Ärzte für Radiologie Dres. N. vom 17. März 2000, der Rheumaklinik O. GmbH vom 28. März 2000, des Internisten Dr. P. vom 30. März 2000 und durch das sozialmedizinische Gutachten des MDKN vom 18. April 2000 diagnostiziert worden. Auf Grund dieser Befundunterlagen ergibt sich jedoch erst ab März 2000 abweichend von den bisherigen Beurteilungen durch den Berufungsbeklagten ein Gesamt-GdB von 50. Erst auf Grund dieser Befundunterlagen hat sich erstmalig die Funktionsbeeinträchtigung des Berufungsklägers im Bereich seiner Wirbelsäule und seiner Schulter ergeben, die mit einem verwaltungsinternen Einzel-GdB von 30 die Erhöhung des Gesamt-GdB von 40 auf 50 gerechtfertigt hat. Für einen früheren Zeitraum als März 2000 ergeben die beigezogenen Befundunterlagen indes keine Begründung für eine vor diesem Zeitpunkt liegende GdB-Erhöhung von 40 auf 50.

24

Entgegen der Auffassung des Berufungsklägers und des Berufungsbeklagten liegen nach den überzeugenden Ausführungen des Dr. L. auch nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "G" vor - weder für den Zeitpunkt des Termins zur Erörterung des Sachverhaltes und zur mündlichen Verhandlung vom 18. Januar 2002 noch für den Zeitraum ab März 2000 und schon gar nicht für den Zeitraum vor März 2000. Im Falle des Berufungsklägers liegen keinerlei Funktionsbeeinträchtigungen vor, die sich wesentlich auf die Gehfähigkeit des Berufungsklägers beziehen und diese Gehfähigkeit derart einschränken, dass er nicht mehr in der Lage ist, ortsübliche Wegstrecken von ca. 2 km innerhalb von 30 Minuten zurückzulegen. Keine der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen, weder die inaktive Oberlappen-TBC beiderseits und die Lungenfunktionsstörung noch die chronische Lumboischialgie, das chronische HWS-Syndrom mit Schulter-Arm-Syndrom beiderseits und auch nicht die schmerzhafte Belastungsinsuffizienz beider Kniegelenke schränken die Gehfähigkeit des Berufungsklägers derart ein, dass daraus eine Rechtfertigung abzuleiten wäre, eine erhebliche Gehbehinderung anzuerkennen. Da schon die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "erhebliche Gehbehinderung" (Merkzeichen "G") nicht vorliegen, sind selbstverständlich schon gar nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "außergewöhnliche Gehbehinderung" (Merkzeichen "aG") im Falle des Berufungsklägers festzustellen.

25

Zur Vermeidung weiterer Wiederholungen wird ergänzend Bezug genommen auf die überzeugenden Gründe des angefochtenen Gerichtsbescheides.

26

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

27

Gesetzliche Gründe für die Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG haben nicht vorgelegen.