Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 21.05.2003, Az.: L 1 RA 209/02
Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, Berufsunfähigkeit oder verminderter Erwerbsfähigkeit; Geltendmachung internistischer Beschwerden; Nachweis einer Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit in rentenberechtigtem Maße; Vorliegen eines eigenständigen psychiatrischen Krankheitsbildes; Besserungsfähigkeit der psychosomatischen Beschwerdesituation; Rentenberechtigungen aufgrund psychiatrischer Beeinträchtigungen
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 21.05.2003
- Aktenzeichen
- L 1 RA 209/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 21119
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0521.L1RA209.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hildesheim - 27.02.2001 - AZ: S 5 RA 53/01
Rechtsgrundlagen
- § 43 SGB VI a.F.
- § 44 SGB VI a.F.
- § 43 SGB VI
- § 240 SGB VI
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Ist der Antragsteller nicht berufsunfähig, so ist er erst recht nicht erwerbsunfähig, da hierfür noch weiter gehende Leistungseinschränkungen erforderlich sind.
- 2.
Psychiatrischen Beeinträchtigungen dürfen nur dann zur Rentenberechtigung führen, wenn die Erkrankung mit zumutbarer Anspannung der Willenskräfte des Versicherten und unter Ausschöpfung aller therapeutischen Möglichkeiten nicht binnen 26 Wochen überwunden werden kann.
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der Beklagten Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.
Die im Jahre 1955 geborene Klägerin hat den Beruf der Arzthelferin erlernt (1972 - 74) und zunächst ausgeübt, bis der Praxisinhaber (im Jahre 1979) verstarb. Seit 1979 und nach der Scheidung von ihrem ersten Ehemann arbeitete die Klägerin im Hotel- und Gaststättenbetrieb ihres zweiten Ehemannes. Der Betrieb verfügte über Betten, Kegelbahn und Gastronomiebereich. Hier erledigte sie sämtliche anfallende Arbeiten wie Restaurantdienst, Putzarbeiten, Betten machen, Empfang, Angestellte beaufsichtigen oder Staubwischen an 6 Arbeitstagen pro Woche mit 12 bis 15 Arbeitsstunden täglich. Im Jahre 1998 schied sie aus dem Unternehmen ihres Ehemannes aus und pflegte ihren Vater bis zu dessen Tod im Jahre 1999. Seitdem war sie arbeitslos mit Bezug von Arbeitslosengeld, derzeit bezieht sie keine öffentlichen Leistungen mehr. Die Klägerin lebt in dem von ihrem Vater übernommenen Einfamilienhaus.
In gesundheitlicher Hinsicht leidet die Klägerin seit Beginn der 80-er Jahre unter rezidivierenden Bauchhöhlenvereiterungen mit mehrfachen Operationen (1981, 1984, 1989, 1995 - Totaloperation). Daneben bestehen seit vielen Jahren Wirbelsäulenbeschwerden mit Schmerzen im HWS- und LWS-Bereich. Schließlich wurden zuletzt u.a. ein Schulter-Arm-Syndrom, ein beginnendes Carpaltunnel-Syndrom (CTS), eine Arthrose in der Großzehe sowie eine depressive Entwicklung mit Somatisierung diagnostiziert.
Im Mai 2000 stellte die Klägerin den zu diesem Verfahren führenden Antrag auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bzw. Berufsunfähigkeit (EU/BU). Die Beklagte zog zahlreiche medizinische Befundunterlagen bei und ließ die Klägerin untersuchen und begutachten von dem Facharzt für Orthopädie D. und von dem Facharzt für Nervenheilkunde Dr. E ...
Die Sachverständigen kamen zu der übereinstimmenden Einschätzung, dass die Klägerin weiterhin vollschichtig leichte bis kurzfristig mittelschwere Arbeiten in geschlossenen Räumen im Wechsel der Körperhaltung verrichten könne (Gutachten vom 12. Juli 2000 und 8. November 2000). Daraufhin lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 14. August 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Februar 2001 ab.
