Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 15.05.2003, Az.: L 6 U 188/02
Gewährung von Verletztenrente wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls; Opfer eines Auffahrunfalls auf dem Heimweg von der Arbeit (Wegeunfall); Beschwerden im Bereich der unteren Halswirbelsäule durch den Unfall; Kopfschmerzen, Tinnitus und reaktive Depressionen in der Folgezeit; Kausalzusammenhang zwischen schädigenden Ereignis, Gesundheitsschädigung (Primärschädigung) und Folgeschädigungen
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 15.05.2003
- Aktenzeichen
- L 6 U 188/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 21058
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0515.L6U188.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Lüneburg - 12.03.2002 - AZ: S 2 U 29/99
Rechtsgrundlagen
- § 56 Abs. 1 SGB VII
- § 8 Abs. 2 SGB VII
Redaktioneller Leitsatz
Erforderlich ist für einen Anspruch auf Verletztenrente, dass es infolge der versicherten Tätigkeit zu einem Arbeitsunfall kommt, d.h. zu einem plötzlich auf den Körper einwirkenden Ereignis, das seinerseits zu einem unmittelbaren Gesundheitsschaden, dem so genannten Primärschaden, führt (haftungsbegründende Kausalität). Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so sind unter den weiteren Erfordernissen der einzelnen Leistungsfälle als Folgeschäden auch solche Unfallfolgen zu entschädigen, die ihrerseits ursächlich auf die eingetretenen Primärschäden zurückzuführen sind (haftungsausfüllende Kausalität).
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lüneburg vom 12. März 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist Verletztenrente.
Der 1952 geborene Kläger erlitt auf dem Heimweg von der Arbeit am 25. Februar 1997 einen Verkehrsunfall, als ein anderes Kfz auf seinen Pkw auffuhr (Unfallanzeige vom 7. April 1997, s. im Einzelnen die Verkehrsunfallanzeige vom 25. Februar 1997). In der chirurgischen Abteilung des Kreiskrankenhauses C., in die der Kläger mit einem Krankenwagen gebracht worden war, wurde neben einer Prellung des Thorax links und des rechten Schienbeinkopfes eine Zerrung der Halswirbelsäule (HWS) diagnostiziert. Der Kläger erhielt eine Schanz'sche Halskrawatte und Medikamente (Durchgangsarztbericht vom 26. Februar 1997). Er war zunächst bis zum 28. März 1997 arbeitsunfähig. Im Juni 1997 begab er sich in die Behandlung des Arztes für Orthopädie D ... In den Berichten vom 6. und 24. Juni 1997 teilte dieser Arzt der Beklagten mit, es bestünden noch "erhebliche Bewegungseinschränkungen" der HWS mit "erheblichen objektivierbaren Schmerzen". Physikalische balneologische Behandlungen seien "dringend indiziert", da sonst ein "Dauerschaden zu befürchten" sei. Funktionsaufnahmen der HWS ergaben keinen Anhalt für eine Bandläsion. Der neurologische Befund war unauffällig. Die Beklagte holte die Auskunft der Betriebskrankenkasse über Zeiten von Arbeitsunfähigkeit des Klägers vom 17. Juni 1997 ein und veranlasste auf den Bericht des Arztes D. vom 26. Februar 1998 hin die Vorstellung des Klägers im Reha-Zentrum des Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhauses E. (Befundbericht vom 20. März 1998), in dem der Kläger bis zum 30. April 1998 ambulant behandelt wurde. Im chirurgisch-orthopädischen Gutachten vom 15. Mai 1998 führten Dres. F. und G. aus, dass kein Anhaltspunkt für eine strukturelle Schädigung der HWS durch den Auffahrunfall vom 25. Februar 1997 bestehe (vgl. auch den Befund der am 4. September 1997 durchgeführten Magnetresonanztomographie - MRT - der HWS). Klinisch bestünden im Wesentlichen alters- und konstitutionsentsprechende Befunde. Die angegebene Beschwerdesymptomatik im Bereich der unteren HWS bei abrupten Kopfbewegungen sei wahrscheinlich auf anlagebedingte degenerative Veränderungen zurückzuführen. Wegen Unfallfolgen seien keine weiteren Heilbehandlungsmaßnahmen erforderlich. Der Kläger sei ab 4. Mai 1998 wieder arbeitsfähig. Im September 1998 berichtete der Arzt D. der Beklagten, dass sich der Kläger erneut mit erheblichen Beschwerden der HWS, die in ihrer Beweglichkeit deutlich eingeschränkt sei, vorgestellt habe. Er habe Fangopackungen sowie Massagen verordnet und der Kläger sei arbeitsunfähig. Im Schreiben vom 6. November 1998 teilte der Prozessbevollmächtigte des Klägers der Beklagten mit, zwischenzeitlich seien als weitere Folgen des Arbeitsunfalls ein Tinnitus beidseitig und ein Kribbeln in den Fingerspitzen der rechten Hand aufgetreten. Die Beklagte lehnte unter Hinweis auf das Ergebnis der Untersuchung im Reha-Zentrum die Zahlung von Verletztenrente ab (Bescheid vom 7. Dezember 1998) und wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 28. Januar 1999).
