Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 15.05.2003, Az.: L 6 U 384/02

Anspruch auf Zahlung einer Verletztenrente; Minderung der Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls; Anerkennung eines Arbeitsunfalls; Umfang der verminderten Arbeitsmöglichkeiten; Ausmaß der unfallbedingten Funktionsbeeinträchtigung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
15.05.2003
Aktenzeichen
L 6 U 384/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 21062
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0515.L6U384.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hildesheim - 07.08.2002 - AZ: S 11 U 55/01

Redaktioneller Leitsatz

Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit sich Beeinträchtigungen auf die Erwerbsfähigkeit des Verletzten auswirken, sind zwar nicht verbindlich, bilden aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit.
Darüber hinaus sind auch die von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die zwar nicht im Einzelfall bindend, aber als Grundlage für eine gleiche und gerechte Beurteilung heranzu-ziehen sind.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hildesheim vom 7. August 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt Verletztenrente. Der 1951 geborene Kläger war bei der B. als LKW-Fahrer beschäftigt. Er litt seit Jahren an Schmerzen an allen Gelenken, insbesondere den Hand- und Kniegelenken (Befundbericht Dr. C. vom 22. Januar 2000). Seit dem 8. März 1999 war er wegen Kniebeschwerden in Behandlung bei dem Facharzt für physikalische und rehabilitative Medizin D ... Am 22. Juni 1999 rutschte er beim Aufsteigen auf den LKW ab und prallte mit dem linken Knie auf die Kante der Plattform. Anschließend arbeitete der Kläger weiter bis zum 1. Juli 1999, danach hatte er Urlaub. Am 5. Juli 1999 suchte er seinen Hausarzt Dr. C. auf, der ihn an den Durchgangsarzt Dr. E. weiter verwies. Dr. E. fand bei der Untersuchung eine druckschmerzhafte umschriebene Vorwölbung am Schienbeinkopf, außerdem gab der Kläger Schmerzen beim seitlichen Aufklappversuch des Kniegelenks an. Dr. E. diagnostizierte eine Prellung des linken Knies. Vom 21. Juli 1999 bis 24. Juli 1999 wurde der Kläger stationär im Städtischen Krankenhaus F. behandelt. Dort gab er an, seit März 1999 an Knieschmerzen zu leiden, ein Unfall sei nicht erinnerlich. Am 22. Juli 1999 wurde eine Arthroskopie durchgeführt, die einen degenerativen Innenmeniskushinterhornschaden im linken Kniegelenk ergab. Es erfolgte eine Glättung des Innenmeniskus. Vom 10. November 1999 bis 1. Dezember 1999 befand sich der Kläger in einer Rehabilitationsmaßnahme im Reha-Zentrum G ... Dort klagte er über Schmerzen in sämtlichen Gelenken. Dres. H. hielten ihn für vollschichtig leistungsfähig als Kraftfahrzeugführer. Während des stationären Aufenthaltes vom 16. Dezember 1999 bis 21. Dezember 1999 im Städtischen Krankenhaus F. erfolgten eine Plicaresektion und eine Hoffareduktion. Die Beklagte holte die Stellungnahme von Dr. I. vom 10. Februar 2000 ein. Nach dessen Beurteilung sind die Arbeitsunfähigkeitszeiten des Klägers nicht auf den Unfall zurückzuführen, weil dieser nicht geeignet gewesen sei, die Vorstellung beim Durchgangsarzt nicht zeitnah erfolgt sei und Arthroskopie und Histologie degenerative Veränderungen beschrieben hätten. Am 14. Februar 2001 erstellte Dr. E. ein Zusammenhangsgutachten. Nach seiner Beurteilung besteht kein Zusammenhang zwischen den Kniebeschwerden des Klägers und dem Unfall. Der Unfall sei nicht geeignet gewesen, einen Innenmeniskushinterhornschaden herbeizuführen. Der Schaden habe zum Unfallzeitpunkt bereits vorgelegen, dies ergebe sich aus dem histologischen Befund. Beim Kläger sei als pathologischer Laborbefund eine Harnsäureerhöhung gefunden worden. Bei derartigen Harnsäureerhöhungen sei bekannt, dass die Patienten Gelenkbeschwerden hätten.