Mit ihrer hiergegen am 27. Februar 2001 vor dem Sozialgericht (SG) Oldenburg erhobenen Klage hat die Kläger geltend gemacht, dass sie unter massiven Schmerzen vor allem in der Wirbelsäule zu leiden habe, deretwegen sie erhebliche Schmerzmittel zu sich nehme und die eine regelmäßige Erwerbstätigkeit nicht mehr zuließen. Das SG hat einen Befundbericht von dem Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. F. vom 9. August 2001 eingeholt und die Klägerin untersuchen und begutachten lassen von dem Facharzt für Orthopädie Dr. G ... Der Sach-verständige hat in seinem Gutachten vom 20. März 2002 im Einzelnen ausgeführt, dass die Klägerin noch vollschichtig leichte bis gelegentlich mittelschwere Arbeiten überwiegend im Sitzen mit der Möglichkeit zum Haltungswechsel ausführen könne, sofern überwiegend einseitige Körperhaltungen, permanente Arbeiten im Bücken und in der Hocke, Arbeiten unter besonderem Zeitdruck (wie Akkord- und Fließbandarbeiten), unter Gefährdung durch Kälte, Nässe und Zugluft sowie unter besonderen Anforderungen an das Konzentrations- und Reaktionsvermögen ausgeschlossen seien. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 13. August 2002 abgewiesen und zur Begründung im Einzelnen ausgeführt, dass die Klägerin auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar und dort nach dem festgestellten Leistungsvermögen vollschichtig erwerbsfähig sei.
Gegen dieses am 28. August 2002 als Einschreiben zur Post gegebene Urteil richtet sich die am 25. September 2002 eingegangene Berufung, mit der die Kläger ergänzend vorträgt, dass sie auch unter internistischen und psychiatrischen Erkrankungen leide. So habe bereits der im Verwaltungsverfahren gehörte Sachverständige Dr. E. eine Reha-Maßnahme in einer psychosomatischen Fachklinik für erforderlich gehalten.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 13. August 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 14. August 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Februar 2001 aufzuheben,
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, ab dem 1. Juni 2000 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt die angefochtenen Bescheide als zutreffend und bezieht sich zur Begründung ergänzend auf das Urteil des SG.
Der Senat hat im vorbereitenden Verfahren das Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. H. vom 19. Februar 2003 veranlasst, der vollschichtig leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung für weiterhin durchführbar hält.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil des Berichterstatters ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Sie haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte gem. §§ 155 Abse. 4, 3, 1, 153 Abs.1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Urteil des Berichterstatters ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten zuvor hiermit einverstanden erklärt haben.
Die gem. §§ 143f. SGG statthafte und zulässige Berufung ist unbegründet.
Weder das Urteil des SG noch die Bescheide der Beklagten sind zu beanstanden. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente wegen verminderter Leistungsfähigkeit, und zwar weder auf Rente wegen EU/BU nach dem bis zum 31. Dezember 2000 geltenden (§§ 43, 44 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VI - a.F.) noch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach dem seit dem 1. Januar 2001 geltenden Recht (§§ 43, 240 SGB VI n.F.).
Das SG hat in seinem Urteil die maßgeblichen Rechtsgrundlagen herangezogen, richtig angewendet, die gebotenen Ermittlungen angestellt, die erhobenen Beweise überzeugend gewürdigt und ist nach alledem zu dem richtigen Ergebnis gelangt, dass der Klägerin kein Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zusteht. Der Senat schließt sich dieser Beurteilung an und verweist zur Begründung gem. § 153 Abs. 2 SGG zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Entscheidungsgründe des Urteils des SG (Seite 4 letzter Absatz bis Seite 6 zweiter Absatz).
Im Berufungsverfahren hat sich demgegenüber nichts Abweichendes ergeben.
Soweit die Klägerin internistische Beschwerden geltend macht, sind hierzu Anhaltspunkte für eine Erwerbsbeeinträchtigung nicht zu erkennen. Der behandelnde Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. F. hat in seinem Befundbericht vom 9. August 2001 darauf hingewiesen, dass eine Fettstoffwechselstörung mit Leberverfettung medikamentös behandelt wird und im Vordergrund der Beschwerden die orthopädische Situation mit den daraus empfundenen Schmerzen stehe. Diese Einschätzung deckt sich auch mit dem eigenen Vortrag der Klägerin, die internistische Beschwerden erstmals im Berufungsverfahren geltend gemacht, aber während des gesamten übrigen Rentenstreits stets betont hat, dass die Schmerzen im Wirbelsäulenbereich die eigentlich beeinträchtigenden Beschwerden verursachten.