Gegen den am selben Tag abgesandten Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 1. März 1999 vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg Klage erhoben. Das SG hat zunächst Befundberichte beigezogen und sodann auf Antrag des Klägers den Arzt D. gehört. Der Sachverständige hat im orthopädischen Gutachten vom 10. Januar 2001 eine "deutliche Einschränkung" der Beweglichkeit der HWS, "von der HWS zur Stirn hin ausstrahlende Kopfschmerzen, Tinnitus und reaktive Depressionen mit erheblicher Einschränkung der körperlichen und geistigen Leistungskraft" auf den Auffahrunfall zurückgeführt. Es habe "mit Sicherheit nicht nur ein einfaches Schleudertrauma vorgelegen". Zu "schweren objektivierbaren Verletzungen" sei es "jedoch nicht gekommen". Nach Fredenhagen u.a. seien "die Spätfolgen häufig umgekehrt proportional zur Schwere des Traumas und zu den festgestellten Veränderungen, weil sich die Restbeschwerden weder bei der klinischen Untersuchung noch röntgenologisch befriedigend erklären" ließen. Die "subjektiven Spätfolgen sollten nicht bagatellisiert werden". Die Minderung der Erwerbsfähigkeit schätzte der Sachverständige auf insgesamt 25 vom Hundert (vH). Dagegen hat die Beklagte die Stellungnahme des Dr. F. vom 29. Mai 2001 vorgelegt. Das SG ist den Ausführungen dieses Arztes gefolgt und hat die Klage nach Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid vom 12. März 2002 abgewiesen.
Gegen den ihm am 20. März 2002 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 18. April 2002 Berufung eingelegt. Unter Hinweis auf die Ausführungen des Sachverständigen hält er an seiner Auffassung fest, dass seine Erwerbsfähigkeit infolge des Arbeitsunfalls auf Dauer gemindert sei und beantragt,
- 1.
den Gerichtsbescheid des SG Lüneburg vom 12. März 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 7. Dezember 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Januar 1999 aufzuheben,
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, ihm Verletztenrente in Höhe von 25 v.H. der Vollrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG Lüneburg vom 12. März 2002 zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
Dem Senat haben neben den Prozessakten die Unfallakten der Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der Beratung gewesen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Das SG hat die zulässige Klage zu Recht abgewiesen. Die Entscheidung der Beklagten ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zahlung von Verletztenrente (§ 56 Sozialgesetzbuch - SGB - VII). Denn es kann nicht mit der im Recht der Gesetzlichen Unfallversicherung erforderlichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass seine Erwerbsfähigkeit infolge des Arbeitsunfalls (Wegeunfall - § 8 Abs. 2 Ziff. 1 SGB VII), den er am 25. Februar 1997 erlitt, gemindert ist.
Gegen den erforderlichen wahrscheinlichen Zusammenhang spricht entscheidend, dass eine strukturelle Verletzung der HWS, die zu den vom Kläger angegebenen Beschwerden führen könnte, ausgeschlossen worden ist. Davon geht auch der Sachverständige D. aus. Deshalb ist seine Annahme, es habe "mit Sicherheit nicht nur ein einfaches Schleudertrauma vorgelegen", unschlüssig. Die Behauptung, Spätfolgen seien "häufig umgekehrt proportional zur Schwere des Traumas und zu den festgestellten Veränderungen", ist nicht verständlich. Demgegenüber leuchtet der Hinweis des Dr. F. in der Stellungnahme vom 29. Mai 2001 (S. 5) unmittelbar ein, dass die HWS auf Zerrungen nicht anders als andere Körperregionen reagiert. Diese Stellungnahme, für die Dr. F. den Kläger nicht untersuchen musste, hat der Senat als von besonderer Sachkunde getragenen, qualifizierten Beteiligtenvortrag zu würdigen (BSG, Urteil vom 8. Dezember 1988 - Az.: 2/9b RU 66/87). Danach kommt es zu einer Beschwerdesymptomatik, die in der folgenden Zeit allmählich abklingt. Ungefähr 10 Tage nach dem Auffahr-unfall war die HWS nicht mehr druck- oder klopfempfindlich. Neurologische Ausfälle bestanden nicht. Die Beweglichkeit der HWS war noch endgradig schmerzhaft, sodass Dr. H. das Tragen eines Stützverbandes für einige Tage empfahl (Nachschaubericht vom 7. Juli 1997). Die Arbeitsunfähigkeit endete am 28. März 1997 (Auskunft der BKK vom 17. Juni 1997). Im Juni 1997 verschlechterte sich der Befund der HWS (vgl. die Berichte des Sachverständigen vom 6. und 24. Juni 1997). Der Sachverständige nahm daraufhin die Behandlung auf, die im Reha-Zentrum bis zum 30. April 1998 intensiv fortgesetzt wurde. Bei Abschluss dieser Behandlung bestand ein "im Wesentlichen alters- und konstitutionsentsprechender Befund" (S. 13 des chirurgisch-orthopädischen Gutachtens vom 15. Mai 1998).
