Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 22.09.2003, Az.: L 9 U 185/02

Anspruch auf Feststellung von Erkrankungen der Lendenwirbelsäule als Folgen einer Berufskrankheit (BK) nach der Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO); Zwang zur Aufgabe der versicherten Tätigkeit durch die Gesundheitsstörung; Beurteilung des Verursachungsgrads der Gesundheitsstörung bei Vorliegen konkurrierender Ursachen; Kausalzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der Gesundheitsstörung; Beweis der Gesundheitsstörung und des Kausalzusammenhangs mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
22.09.2003
Aktenzeichen
L 9 U 185/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 21131
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0922.L9U185.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Oldenburg - 01.03.2002 - AZ: S 7 U 253/01

Redaktioneller Leitsatz

Zu den durch die Berufskrankheiten-verordnung (BKVO) zur Berufskrankheiten bestimmten Erkrankungen gehören nach Nr. 2108 der Anlage zur BKVO auch bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule (LWS), wenn sie durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung entstanden sind und zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um den Anspruch des Berufungsklägers auf Feststellung von Erkrankungen der Lendenwirbelsäule als Folgen einer Berufskrankheit (BK) nach der Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO).

2

Der Berufungskläger war von 1964 bis 1973 als ungelernter Arbeiter im Hochbau, im Maschinenbau und in der Fertigung von Fertighäusern tätig. Von 1973 bis 1998 war er als Monteur im Fensterbau bei der Fa. C. tätig.

3

Im Oktober 2000 wandte er sich an die Berufungsbeklagte und zeigte an, dass er seine Erkrankung an der Wirbelsäule auf die berufliche Tätigkeit zurückführte. Die Berufungsbeklagte leitete Ermittlungen ein, in deren Verlauf sie Befundberichte nebst Anlagen von den Berufungskläger behandelnden Ärzten sowie Vorerkrankungsverzeichnisse der Barmer Ersatzkasse und der Allgemeinen Ortskrankenkasse Quakenbrück beizog.

4

Der Technische Aufsichtsdienst (TAD) gelangte in seiner Stellungnahme vom 12. Februar 2001 nach einer persönlichen Befragung des Berufungsklägers am 08. Februar 2001 zu dem Ergebnis, der Berufungskläger erfülle die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Feststellung einer BK der Nr. 2108 der Anlage zur BKVO unter Berücksichtigung der Maßstäbe des Mainz-Dortmunder-Dosis-Modell.

5

Hingegen gelangte der Orthopäde Dr. D., in seiner Stellungnahme vom 30. Mai 2001 zu dem Ergebnis, der Berufungskläger erfülle die medizinischen Voraussetzungen für die Feststellung einer BK der Nr. 2108 der Anlage zur BKVO nicht. Zur Begründung verwies er insbesondere darauf, bei dem Berufungskläger liege kein belastungskonformes Schadensbild vor. Einerseits könne auch eine Degeneration der Halswirbelsäule (HWS) festgestellt werden. Daneben seien an der Lendenwirbelsäule (LWS) verschiedene Anomalien feststellbar. Zum Einen liege eine starke Lordose vor; zum Anderen weise die LWS eine Fehlausbildung dergestalt auf, dass sie 6-gliedrig aufgebaut sei. Darüber hinaus ließen sich im oberen Teil der LWS keine belastungsadaptiven Erscheinungen feststellen.

6

Dem folgend lehnte die Berufungsbeklagte mit Bescheid vom 07. Juni 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. August 2001 die Feststellung einer BK der Nr. 2108 der Anlage zur BKVO ab.

7

Am 27. August 2001 ist Klage erhoben worden.

8

Das Sozialgericht (SG) Oldenburg hat die Klage nach vorheriger Anhörung der Beteiligten mit Gerichtsbescheid vom 01. März 2002 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen darauf hingewiesen, die Wahrscheinlichkeit der Verursachung der wirbelsäulenbedingten Beschwerden des Berufungsklägers ließe sich nicht feststellen, da bei ihm kein belastungskonformes Schadensbild vorliege.

9

Gegen den Bevollmächtigten am 12. März 2002 zugestellten Gerichtsbescheid ist am 11. April 2002 Berufung eingelegt worden. Zu deren Begründung macht der Berufungskläger im Wesentlichen geltend, angesichts der Schwere seiner Tätigkeit liege die beruflich bedingte Verursachung seiner Erkrankung auf der Hand.

10

Der Berufungskläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,

  1. 1.

    den Gerichtsbescheid des Sozialgerichtes Oldenburg vom 01. März 2002 sowie den Bescheid der Holz-Berufsgenossenschaft vom 07. Juni 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. August 2001 aufzuheben,

  2. 2.

    die Berufungsbeklagte zu verurteilen, bei ihm das Vorliegen einer Berufskrankheit der Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung festzustellen,

  3. 3.

    die Berufungsbeklagte zu verurteilen, ihm eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 v.H. zu bewilligen.

11

Die Berufungsbeklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

12

Zur Begründung bezieht sie sich auf ihre angefochtenen Bescheide, den erstinstanzlichen Gerichtsbescheid sowie das Ergebnis der weiteren Sachverhaltsaufklärung durch das Berufungsgericht.

