Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 30.09.2003, Az.: L 7 AL 172/03
Anspruch auf Arbeitslosenhilfe; Berücksichtigung der Dynamisierung; Wöchentliches Arbeitsentgelt eines Facharbeiters; Berücksichtigung von Lage und Entwicklung des Arbeitmarktes
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 30.09.2003
- Aktenzeichen
- L 7 AL 172/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 16052
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0930.L7AL172.03.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Aurich - AZ: S 5 AL 60/01
Rechtsgrundlagen
- § 44 SGB X
- § 111 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 Buchst a AFG
- § 112a AFG
- § 134 AFG
- § 112 Abs. 7 AFG
- § 136 AFG
Redaktioneller Leitsatz
Das in § 112 Abs. 7 AFG (Arbeitsförderungsgesetz) enthaltene Gebot der Berücksichtigung von Lage und Entwicklung des Arbeitmarktes erfordert es, die tatsächlichen Vermittlungs- und Beschäftigungschancen des Arbeitslosen in eine realistische Beurteilung des fiktiv erzielbaren Arbeitsentgelts einzubeziehen. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass mit Langzeitarbeitslosigkeit der Arbeitsmarkt regelmäßig die Vorstellung einer Qualitätsminderung verbindet und in der Regel Arbeitgeber nicht bereit sind, derartige Arbeitnehmer von Anfang an mit Aufgaben schwieriger Art zu betrauen.
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger beansprucht rückwirkend ab Januar 1993 höhere Arbeitslosenhilfe (Alhi) im Zugunstenwege.
Der am 15. August 1947 geborene Kläger (ab 1993: Steuerklasse I, Kinderfreibeträge auf der Lohnsteuerkarte vermerkt) ist gelernter Elektriker. Er war vom 23. April 1971 bis 7. Februar 1975 als Starkstromelektriker tätig und nahm anschließend an einem Meisterlehrgang teil, den er jedoch nicht abschloss. Vom 23. März bis 18. Dezember 1976 bezog er Arbeitslosengeld (Alg) und seitdem Alhi. Er war vom 2. Mai bis 20. August 1980 als Elektroinstallateur und vom 18. Januar bis 23. Juni 1982 als Nähmaschinenmechaniker beschäftigt.
Durch Bescheid vom 17. Dezember 1992/Änderungsbescheid vom 7. Januar 1993 bewilligte die Beklagte Alhi ab 24. Dezember 1992 bis zum 19. Dezember 1993 nach einem wöchentlichen Bemessungsentgelt von 710,00 DM. Mit Bescheid vom 23. Dezember 1993 bemaß die Beklagte die Alhi ab 20. Dezember 1993 bis zum 19. Dezember 1994 nach einem wöchentlichen Bemessungsentgelt 750,00 DM in Höhe von 282,00 DM wöchentlich. Durch Änderungsbescheid vom 5. Januar 1994/Widerspruchsbescheid vom 25. Februar 1994 setzte die Beklagte die Höhe der wöchentlichen Alhi-Leistung bei einem gerundeten wöchentlichen Arbeitsentgelt von 750,00 DM auf 272,40 DM fest. Die gegen die Absenkung des Alhi-Leistungssatzes gerichtet Klage und Berufung blieben erfolglos (Urteil des Sozialgericht - SG - Aurich - S 5 Ar 50080/94 - vom 4. Juli 1995; Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen - LSG Nds - L 7 AL 302/95 - vom 20. Oktober 1998). Für den folgenden Bewilligungsabschnitt bemaß die Beklagte die Alhi nach einem wöchentlichen Arbeitsentgelt von 770,00 DM (Bescheid vom 28. März 1995 und 11. Januar 1995). Wegen Eintritts einer Sperrzeit hob sie die Bewilligung für die Zeit vom 2. März bis 27. April 1995 auf und bewilligte für die Folgezeit Alhi in gleicher Höhe weiter (Bescheid vom 19. April 1995 und 11. August 1999 - in Ausführung des vor dem LSG - L 8 AL 147/99 - geschlossenen Vergleichs vom 28. Juni 1999/6. Juli 1999).