Vor dem Hintergrund der fehlenden strukturellen Schädigung der HWS und des klinischen Behandlungsverlaufs kann ein Zusammenhang der von dem Sachverständigen diagnostizierten Befunde im Bereich der HWS des Klägers mit dem Arbeitsunfall vom 25. Februar 1997 nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, zumal bereits vor dem Arbeitsunfall Arbeitsunfähigkeitszeiten wegen Beschwerden auftraten, die ihren Ursprung im Bereich der HWS hatten (z.B. Occipitalneuralgie - vgl. S. 13 des chirurgisch-orthopädischen Gutachten vom 15. Mai 1998).
Da schon die Beschwerden der HWS nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit auf den Arbeitsunfall zurückgeführt werden können, ist auch ein (mittelbarer) Zusammenhang der weiter von dem Sachverständigen genannten Beschwerden, die auf Beschwerden der HWS beruhen, mit dem Arbeitsunfall nicht wahrscheinlich. Im Übrigen hat der Sachverständige einen wahrscheinlichen Zusammenhang von "reaktiven Depressionen" und "Tinnitus" mit dem Arbeitsunfall nicht begründet: Nicht nachzuvollziehen vermag der Senat den vom Sachverständigen für die Annahme (mittelbar) unfallbedingter Depressionen genannten Anknüpfungsbefund, der Kläger sei (vor dem Unfall) in seinem Beruf "voll belastbar" gewesen und dieser habe ihm "Spaß bereitet". Denn der Kläger war bereits vor dem Arbeitsunfall unter den Diagnosen eines depressiven Syndroms, eines Erschöpfungszustandes und psychovegetativer Dystonie arbeitsunfähig (Auskunft der BEK vom 17. Juni 1997). Der Kläger selbst hat hervorgehoben, dass er als Angestellter im Außendienst der I. Elektrizitätswerke "erheblichen Stresssituationen" ausgesetzt ist, wenn er den Auftrag erhalte, Stromanschlüsse stillzulegen, Zähler zu demontieren und Strom abzustellen. Er sei "erheblichen persönlichen Anfeindungen" ausgesetzt, die zu "erheblichen Konfliktsituationen" mit "erheblichen psychologischen Belastungen" führten (Schriftsatz vom 4. Oktober 1999). - Auch die Zuordnung von "Tinnitus" (Ohrgeräuschen) unter Hinweis auf den hals-nasen-ohrenärztlichen Befundbericht vom 20. Mai 1999 zu dem Arbeitsunfall überzeugt nicht. Denn auch aus der vom HNO-Arzt vorgelegten älteren Literatur (Feldmann, Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes, 3. Aufl.) ergibt sich, dass Tinnitus allenfalls dann als Folge eines Traumas wahrscheinlich gemacht werden kann, wenn gleichzeitig andere objektivierbare pathologische Befunde - im Beispielsfall eine "praktische Taubheit" - vorliegen (s. auch Feldmann, Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes, 4. Aufl. 1997, S. 211). Das ist jedoch beim Kläger nicht der Fall: "Die Hochtonperceptionsschwerhörigkeit beiderseits ist wahrscheinlich Folge der erlittenen Bundeswehrknallschäden." (Befundbericht vom 2. Mai 1999). - Schließlich ist auch ein Zusammenhang der in der Klageschrift vom 25. Februar 1999 angesprochenen Kribbelgefühle in den Fingerspitzen der rechten Hand nicht wahrscheinlich, weil neurologische Schäden nach dem Arbeitsunfall ausgeschlossen worden sind. Vielmehr sind die Missempfindungen der rechten Hand einem unfallunabhängigen Carpaltunnelsyndrom zuzuordnen (Arztbrief des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. J. vom 19. Juni 1998).
Weitere Ermittlungen waren nicht erforderlich. Denn der entscheidungserhebliche Sachverhalt ist geklärt. Für die Notwendigkeit der vom Sachverständigen in der vom Kläger vorgelegten Stellungnahme vom 2. Mai 2003 empfohlenen Begutachtung auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet fehlt ein medizinischer Anknüpfungsbefund. Auch die vom Kläger angeregte Vernehmung des Sachverständigen war nicht erforderlich. Sachdienliche Fragen sind nicht offen gewesen und vom Kläger auch nicht aufgezeigt worden. Die unterschiedlichen ärztlichen Wertungen hatte der Senat zu würdigen (§ 128 Sozialgerichtsgesetz - SGG).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ein gesetzlicher Grund zur Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegt nicht vor.