Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 15.05.2003, Az.: L 10 RI 194/02
Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit; Vorliegen einer Berufsunfähigkeit; Notwendigkeit der Verweisung eines Versicherten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 15.05.2003
- Aktenzeichen
- L 10 RI 194/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 21053
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0515.L10RI194.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Braunschweig - 23.05.2002 - AZ: S 5 RI 77/01
Rechtsgrundlagen
- § 44 SGB VI
- § 43 SGB VI
- § 300 Abs. 2 SGB VI
- § 240 SGB VI
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Das Vorliegen einer Berufsunfähigkeit bei einem Arbeiter setzt voraus, dass der Versicherte auch in der gegenüber seinem bisherigen Beruf nächst niedrigeren Stufe der Arbeiterberufe nicht mehr zumutbar arbeiten kann. Erwerbs- oder berufsunfähig ist aber nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann.
- 2.
Ist einem Versicherten eine vollschichtige Tätigkeit möglich, so ist die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit im Hinblick auf das verbliebene Leistungsvermögen und die Verweisbarkeit auf den allgemeinen Arbeitsmarkt nicht erforderlich.
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Braunschweig vom 23. Mai 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zusteht.
Der 1944 geborene Kläger, der seit 1993 die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, hat in den Jahren von 1965 bis 1968 in Tunesien eine Berufsausbildung zum Elektriker durchlaufen und in der Folgezeit bis 1970 in diesem Beruf gearbeitet. Im Juli 1970 ist der Kläger in die Bundesrepublik eingereist und hat zunächst als Hilfsarbeiter am Band, als Bandarbeiter und als Lackierer gearbeitet. In der Zeit von 1986 bis November 2000 war der Kläger bei der Firma I. beschäftigt, zunächst als Transportarbeiter, zuletzt als Reiniger von Schienenwegen. Hierbei wurde er nach Lohngruppe 6 des Metalltarifvertrages entlohnt.
Im Oktober 1994 hat der Kläger einen Arbeitsunfall erlitten, bei dem er sich einen Innenknöchelbruch rechts zugezogen hat. Wegen der Folgen des Unfalles gewährt ihm die Norddeutsche Metall-Berufsgenossenschaft Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH.
Im November 1999 beantragte der Kläger die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) oder Berufsunfähigkeit (BU). Die Beklagte veranlasste daraufhin eine Begutachtung durch die Internistin Dr. J ... Die Gutachterin stellte insbesondere eine chronische Bronchitis, den Zustand nach Sprunggelenksfraktur rechts sowie ein degeneratives lokales Lendenwirbelsäulensyndrom fest, hielt den Kläger aber gleichwohl für in der Lage, vollschichtig bis zu körperlich mittelschwere Arbeiten vorwiegend im Sitzen mit der Möglichkeit zum Haltungswechsel zu verrichten. Darauf gestützt lehnte die Beklagte die Gewährung von Rente mit Bescheid vom 11. Juli 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Januar 2001 ab. Der Kläger sei weder erwerbs- noch berufsunfähig. Trotz der gesundheitlichen Einschränkungen könne er noch vollschichtig leichte Montier-, Sortier-, Verpackungs- oder Maschinenarbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten.
Dagegen hat der Kläger Klage bei dem Sozialgericht (SG) Braunschweig erhoben und die Gewährung von Rente wegen EU begehrt. Zur Begründung hat er insbesondere auf die Unfallfolgen, eine chronische Bronchitis sowie Rückenschmerzen hingewiesen. Die Beklagte hat den Entlassungsbericht über ein im April 2001 durchgeführtes stationäres Heilverfahren vorgelegt. Das SG hat sodann einen Befundbericht von dem Allgemeinmediziner Dr. K. beigezogen, dem die in anderen Zusammenhängen erstatteten Gutachten des Chirurgen Dr. L. und - auszugsweise - des Allgemeinmediziners Dr. M. beigefügt waren. Gestützt auf diese medizinischen Unterlagen hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 23. Mai 2002 als unbegründet abgewiesen. Dem Kläger stehe Rente wegen EU oder BU nicht zu. Er könne jedenfalls noch vollschichtig körperlich leichte Sortier- oder Verpackungsarbeiten verrichten.