2

Mit Bescheid vom 13. März 2001 erkannte die Beklagte den Unfall als Arbeitsunfall an. Die Zahlung einer Rente lehnte sie mit der Begründung ab, bereits vor dem Unfall habe ein degenerativer Innenmeniskushinterhornschaden links bestanden. Der Unfall sei nicht geeignet gewesen, das vorbestehende Leiden zu verschlimmern. Die histologische Untersuchung der entnommenen Meniskusanteile habe degenerativ aufgesplitterte Meniskusanteile ergeben (bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 26. März 2001). Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Hildesheim hat der Kläger vorgetragen, er habe vor dem Unfall keine Kniebeschwerden gehabt. Die jetzigen Beschwerden im Knochen- und Kniekehlenbereich seien auf den Unfall vom 22. Juni 1999 zurückzuführen. Das SG hat Befundberichte von Dr. J. eingeholt und mit Gerichtsbescheid vom 7. August 2002 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf Verletztenrente, denn es sei kein Zusammenhang zwischen dem Unfall und den Beschwerden des Klägers erkennbar. Ausweislich der Arztberichte hätten bereits vor dem Unfall degenerative Erkrankungen vorgelegen.

3

Gegen diesen am 23. August 2002 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 4. September 2002 Berufung eingelegt. Er trägt vor, der Arbeitsunfall sei der Auslöser für die immer noch bestehende Arbeitsunfähigkeit. Es sei eine vergleichende Beurteilung von MRT-Aufnahmen zu veranlassen.

4

Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    den Gerichtsbescheid des SG Hildesheim vom 7. August 2002 aufzuheben,

  2. 2.

    den Bescheid der Beklagten vom 13. März 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. März 2001 zu ändern,

  3. 3.

    die Beklagte zu verurteilen, ihm Verletztenrente in Höhe von 20 v.H. der Vollrente zu zahlen.

5

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG Hildesheim vom 7. August 2002 zurückzuweisen.

6

Die Beklagte hält den Gerichtsbescheid und ihre Bescheide für zutreffend.

7

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte Bezug genommen. Der Entscheidungsfindung haben die Verwaltungsakten der Beklagten zu Grunde gelegen.

Entscheidungsgründe

8

Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie ist jedoch unbegründet. Der Gerichtsbescheid des SG und die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf Zahlung einer Verletztenrente.

9

Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung wird gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch (SGB) VII nur gewährt, wenn die Erwerbsfähigkeit des Versicherten infolge eines Versicherungsfalls (hier: Arbeitsunfall) über die 26. Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist. Diese Voraussetzungen lassen sich hier nicht feststellen. Der Kläger hat, was nach der Unfallschilderung ohne weiteres einleuchtet, bei dem anerkannten Arbeitsunfall eine Prellung des linken Knies erlitten. Dabei handelt es sich um eine ihrer Natur nach folgenlos abklingende Gesundheitsstörung. Dagegen ist nicht wahrscheinlich, dass der vorgenannte Unfall die noch bestehenden Kniebeschwerden verursacht hat.

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Entgegen der Ansicht des Klägers ist ein Zusammenhang zwischen dem Unfall und der Beschwerdesymptomatik nicht bereits bewiesen, weil die Schmerzen in einem zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall aufgetreten sind. Vielmehr spricht entscheidend gegen eine unfallbedingte Schädigung des Kniegelenkes, dass weder bei der Erstuntersuchung durch Dr. E. noch bei den folgenden arthroskopischen und feingeweblichen Untersuchungen verletzungsbedingte Strukturveränderungen (z.B. Einblutungen in das linke Kniegelenk oder frische scharfrandige Rissbildungen) festgestellt wurden, sondern unfallfremde degenerative Meniskusveränderungen. Auch das Verhalten des Klägers spricht gegen eine nennenswerte Knieschädigung. Denn er hat erst zwei Wochen nach dem Unfall erstmals einen Arzt aufgesucht.

