Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 03.09.2003, Az.: L 10 RI 355/02

Anspruch auf eine ungekürzte Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit; Verfassungsmäßigkeit der vorgezogenen Anhebung der Altersgrenzen bei der Rente wegen Arbeitslosigkeit; Ermessensspielraum des Gesetzgebers im Sozialversicherungsrecht

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
03.09.2003
Aktenzeichen
L 10 RI 355/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 19936
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0903.L10RI355.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Oldenburg - 15.10.2002 - AZ: S 8 RI 264/00

Redaktioneller Leitsatz

Im Bereich der gesetzlichen Sozialversicherung hat der Gesetzgeber einen weiten Ermessensspielraum, dessen Rahmen insbesondere von der allgemeinen wirtschaftlichen und demografischen Entwicklung einerseits sowie der verfassungsrechtlichen Vorgabe der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der gesetzlichen Regelung andererseits gebildet wird.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 15. Oktober 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Frage, ob der Kläger Anspruch auf eine ungekürzte Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit gemäß § 237 Sozialbuch 6. Buch (SGB VI) hat.

2

Der im März 1940 geborene Kläger stellte am 26. Januar 2000 bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung von Altersrente wegen Arbeitslosigkeit. Er legte dabei ein Schreiben seines letzten Arbeitgebers, der Firma H., vom 27. Januar 2000 vor, worin es u.a. heißt, dass ihm bereits vor dem 14. Februar 1996 mitgeteilt worden sei, dass auch er zu den von einer Personalreduzierungsmaßnahme betroffenen Mitarbeitern gehören könne. Voraussetzung sei die vorherige Aufhebung des Kündigungsschutzes nach dem Manteltarifvertrag. Die Aufhebung sei am 16. April 1996 beantragt und am 25. April 1996 genehmigt worden. Daraufhin sei am 13. Mai 1996 die Beendigung des Arbeitsverhältnisses unter Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist zum 31. Dezember 1996 ausgesprochen worden.

3

Mit Bescheid vom 22. Februar 2000 gewährte die Beklagte dem Kläger mit Wirkung ab 1. April 2000 eine Altersrente wegen Arbeitslosigkeit nach § 237 SGB VI mit einem um 0,117 verminderten Zugangsfaktor wegen der um 39 Kalendermonate vorgezogenen Inanspruchnahme der Altersrente. Die der Berechnung zu Grunde liegenden Entgeltpunkte minderten sich hierdurch von 49,7634 auf 43,9411.

4

In dem nachfolgenden Widerspruchsverfahren trug der Kläger insbesondere vor, ihm sei schon weit vor dem 14. Februar 1996 mitgeteilt worden, dass ihm unter Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist zum 31. Dezember 1996 gekündigt werde. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 5. Juli 2000 als unbegründet zurück und führte insbesondere aus, die Voraussetzungen für die Anwendung der Vertrauensschutzregelung in § 237 Abs. 2 SGB VI in der bis zum 31. Dezember 1999 geltenden Fassung (a.F.) seien nicht erfüllt, da der Kläger an dem hier maßgeblichen Stichtag, dem 14. Februar 1996, noch nicht arbeitslos gewesen sei. Es sei vor diesem Stichtag auch keine wirksame Vereinbarung über eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses geschlossen worden.

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Dagegen hat der Kläger bei dem Sozialgericht (SG) Oldenburg Klage erhoben. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 15. Oktober 2002 als unbegründet abgewiesen, indem es der Argumentation der Beklagten gefolgt ist.

6

Gegen das ihm am 22. Oktober 2002 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit seiner am 19. November 2002 bei dem Landessozialgericht eingegangenen Berufung. Zur Begründung wiederholt er sein bisheriges Vorbringen. Ergänzend trägt er vor, es bestünden Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Regelung über die Kürzung der Altersrente bei vorzeitiger Inanspruchnahme und nimmt Bezug auf ein entsprechendes Rechtsgutachten.

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Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    das Urteil des SG Oldenburg vom 15. Oktober 2002 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 22. Februar 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Juli 2000 abzuändern,

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, ihm mit Wirkung ab 1. April 2000 eine ungekürzte Altersrente zu gewähren.

8

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Oldenburg vom 15. Oktober 2002 zurückzuweisen.

9

Sie hält die das angefochtene Urteil und die mit ihm überprüften Bescheide für zutreffend.

10

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gem. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.

11

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Rentenakten der Beklagten Bezug genommen. Die genannten Unterlagen waren Gegenstand der Beratung.

Entscheidungsgründe

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Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht als unbegründet abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer ungekürzten Altersrente nach § 237 SGB VI.