Gegen den ihm am 6. Juni 2002 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich die am 17. Juni 2002 bei dem Landessozialgericht eingegangene Berufung des Klägers, mit der er sein Begehren weiter verfolgt und insbesondere geltend macht, der medizinische Sachverhalt sei nicht hinreichend aufgeklärt worden. Zusätzlich zu den bereits in erster Instanz geltend gemachten Gesundheitsstörungen sei bei ihm eine somatisierte Depression zu berücksichtigen. Einer Erwerbstätigkeit könne er damit nicht mehr nachgehen.
Der Kläger beantragt,
- 1.
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Braunschweig vom 23. Mai 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 11. Juli 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Januar 2001 aufzuheben,
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Braunschweig vom 23. Mai 2002 zurückzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid und die mit ihm überprüften Bescheide für zutreffend.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes hat der Senat einen Befundbericht des Dr. K. vom 19. September 2002 beigezogen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Akteninhalt sowie auf den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Die genannten Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist jedoch nicht begründet. Das SG hat zu Recht festgestellt, dass dem Kläger Rente wegen EU oder BU nach altem Recht oder wegen Erwerbsminderung nach neuem Recht nicht zusteht.
Dem Kläger steht Rente wegen EU oder BU gemäß §§ 44, 43 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der bis 31. Dezember 2000 geltenden alten Fassung (a.F.) nicht zu. Die genannten Vorschriften sind auf den vorliegenden Fall gemäß § 300 Abs. 2 SGB VI weiter anwendbar, soweit nämlich ein Leistungsfall vor dem 1. Januar 2001 zu prüfen ist. Erwerbsunfähig ist gemäß § 44 Abs. 2 SGB VI a.F., wer eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht ausüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen von mehr als 630,00 DM monatlich nicht erzielen kann. Berufsunfähig ist gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI a.F. der Versicherte, dessen Erwerbsfähigkeit auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Dies setzt nach dem von der Rechtsprechung entwickelten Mehrstufenschema voraus, dass der Versicherte auch in der gegenüber seinem bisherigen Beruf nächst niedrigeren Stufe der Arbeiterberufe nicht mehr zumutbar arbeiten kann (vgl. nur Urteil des Bundessozialgerichtes - BSG - vom 26. Juni 1990, Az: 5 RI 46/89, SozR 3-2200 § 1246 Nr. 5). Erwerbs- oder berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann, § 44 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2, § 43 Abs. 2 Satz 4 SGB VI a.F.
Aus den vorgenannten Voraussetzungen der geltend gemachten Renten wird deutlich, dass demjenigen Versicherten Rente wegen EU nicht zusteht, der nicht einmal berufsunfähig ist. Auf Grund des Ergebnisses der im Verwaltungsverfahren durchgeführten medizinischen Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger nicht berufsunfähig ist.
Im Vordergrund der Funktionsstörungen des Klägers stehen die Folgen des Unfalls im Bereich des rechten Sprunggelenkes, die chronische Bronchitis sowie krankhafte Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule. Dies folgt zur Überzeugung des Senats aus der Gesamtheit der über den Kläger bekannt gewordenen medizinischen Erkenntnisse und steht insbesondere in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Begutachtung durch Dr. J. und den Berichten des behandelnden Hausarztes. Das SG ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger trotz der gesundheitlichen Einschränkungen jedenfalls noch körperlich leichte Tätigkeiten vollschichtig verrichten kann. Sowohl die im Verwaltungsverfahren gehörte Gutachterin als auch der bereits genannte Entlassungsbericht vom 25. April 2001 kommen darüber hinausgehend übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass der Kläger sogar bis zu mittelschwere Arbeiten vollschichtig verrichten kann. Nicht zuzumuten sind ihm hingegen Tätigkeiten mit langer einseitiger Haltung, mit besonderem Zeitdruck, unter Einwirkung von Nässe, Kälte, Zugluft oder inhalativen Noxen.
