Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 17.09.2003, Az.: L 6 U 348/02

Anspruch auf Gewährung von Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von mindestens 20 von Hundert der Vollrente; Innerer Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem zum Unfall führenden Verhalten, sowie zwischen diesem und dem Unfall und den geltend gemachten Gesundheitsstörungen; Kausalzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der Gesundheitsstörung; Beweis der Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
17.09.2003
Aktenzeichen
L 6 U 348/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 21089
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0917.L6U348.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Oldenburg - 03.06.2002 - AZ: S 7 U 246/01

Redaktioneller Leitsatz

Eine Verletztenrente wird nur gewährt, solange die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge des Arbeitzsunfalls um wenigstens 1/5 oder die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Arbeitsunfällejeweils um mindestens 10 von Hundert gemindert ist und die Summe der durch die einzelnen Unfälle verursachte Minderungen der Erwerbsfähigkeit (MdE) wenigstens 20 von Hundert beträgt.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Oldenburg vom 3. Juni 2002 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

1

I.

Streitig ist Verletztenrente.

2

Der 1956 geborene Kläger erlitt am 24. Januar 2000 einen Arbeitsunfall, als er ausrutschte und mit dem Kopf gegen einen Pfosten und mit dem rechten Knie gegen eine Betonkante stieß. Der Arzt für Allgemeinmedizin Dr. C. diagnostizierte neben einer Prellung des rechten Knies und Schürfwunden der Stirn eine Schädelprellung mit Gehirnerschütterung (Commotio cerebri) und veranlasste eine stationäre Behandlung (H-Arzt-Bericht vom 24. Januar 2000), aus der der Kläger am 28. Januar 2000 entlassen wurde. Während des Aufenthalts war der Kläger kreislaufstabil und neurologisch unauffällig (Krankenbericht vom 3. Februar 2000). In den neurologisch-psychiatrischen Untersuchungen am 26. Januar und 24. Februar 2000 berichtete er über langsam abnehmende Kopfschmerzen und Konzentrationsmangel sowie Aufmerksamkeitsdefizite. Der neurologische und psychische Befund war jeweils unauffällig. Die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie D. bestätigte die Diagnose eines Schädelhirntraumas (SHT I. Grades - Commotio cerebri) mit langsam abklingenden Beschwerden. Eine Hirnverletzung wurde computer- und kernspintomographisch ausgeschlossen (Arztbriefe vom 7. Februar und 23. März 2000). Der Kläger war ab 3. April 2000 wieder arbeitsfähig. Aus der ambulanten Behandlung wurde er am 19. April 2000 entlassen. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit schätzte Dr. E. auf unter 10 vom Hundert (v.H. - Mitteilung vom 19. April 2000).