Ab Beginn des folgenden Bewilligungsabschnitts (20. Dezember 1995) setzte die Beklagte das Bemessungsentgelt auf 740,00 DM wöchentlich herab (Bescheid vom 19. und 21. Dezember 1995/Änderungsbescheid vom 4. Januar 1996). Diese Neufestsetzung beruhte auf § 136 Abs. 2b Satz 1 in Verbindung mit § 112 Abs. 7 Arbeitsförderungsgesetz (AFG). Dabei ging die Beklagte davon aus, der Kläger könne ein Arbeitsentgelt von 19,30 DM pro Stunde bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden erzielen. Mit Dynamisierungsbescheid vom 3. Juli 1996 verminderte die Beklagte den Zahlbetrag ab 1. Juli 1996 mit der Begründung, dass das Bemessungsentgelt gemäß § 136 Abs. 2b AFG n.F. in Verbindung mit § 242v AFG auf 720,00 DM herabzusetzen sei. Das Widerspruchsverfahren verlief erfolglos, die hiergegen gerichtete Klage - S 5 AL 203/96 - nahm der Kläger zurück. Das Bemessungsentgelt von 720,00 DM lag auch dem folgenden Bewilligungsabschnitt vom 20. Dezember 1996 zu Grunde (Bescheid vom 18. Dezember 1996). Gegen den mit Änderungsbescheid vom 2. Januar 1997 verminderten Leistungssatz bei unverändertem Bemessungsentgelt wandte sich der Kläger mit Widerspruch und Klage, die jedoch erfolglos blieben (Widerspruchsbescheid vom 18. Februar 1997; Urteil vom 3. November 1998 - S 5 AL 51/97). Mit Änderungsbescheid vom 2. Juli 1997 senkte die Beklagte das Bemessungsentgelt auf 710,00 DM ab, auch hiergegen legte der Widerspruch und Klage - S 5 AL 3/98 - ein, die er jedoch zurücknahm.
Im Rahmen dieses Widerspruchsverfahrens beantragte der Kläger mit Schriftsatz vom 28. Juli 1997/eingegangen am 30. Juli 1997 die Überprüfung des der Bemessung der Leistung maßgebenden Arbeitsentgeltes. Durch Bescheid vom 5. Februar 2001/Widerspruchsbescheid vom 9. April 2001 lehnte die Beklagte eine Berichtigung der bisherigen Alhi-Bewilligungsbescheide nach § 44 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ab, weil nach den herangezogenen Tarifverträgen für gelernte Elektriker mit Berufserfahrung die Einstufung zutreffend gewesen sei.
Hiergegen hat der Kläger am 8. Mai 2001 Klage mit der Begründung erhoben, der Stundenlohn eines Elektroinstallateurs betrage 30,00 DM. Es sei zu berücksichtigen, dass er die Meisterschule besucht habe, sich zum Betriebsfernsprecher weiter gebildet und als Nähmaschinenmechaniker gearbeitet habe. Die Beklagte hat den am 1. Januar 1991 geltenden Manteltarifvertrag der niedersächsischen Metallindustrie sowie die Lohntafeln für die Zeit ab 1. April 1993 und 1. November 1995 übersandt. Sodann hat das SG mit Urteil vom 26. Februar 2003, auf deren Inhalt verwiesen, die Klage abgewiesen.
Gegen das dem Kläger am 15. März 2003 zugestellte Urteil hat er am 14. April 2003 Berufung eingelegt. Er ist der Auffassung, die Beklagte und das SG gingen zu Unrecht von der Tätigkeitsgruppe 6 (Ecklohngruppe) aus, ihm stünde vielmehr die Tätigkeitsgruppe 9 aus dem Lohntarifvertrag der niedersächsischen Metallindustrie zu. Jedenfalls müsse ein Bemessungsentgelt auf der Grundlage des Verdienstes eines Elektrikers von zurzeit 1.950,00 Euro monatlich/880,12 Euro wöchentlich zu Grunde gelegt werden.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 26. Februar 2003 sowie den Bescheid der Beklagten vom 6. Februar 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. April 2001 aufzuheben,
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Änderung der vorangegangenen Bewilligungs- und Änderungsbescheide höhere Arbeitslosenhilfe ab 1. Januar 1993 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die den Kläger betreffenden Leistungsakten (KundenNr. 92183 - Bände I bis IV) und die Akten des SG Aurich (S 5 AR 50080/94, S 5 AL 133/95, S 5 AL 203/96, S 5 AL 51/97, S 5 AL 3/98 und S 5 AL 37/01) sind Gegenstand des Verfahrens gewesen. Auf die Prozess- und vorerwähnten Beiakten wird wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Sachvortrags der Beteiligten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG), weil er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält; die Beteiligten wurden vorab gehört.