Insbesondere ergeben sich für den Senat keine durchgreifenden Bedenken dagegen, dass der Kläger trotz der gesundheitlichen Einschränkungen noch vollschichtig einer Erwerbstätigkeit nachgehen kann. Für den Senat ist nämlich nicht nachzuvollziehen, warum der Kläger durch die genannten Gesundheitsstörungen gehindert sein sollte, solche Tätigkeiten auszuüben, die insgesamt mit geringen körperlichen Belastungen und mit geringen Anforderungen an das Gehvermögen verbunden sind, die darüber hinaus für die Wirbelsäule einen gelegentlichen Haltungswechsel ermöglichen und die in geschlossenen Räumen ohne die Einwirkungen von Atemreizstoffen zu verrichten sind. Auch damit befindet sich der Senat in Übereinstimmung mit dem Ergebnis der im Verwaltungsverfahren durchgeführten Begutachtung und des genannten Kurabschlussberichtes.
Der Senat sieht keinen Anlass, den in dem Befundbericht des Dr. K. vom 19. September 2002 genannten weiteren Gesundheitsstörungen weiter nachzugehen. Soweit Dr. K. hier auf im Dezember 1999 aufgetretene Störungen der Herzfunktion hinweist, ergibt sich aus dem Bericht zugleich, dass diese inzwischen nach Therapie wieder gebessert ist. Soweit Dr. K. "eher schlechter" gewordene depressive Verstimmungszustände des Klägers beschreibt, findet eine fachärztliche Behandlung nicht statt. Der Senat sieht daher keinen Anhaltspunkt dafür, dass diese Erkrankung so stark ausgeprägt wäre, dass sie sich entscheidend auf das Leistungsvermögen des Klägers auswirkte.
Mit den vorgenannten Gesundheitsstörungen kann der Kläger zwar die - wohl zuletzt vor dem Arbeitsunfall von 1994 - verrichtete Tätigkeit als Transportarbeiter wahrscheinlich nicht mehr ausüben. Der Annahme von BU steht jedoch entgegen, dass der Kläger andere, ihm sozial zumutbare Tätigkeiten verrichten kann. Sozial zumutbar kann er auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden. Denn sein bisheriger Beruf übersteigt nicht die Qualifikationsstufe des - einfachen - Angelernten. Zwar hat der Kläger in Tunesien eine - jedenfalls möglicherweise - höhergradige Berufsausbildung durchlaufen. Doch hat er sich von diesem Beruf dadurch gelöst, dass er nach seiner Einreise in das Bundesgebiet über einen Zeitraum von dreißig Jahren bei verschiedenen Arbeitgebern geringer qualifizierte Tätigkeiten ausgeübt hat. Auch die Tätigkeit des Transportarbeiters erforderte keine Ausbildung von mehr als einem Jahr. Ausweislich der Auskunft der Fa. I. vom 22. Februar 2002 hat es sich um eine normale ungelernte Tätigkeit gehandelt. Diese wurde zwar in der Lohngruppe 6 des Metall-Tarifvertrages entlohnt, doch geschah dies nicht wegen der Qualität der Tätigkeit. Die in der Lohngruppenbeschreibung des maßgeblichen Tarifvertrages beschriebenen qualitativen Voraussetzungen einer abgeschlossenen zweijährigen Ausbildung oder einer Sonderausbildung (Lohngruppe 5) mit anschließender langjähriger Erfahrung lagen in der Person des Klägers nicht vor. Auch die allein von dem Arbeitgeber in der genannten Bescheinigung beschriebene flexible Einsatzmöglichkeit stellt kein qualitatives Merkmal der Tätigkeit dar.
Die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit ist im Hinblick auf das verbliebene Leistungsvermögen des Klägers und die Verweisbarkeit auf den allgemeinen Arbeitsmarkt nicht erforderlich (vgl. Beschluss des BSG vom 19. Dezember 1996, Az: GS 2/95, SozR 3-2600, § 43 Nr. 16).
Der Kläger ist auch nicht voll oder teilweise erwerbsgemindert i.S. des § 43 SGB VI in der seit dem 1. Januar 2001 geltenden neuen Fassung (n.F.). Nach § 43 Abs. 3 SGB VI n.F. ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Da der Kläger, wie bereits ausgeführt, vollschichtig einer Erwerbstätigkeit nachgehen kann, fehlen bereits aus diesem Grund die Voraussetzungen für die Annahme einer vollen oder teilweisen Erwerbsminderung. Im Hinblick auf die - wie bereits dargelegt - fehlende BU kommt für den Kläger auch nicht die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei BU gemäß § 240 SGB VI n.F. in Betracht.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der §§ 183, 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.