11

Abgesehen davon lagen bereits vor dem Unfall jahrelang (Befundbericht Dr. C. vom 22. Januar 2000) Beschwerden im Bereich des linken Knies vor. Dr. C. diagnostizierte am 15. Februar 1999 eine Chondropathia patellae beidseits, außerdem war der Kläger seit dem 8. März 1999 u.a. wegen Kniebeschwerden in Behandlung bei dem Facharzt für physikalische und rehabilitative Medizin D ... Auch Dr. E. hat unter Hinweis auf den histologischen Befund (degenerativ aufgesplitterte Meniskusanteile) zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass der bei der ersten Arthroskopie am 22. Juli 1999 gefundene Meniskusschaden zum Unfallzeitpunkt bereits vorgelegen haben muss.

12

Dr. E. hat zudem auf eine unfallunabhängige Ursache für die vom Kläger angegebenen Kniegelenksbeschwerden (sowie der Beschwerden im Bereich der anderen Gelenke) hingewiesen. Denn bei dem Kläger wurde als pathologischer Laborbefund eine Harnsäureerhöhung gefunden. Ein derartiger Befund gehe auch bei anderen Patienten mit Gelenkbeschwerden einher. Der Senat musste der Anregung des Klägers, eine vergleichende MRT-Aufnahme des rechten Knies anfertigen zu lassen, nicht nachgehen. Denn es ist nicht er-sichtlich, zu welchen neuen Erkenntnissen eine solche Untersuchung führen könnte. Selbst wenn hinsichtlich des rechten Kniegelenks des Klägers andere und günstigere Befunde als am linken Knie erhoben würden, bewiese dies nicht einen Zusammenhang zwischen dem Unfall und einem Schaden im Bereich des linken Kniegelenkes.

13

Selbst wenn man aber - entgegen der Ansicht des Senats - unterstellen würde, dass die Kniebeschwerden Folgen des Unfalls vom 5. Juli 1999 sind, hätte der Kläger im Übrigen keinen Anspruch auf eine Verletztenrente, weil sich nicht feststellen ließe, dass seine Erwerbsfähigkeit infolge des Arbeitsunfalls um wenigstens 20 v.H. gemindert ist.

14

Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten durch Unfallfolgen beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf medizinisch-wissenschaftlichem Gebiet. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit sich derartige Beeinträchtigungen auf die Erwerbsfähigkeit des Verletzten auswirken, sind zwar nicht verbindlich, bilden aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE. Darüber hinaus sind bei der Beurteilung der MdE auch die von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die zwar nicht im Einzelfall bindend, aber als Grundlage für eine gleiche und gerechte Beurteilung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis heranzuziehen sind (BSG SozR 2200 § 581 RVO Nr. 23). Sie stellen in erster Linie auf das Ausmaß der unfallbedingten Funktionsbeeinträchtigung ab. Als Folge von Knieverletzungen ist eine MdE von 20 v.H. z.B. anzunehmen bei einer Restbeweglichkeit des Kniegelenkes von 0-0-90 Grad (Mehrhoff/Muhr, Unfallbegutachtung, 10. Auflage, S. 153). Eine so schwer wiegende Beeinträchtigung liegt hier nicht vor. Denn ausweislich der Untersuchung durch Dr. E. ist die Beweglichkeit im linken Kniegelenk nur minimal (0-0-130 gegenüber 0-0-140 rechts) eingeschränkt. Dies rechtfertigt auch keine Einschätzung der MdE mit 10 vH. Die von Dr. E. mitgeteilten Befunde entsprechen den Untersuchungsergebnissen von Dres. H. (Reha-Zentrum G.): Funktionsprüfung der Kniegelenke unauffällig) und Dr. E. (Entlassungsbericht nach der Operation am 7. Dezember 1999: 0-0-120). Auch das Versorgungsamt K. hat Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich des linken Knies nicht berücksichtigt (Bescheid vom 16. März 2000). Schließlich belegen auch die Beschwerdeangaben des Klägers, dass seine Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens nicht um mindestens 1/5 vermindert sind. Denn der Kläger gibt im Wesentlichen Einschränkungen beim LKW fahren (beim Kuppeln) an sowie Schmerzen nach einer längeren Gehstrecke.

15

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.