Die Geldleistungen von mehr als 500,00 Euro betreffende Berufung ist zulässig (§§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 151 Abs. 1 SGG), sie ist jedoch nicht begründet.
Gegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens ist der ablehnende Berichtigungsbescheid der Beklagten vom 6. Februar 2001/Widerspruchsbescheid vom 9. April 2001, mit dem es die Beklagte abgelehnt hat, vorangegangene Alhi-Bewilligungsbescheide ab 1. Januar 1993 zu Gunsten des Klägers zu ändern.
Die Alhi-Bewilligungsbescheide für die Zeit vom 1. Januar 1993 bis zum Ende des Bewilligungsabschnitts am 20. Dezember 1997 hat die Beklagte zu Recht nicht gemäß § 44 SGB X zu Gunsten des Klägers geändert. Ungeachtet der übrigen Anspruchsvoraussetzungen der §§ 134 ff AFG stehen dem Kläger keine höheren als die bewilligten Alhi-Ansprüche zu.
Für die Höhe der Alhi sind drei Kriterien von Bedeutung:
- 1.
Das nach § 136 Abs. 2 AFG zu Grunde zu legende wöchentliche Arbeitsentgelt (Bemessungsentgelt), das bis zum Alhi-Reformgesetz grundsätzlich entsprechend § 112a AFG zu dynamisieren war,
- 2.
der Familienstatus, der gemäß § 136 Abs. 1 AFG die Nettolohnersatzquote des um die gewöhnlich anfallenden gesetzlichen Abzüge verminderten Arbeitsentgelts bestimmt und
- 3.
die Lohnsteuerklasse (§ 113 AFG), die für die Leistungsgruppe der AFG-Leistungsverordnung maßgeblich ist (vgl. BSG SozR 3-4100 § 136 Nr. 10 S. 50/51).
Die Beklagte hat ihren Leistungsgewährungen mit Recht Nettolohnersatzquoten von 58 v.H. beziehungsweise ab 1. Januar 1994 57 v.H. (§ 136 Abs. 1 Nr. 1 AFG) sowie nach § 136 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Buchst a AFG die Leistungsgruppe A zu Grunde gelegt. Aber auch ein höheres Bemessungsentgelt als anfänglich 710,00 DM wöchentlich und ab 20. Dezember 1995 von 740,00 DM wöchentlich war der Alhi nicht zu Grunde zu legen. Die Beklagte hat es nachfolgend zu treffend dynamisiert (§ 112a AFG) und die Leistungsbewilligungen unter Beachtung der Alhi-Leistungsverordnung 1993 bis 1997 vorgenommen.
Der Anspruch des Klägers auf Alhi ab 1. Januar 1993 beruht auf einem vorangegangenen Alg-Bezug bis 18. Dezember 1976 (so genannte Anschluss-Alhi, § 134 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4a AFG). Für einen solchen Anspruch ist Bemessungsentgelt das Arbeitsentgelt, nach dem sich zuletzt das Alg gerichtet hat oder, solange der Arbeitslose dieses Arbeitsentgelt aus Gründen, die in seiner Person oder in seinen Verhältnissen liegen, nicht mehr erzielen kann, nach dem Arbeitsentgelt i.S. des § 112 Abs. 7 AFG. Hiervon ausgehend ergab sich unter Berücksichtigung der Dynamisierung (§ 112a AFG) ein Bemessungsentgelt von 710,00 DM. Das der Alhi zu Grunde liegende Bemessungsentgelt war im Übrigen nicht geringer als das Arbeitsentgelt, das der Kläger während der Zwischenbeschäftigungen 1980 und 1982 erzielt hat.