13

Die Beklagte hat die Kürzung der Altersrente entsprechend der gesetzlichen Regelung in § 237 Abs. 3 SGB VI zutreffend durchgeführt und ebenso zutreffend angenommen, dass die Voraussetzungen für die Anwendung der Vertrauensschutzregelung nicht erfüllt sind. Nach § 237 Abs. 4 SGB VI sind bestimmte Gruppen von Versicherten von der vorgezogenen Anhebung der Altersgrenzen nach der Grundregelung in § 237 Abs. 3 SGB VI ausgenommen. Neben anderen Voraussetzungen müssen die Betroffenen am Stichtag, dem 14. Februar 1996, arbeitslos gewesen sein oder ihr Arbeitsverhältnis muss auf Grund einer bereits vor diesem Datum erfolgten Kündigung oder Vereinbarung beendet worden sein. Das ist hier nicht der Fall.

14

Der Kläger war am 14. Februar 1996 nicht arbeitslos, da sein Arbeitsverhältnis erst mit Wirkung zum 31. Dezember 1996 gekündigt wurde. Nach der Mitteilung des früheren Arbeitgebers des Klägers vom 27. Januar 2000 ist diesem vor dem 14. Februar 1996 lediglich mitgeteilt worden, dass er zu den von einer Kündigung Betroffenen gehören könne. Die Kündigung selbst wurde erst nach dem Stichtag, nämlich am 13. Mai 1996 ausgesprochen. Es lag vor diesem Tag auch keine beide Seiten bindende individuelle oder kollektive Vereinbarung über eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers vor.

15

Der Senat erachtet die Regelung über die stufenweise Anhebung des Renteneintrittsalters von 60 Jahren für die Rente wegen Arbeitslosigkeit und den bei ihrer vorzeitigen Inanspruchnahme eintretenden Rentenabschlag durch die Gesetze vom 23. Juli 1996 (BGBl. I S 1078) und vom 25. September 1999 (BGBl. I S 1461) nicht als verfassungswidrig und hat sich deshalb nicht veranlasst gesehen, das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) auszusetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) einzuholen. Zwar wird in der Literatur die Ansicht vertreten, die stufenweise Anhebung des Renteneintrittsalters verstoße gegen die Eigentumsgarantie aus Art. 14 GG und gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 GG (Fuchs/Köhler, Verfassungswidrigkeit der vorgezogenen Anhebung der Altersgrenzen bei der Rente wegen Arbeitslosigkeit SGb 2002, 645, 653). Dem folgt der Senat jedoch nicht. Er sieht keinen Verstoß gegen Art. 14 oder Art. 3 GG. Der Senat lässt es dahingestellt, ob überhaupt der Schutzbereich der Art. 14 GG eröffnet ist. Die hier in Rede stehende gesetzliche Regelung stellt sich jedenfalls als zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung des grundsätzlich geschützten Eigentums dar. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG darf der Gesetzgeber Inhalt und Schranken des Eigentums im Sinne von Art. 14 GG näher bestimmen und eingrenzen, soweit Gründe des öffentlichen Interesses unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dies rechtfertigen (BVerfGE 72, 9, 23) [BVerfG 12.02.1986 - 1 BvL 39/83]. Im Bereich der gesetzlichen Sozialversicherung hat der Gesetzgeber einen weiten Ermessensspielraum, dessen Rahmen insbesondere von der allgemeinen wirtschaftlichen und demografischen Entwicklung einerseits sowie der verfassungsrechtlichen Vorgabe der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der gesetzlichen Regelung andererseits gebildet wird. Die hier streitige gesetzliche Regelung erfüllt diese Anforderungen (so auch Brall, DRV 2003, Heft 3-4, S. 133 ff, LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 27. Juni 2002 - L 1 RA 239/01 - nicht rechtskräftig, Revision anhängig beim BSG - B 4 RA 42/02 R; im Ergebnis auch: LSG Chemnitz, Urteil vom 29. November 2001 - L 6 RJ 291/00, nicht rechtskräftig, Revision anhängig beim BSG - B 5 RJ 44/02 R). Auch ansonsten wurde die hier in Rede stehende Regelung von der Rechtsprechung angewandt, ohne dass dabei Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung angeklungen sind (vgl BSG, Urteile vom 30. Oktober 2001 - B 4 RA 10/00 R = SGb 2002, 99 und B 4 RA 13/00 R nicht veröffentlicht; LSG Niedersachsen, Urteil vom 25. Oktober 2001 - L 1 RA 139/01, nicht veröffentlicht; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11. April 2000 - L 13 RA 1302/99 = E-LSG RA-119; Landessozialgericht Bremen, Urteile vom 16. Dezember 1999 - L 2 RA 25/99, L 2 RA 26/99 und L 2 RA 28/99, nicht veröffentlicht).

16

Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der §§ 183, 193 SGG.

17

Die Revision war gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Eine ausdrückliche höchstrichterliche Entscheidung zu der Frage der Verfassungsmäßigkeit der Regelung liegt bisher nicht vor.