3

Am 10. Mai 2000 suchte der Kläger wegen erneuter Kopfschmerzen wieder Dr. E. auf. Im Durchgangsarztbericht vom selben Tag ist festgehalten, dass keine Konzentrationsstörungen bestanden. Das sonstige Allgemeinbefinden war unauffällig. Der neurologische Befund war regelrecht. Dr. E. gab dem Kläger Schmerztabletten mit. Am 22. Mai 2000 berichtete der Kläger gegenüber diesem Arzt von Schmerzen auch im Bereich der mittleren Brustwirbelsäule (BWS - Nachschaubericht vom selben Tag). Daraufhin wurde die computertomographische Untersu-chung vom 24. Mai 2000 veranlasst. Dr. E. berichtete der Beklagten, dass die Bildaufnahmen eine "nicht ganz frische Fraktur" des Brustwirbelkörpers (BWK) VIII zeigen würden (Schreiben vom 24. Mai 2000). Auf Nachfrage der Be-klagten führte Dr. F. weiter aus, dass diese Fraktur auf den Arbeitsunfall vom 24. Januar 2000 zurückzuführen sei. Zwar habe der Kläger anfangs keine Beschwerden im Bereich der Wirbelsäule angegeben. Deshalb sei zunächst auch keine radiologische Diagnostik erfolgt. Ein zusätzliches Unfallgeschehen in der Zwischenzeit liege jedoch nicht vor (Schreiben vom 19. Juni 2000). Dem vermochte sich der die Beklagte beratende Chirurg Dr. G. nicht anzuschließen. Die Veränderungen mehrerer BWK auf den Bildaufnahmen würden auf degenerative Schädigungen hinweisen. Bei dem Unfall am 24. Januar 2000 habe auch eine Traumatisierung der BWS nicht vorgelegen. Daraufhin lehnte die Beklagte Ent-schädigungsansprüche über den 2. April 2000 hinaus ab (Bescheid vom 13. Oktober 2000). Im Widerspruchsverfahren holte sie das chirurgische Gutachten des Prof. Dr. H. vom 3. März 2001 ein. Prof. Dr. H. führte aus, bei dem Arbeitsunfall habe der Kläger ein SHT I. Grades und eine Knieprellung rechts erlitten. Beide Gesundheitsstörungen seien folgenlos ausgeheilt. Ob bei dem Arbeitsunfall eine Gewalteinwirkung auch auf die BWS stattgefunden habe, bleibe ungeklärt. Unmittelbar nach dem Unfall habe der Kläger keine Beschwerden im Bereich der BWS angegeben, die bei einer frischen Fraktur eines BWK zu erwarten seien. Erstmals seien Beschwerden im Nachschaubericht vom 22. Mai 2000 dokumentiert. Die gefertigten Bildaufnahmen zeigten eine deutliche Osteoporose der Wirbelkörper und degenerative Veränderungen der gesamten BWS im Sinne eines Morbus Scheuermann. Frakturresiduen seien nicht zu erkennen. Der Interpretation einer nicht ganz frischen Fraktur des BWS VIII könne nicht gefolgt werden. Daraufhin wies die Beklagte den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 27. Juli 2001).

4

Das Sozialgericht (SG) Oldenburg hat die am 10. August 2001 erhobene Klage nach Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid vom 3. Juni 2002 abgewiesen.

5

Gegen den ihm am 19. Juni 2002 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 19. Juli 2002 Berufung eingelegt. Zur Begründung seines Vortrages unfallbedingter Frakturen von BWK hat er das für eine private Unfallversicherung erstattete neurotraumatologische Gutachten des Dr. I. vom 18. August 2001 vorgelegt.

6

Der Kläger beantragt nach dem schriftlichen Vorbringen seiner Prozessbevollmächtigten sinngemäß,

  1. 1.

    den Gerichtsbescheid des SG Oldenburg vom 3. Juni 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 13. Oktober 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juli 2001 aufzuheben,

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, ihm Verletztenrente in Höhe von mindestens 20 v.H. der Vollrente zu zahlen.

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Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG Oldenburg vom 3. Juni 2002 zurückzuweisen.

8

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

9

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung allein durch den Berichterstatter und ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

10

Dem Senat haben neben den Prozessakten die Unfallakten der Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

11

II.

Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Das SG hat die zulässige Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zahlung von Verletztenrente. Denn seine Erwerbsfähigkeit ist infolge des Arbeitsunfalls, den er am 24. Januar 2000 erlitt, nicht in einem rentenberechtigenden Grad, d.h. um mindestens 20 v.H. gemindert (§ 56 Sozialgesetz-buch VII). Diese Wertung stützt der Senat auf das von der Beklagten im Widerspruchsverfahren eingeholte chirurgische Gutachten des Prof. Dr. H. vom 3. März 2001, das er - als Urkundenbeweis (§ 118 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG - i.V.m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung) - zu würdigen hat (BSG, Urteil vom 8. Dezember 1988 - 2/9 b RU 66/87). Demgegenüber vermögen die Ausführungen des Dr. I. in dem für eine private Unfallversicherung erstatteten neurotraumatologischen Gutachten vom 18. August 2001 - das (als von besonderer Sachkunde getragener, qualifizierter Beteiligtenvortrag) zu würdigen ist (BSG, a.a.O.) - nicht zu überzeugen.