Im Hinblick auf die Wirbelsäule und die von ihr ausgehenden empfundenen Schmerzen hat das vom Senat veranlasste Gutachten des Dr. H. aber die bereits von der Beklagten und dem SG veranlassten Einschätzungen bestätigt und damit ebenfalls nicht den Nachweis einer Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin in rentenberechtigtem Maße erbracht:
Nach den klinischen und neurophysiologischen Untersuchungen des Sachverständigen sind neurologische Beteiligungen namentlich der Wirbelsäule nicht feststellbar. Als schmerzauslösend konnten allein degenerative Veränderungen der HWS und LWS festgestellt werden, die nachvollziehbar eine depressive Verstimmung ausgelöst haben. Ein eigenständiges psychiatrisches Krankheitsbild, namentlich eine Depression, war dem hingegen nicht nachzuweisen. Bei dieser Sachlage ist es für den Senat überzeugend, wenn der Sachverständige - ebenso wie die mehreren Vorgutachter - bei der Klägerin noch vollschichtig leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung für weiterhin durchführbar hält. Die Einschätzung des Sachverständigen deckt sich auch mit den anamnestischen Angaben der Klägerin, nach denen ein für eine Depression typischer Rückzug im Sozialverhalten und bei Freizeitaktivitäten nicht feststellbar ist (Kontakt zu Nachbarn, Freunden, versorgt Enkeltochter, fährt Auto und pflegt Hobbys - Spanisch-Unterricht, Lesen).
Der Senat verkennt nicht, dass die von der Klägerin empfundenen Schmerzen wesentlich stärker sind, als die feststellbaren organischen Korrelate. Ursache hierfür kann eine psycho-somatische Überlagerung sein. Eine solche psychische Überlagerung könnte im Fall der Klägerin aus ihrem bisherigen Privat- und Berufsleben erklärbar sein, in dem sie sich einerseits stets untergeordnet und bis zur persönlichen Erschöpfung aufgeopfert haben dürfte, um die Ansprüche ihrer beiden Ehemänner zu erfüllen sowie - zuletzt - um den todkranken Vater bis zu dessen Ableben zu pflegen, in dem sie andererseits aber das gleichzeitige Verhalten der Ehemänner (Gewalttätigkeiten des ersten, jahrelanges Fremdgehen des zweiten Ehemannes) als verletzend empfunden haben dürfte. Diese psychosomatische Beschwerdesituation, die bereits nicht zur Erwerbsminderung führt, ist zudem besserungsfähig. So haben sowohl der Facharzt für Nervenheilkunde Dr. E. als auch der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. H. in ihren beiden Gutachten übereinstimmend darauf hingewiesen, dass eine vorübergehende psychosomatische/psychiatrische Behandlung angezeigt sei, mit der das psychische Befinden der Klägerin zu verbessern sei, der sich die Klägerin aber verschließe. Psychiatrischen Beeinträchtigungen dürfen aber nur dann zur Rentenberechtigung führen, wenn die Erkrankung mit zumutbarer Anspannung der Willenskräfte des Versicherten und unter Ausschöpfung aller therapeutischen Möglichkeiten nicht binnen 26 Wochen überwunden werden kann (vgl. nur: BSGE 21, S. 189; LSG Niedersachsen, Urteil vom 25. November 1999, L 1 RA 208/98; LSG Niedersachsen, Urteil vom 25. Mai 2000, L 1 RA 154/99; LSG Niedersachsen, Beschluss vom 24. Juli 2000, L 1 RA 43/00)
War die Klägerin daher nicht berufsunfähig nach § 43 SGB VI a.F., so war sie erst recht nicht erwerbsunfähig nach § 44 SGB VI a.F., da hierfür noch weiter gehende Leistungseinschränkungen erforderlich wären. Die Klägerin ist schließlich auch nicht erwerbsgemindert im Sinne von §§ 43, 240 SGB VI in der ab dem 1. Januar 2001 geltenden Fassung, weil insbesondere eine zeitliche Leistungsbegrenzung nicht feststellbar ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.
Es hat kein gesetzlicher Grund gem. § 160 Abs. 2 SGG vorgelegen, die Revision zuzulassen.