Eine Neubemessung des Alhi-Anspruchs gemäß § 136 Abs. 2b AFG a.F. nach dem erzielbaren Arbeitsentgelt, die zum Dynamisierungsstichtag 19. Dezember 1992 möglich gewesen wäre, hätte ab Januar 1993 zu keiner höheren Leistung geführt. Die Beklagte hat im Bescheid vom 6. Februar 2001 und im Widerspruchsbescheid vom 9. April 2001 mehrere tarifvertragliche Regelung angeführt, nach denen das wöchentliche Arbeitsentgelt eines Facharbeiters (Elektrikers), für die der Kläger nach seiner Ausbildung und beruflichen Tätigkeit in Betracht gekommen wäre, nicht höher gelegen hätte, als das zu Grunde gelegte Bemessungsentgelt von wöchentlich 710,00 DM. Auf diese Ausführungen wird zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen (§§ 136 Abs. 3, 153 Abs. 1 SGG). Eine für den Kläger im Jahre 1993 günstigere tarifvertragliche Regelung ist nicht ersichtlich und wird von ihm auch nicht vorgetragen.
Die auf Grund der in § 136 Abs. 2b Satz 1 AFG enthaltene Rechtsfolgenverweisung nach § 112 Abs. 7 AFG mit Bescheiden vom 19. und 21. Dezember 1995 erfolgte Neubemessung ab 20. Dezember 1995 (Bemessungsentgelt gerundet wöchentlich 740,00 DM) ist nicht zu beanstanden. In Übereinstimmung mit der Beklagten und dem SG gelangt der Senat auf Grund der in § 112 Abs. 7 AFG genannten Kriterien - insbesondere unter billiger Berücksichtigung der Ausbildung des Klägers zum Facharbeiter und seiner zuletzt ausgeübten Beschäftigung als Elektriker - zu dem Ergebnis, dass der Kläger für die Beschäftigung eines Facharbeiters in der Elektroindustrie in Betracht kam. Die Annahme der Beklagten, der Kläger könne dort einen Lohn nach der Vergütungsgruppe 6 (Ecklohn) erzielen, beschwert den Kläger nicht. Jedenfalls kann er keine höhere Einstufung nach der Tätigkeitsgruppe 7 oder mehr verlangen. Wie das SG zutreffend entschieden hat, fallen unter die Tätigkeitsgruppe 7 Arbeiten schwieriger Art, die entsprechende Arbeitskenntnis und Handfertigkeiten sowie Selbstständigkeit erfordern, die über die einer abgeschlossenen Lehrausbildung hinausgehen und durch mehrjährige einschlägige Erfahrung erworben werden. Der Kläger hatte im Dezember 1995 weder eine mehrjährige Berufsbewährung aufzuweisen noch eine realistische Aussicht auf die Betrauung mit Arbeit schwieriger Art. Seit 1975 war er im Wesentlichen arbeitslos und nur kurzzeitig als Facharbeiter tätig gewesen. Mit der Langzeitarbeitslosigkeit verbindet der Arbeitsmarkt regelmäßig die Vorstellung einer Qualitätsminderung und in der Regel sind Arbeitgeber nicht bereit, derartige Arbeitnehmer von Anfang an mit Aufgaben schwieriger Art zu betrauen. Demzufolge hatte der Kläger nicht damit rechnen können, seine berufliche Tätigkeit mit Arbeiten der Tätigkeitsgruppe 7 fortsetzen zu können. Das in § 112 Abs. 7 AFG enthaltene Gebot der Berücksichtigung von Lage und Entwicklung des Arbeitmarktes erfordert es, die tatsächlichen Vermittlungs- und Beschäftigungschancen des Arbeitslosen in eine realistische Beurteilung des fiktiv erzielbaren Arbeitsentgelts einzubeziehen. Das Arbeitslosenschicksal des Klägers ist ein beredter Beleg für seine einschränkten Arbeitsmarktchancen.
Die Herabsetzung des Bemessungsentgelts von 740,00 DM auf 720,00 DM ab 1. Juli 1996 beziehungsweise 710,00 DM ab 1. Juli 1997 entspricht der Dynamisierungsvorschrift des § 136 Abs. 2b AFG n.F. in Verbindung mit § 242v AFG. Damit kann dahinstehen, ob eine Überprüfung im Rahmen des § 44 SGB Xüberhaupt zulässig ist, nachdem mehrere gegen die Höhe der Alhi gerichtete gerichtliche Verfahren erfolglos geblieben sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Es besteht kein gesetzlicher Grund (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG) die Revision zuzulassen.