12

Bei dem Sturz am 24. Januar 2000 erlitt der Kläger neben einer Prellung des rechten Knies ein SHT I. Grades (Commotio cerebri - Gehirnerschütterung). Eine Verletzung der BWS ist demgegenüber nicht bewiesen. Erhebliche Zweifel an einer Fraktur von BWK bestehen schon auf Grund der Auswertung der Röntgenbefunde durch Prof. Dr. H ... Danach sind allein degenerative Veränderungen der gesamten BWS zu erkennen. Insbesondere bestehen keine knöchernen Reaktionen, die bei frischen Frakturen zu erwarten wären (S. 15 f. des chirurgischen Gutachtens vom 3. März 2001). Entscheidend ist indessen, dass der Kläger erst vier Monate nach dem Arbeitsunfall gegenüber dem Durchgangsarzt Beschwerden der BWS angab. Prof. Dr. H. hat darauf aufmerksam gemacht, dass bei einer Fraktur eines BWK unmittelbar danach Schmerzen verspürt werden. Damit hat sich Dr. I. nicht - auch nicht ansatzweise - auseinander gesetzt. Deshalb überzeugt seine Wertung einer wahrscheinlich unfallbedingten Verletzung der BWS nicht. Die Erklärung des Klägers gegenüber Dr. E., die Rückenschmerzen seien am Anfang infolge der Einnahme von Schmerzmitteln überdeckt gewesen (Vermerk der Beklagten über das mit diesem Arzt am 27. Oktober 2000 geführte Telefongespräch), vermag eine Verletzung der BWS nicht zu beweisen und überzeugt nicht. Denn der Kläger begab sich in den ersten Monaten nach dem Unfall des Öfteren wegen Schmerzen (Kopfschmerzen) in ärztliche Behandlung. Es ist deshalb nicht plausibel, dass aber Schmerzen der BWS durch Schmerzmittel überdeckt gewesen ein sollen.

13

Die Wertung des Prof. Dr. H., dass neben der Prellung des rechten Knies auch das SHT I. Grades folgenlos ausgeheilt ist, überzeugt den Senat ebenfalls. Dr. I. hat ausgeführt, dass die Diskussion um die Ursache von Kopfschmerzen nach einem SHT kontrovers ist. Von wesentlicher Bedeutung sei die Befunderhebung im "Akutstadium" (S. 28, 31 des neurotraumatologischen Gutachtens vom 18. August 2001). Eine Hirnverletzung lag nicht vor, und Prof. Dr. H. hat darauf hingewiesen, dass bereits im Monat nach dem Unfall der neurologisch-klinische Befund wieder unauffällig war. Die Beschwerden klangen langsam ab; grobe Gedächtnis- oder Merkfähigkeitsstörungen bestanden nicht (S. 3 des neurologisch-psychiatrischen Befundberichts vom 24. Februar 2000). Der Kläger war ab 3. April 2000 wieder arbeitsfähig. Deshalb fehlt ein plausibler Anknüpfungsbefund, die ab 10. Mai 2000 dokumentierten erneuten Kopfschmerzen dem Arbeits-unfall mit der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung erforderlichen Wahr-scheinlichkeit zuordnen zu können, zumal im Durchgangsarztbericht vom selben Tag festgehalten ist, dass ansonsten keine Störungen bestanden. Dass vor diesem Hintergrund ein "chronisches posttraumatisches Syndrom" mit Kopfschmerzen und "neuropsychologischen Defiziten sowie Störungen der Befindlichkeit und Affektivität" wahrscheinlich wesentlich durch den Arbeitsunfall (mit)verursacht sind, hat Dr. I. demgegenüber nicht plausibel begründet.

14

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

15

Ein gesetzlicher Grund zur Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegt nicht vor.