13

Der Senat hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts ein Gutachten des Orthopäden und Sozialmediziners Dr. E. vom 16. Juli 2003 beigezogen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten Bezug genommen.

14

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den Inhalt des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Berufungsbeklagten (1 Bd. zum Az.: F.) Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

15

Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten in Anwendung von §§ 155, 124 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch den Berichterstatter als Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung.

16

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

17

Das SG hat zu Recht erkannt, dass der Berufungskläger keinen Anspruch auf Feststellung der Erkrankungen seiner LWS als Folge einer BK nach der Nr. 2108 der Anlage zur BKVO hat. Nach § 9 Abs. 1 SGB VII sind Berufskrankheiten solche Erkrankungen, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge der versicherten Tätigkeit erleiden. Zu den durch die BKVO zur Berufs-krankheiten bestimmten Erkrankungen in diesem Sinne gehören nach Nr. 2108 der Anlage zur BKVO auch bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS, wenn sie durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung entstanden sind und zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.

18

Das Gericht geht mit Dr. E. davon aus, dass es sich bei der Wirbelsäulenerkrankung die bei dem Berufungskläger in den Segmenten L4 bis S 1 der LWS vorliegt, um eine bandscheibenbedingte Erkrankung handelt. Der Berufungskläger erfüllt - wie sich aus der zitierten Stellungnahme des TAD ergibt - auch die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Feststellung der streitigen BK. Die Erkrankung ist dennoch nicht als BK anzuerkennen und zu entschädigen.

19

Vom Vorliegen der BK ist deswegen nicht auszugehen, weil der Berufungskläger die Schäden in seiner LWS nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit infolge seiner versicherten Tätigkeit erlitten hat. Die Möglichkeit, dass die beruflichen Belastungen die Wirbelsäulenerkrankung des Berufungsklägers wesentlich (mit-) verursacht oder richtunggebend verschlimmert haben, ist nämlich nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht wahrscheinlicher als die Möglichkeit, dass eine solche wesentliche Mitverursachung oder richtunggebende Verschlimmerung nicht stattgefunden hat.

20

Soweit der 6. Senat des LSG Niedersachsen Zweifel daran geäußert hat, ob der medizinische Kenntnisstand über die Entstehung bandscheibenbedingter Erkrankungen der LWS im Falle der BK 2108 überhaupt bereits deren Einführung als BK erlaubt habe (LSG Niedersachsen, Urt. v. 05. Februar 1998 - Az.: L 6 U 178/97), sind diese durch Urteil des Bundessozialgerichts vom 23. März 1999 ausgeräumt worden (Az.: B 2 U 12/98 R, SozR 3-2200, § 551 Nr. 12). Danach ist in der medizinischen Wissenschaft in einer für die Einführung der BK 2108 hinreichenden Weise belegt, dass langjähriges Heben und Tragen zu einem statistisch signifikant erhöhten Auftreten der von der BK Nr. 2108 erfassten bandscheibenbedingten Erkrankungen der LWS führt. Diese epidemiologische Erkenntnis begründet indessen nicht auch eine Vermutung dafür, dass bei Versicherten die langjährig schwer gehoben oder getragen haben und deshalb die arbeitstech-nischen Voraussetzungen der BK 2108 erfüllen, eine im Einzelfall vorliegende bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS ursächlich oder wesentlich mitursächlich auf die versicherte Tätigkeit zurückzuführen ist (so ausdrücklich BSG, Urt. v. 18. November 1997, Az. 2 RU 48/96 - SGb 1999, 39 ff; vgl. auch Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl. 2003, unter 8.3.5.5, S. 564 f). Eine solche indizielle Bedeutung kann dem langjährigen Heben und Tragen schwerer Lasten bereits deshalb nicht zugemessen werden, weil es nach gesicherter, medizinischer Erkenntnis in einer Vielzahl von Fällen ohne die Folge einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS bleibt. Zur Beurteilung im Rechtssinn bedarf es daher eines über die Erfüllung der arbeitstechnischen Voraussetzungen hinausreichenden Nachweises überwiegender Wahrscheinlichkeit der Verursachung im konkreten Einzelfall. Er kann aus Gründen der Logik nicht bereits dadurch erbracht werden, dass Umstände, die gegen eine Verursachung sprechen oder diese sogar schlechthin ausschließen, nicht vorliegen. Denn das bloße Fehlen solcher Negativkriterien kann die Verursachung immer nur im Sinne einer neutralen Beweislage möglich, nicht aber überwiegend wahrscheinlich machen. Hierzu bedarf es vielmehr des Vorliegens von Gesichtspunkten, die in Abgrenzung zu anderen möglichen Schadensursachen, wie insbesondere schicksalhaften, degenerativen Prozessen, für eine Verursachung gerade durch die langjährig rückenbelastende Tätigkeit sprechen und in diesem Sinne als "Positivkriterien" bei der gebotenen Gesamtwürdigung die etwa vorliegenden "Nega-tivkriterien" überwiegen (vgl. BSG, Urt. v. 18. November 1997, a.a.O.). Hierfür kommen aus bisher herrschender medizinischer Sicht vor allem ein zumindest ursachenkonformes Schadensbild im Sinne einer Schadenskonzentration auf die unteren Wirbelsäulensegmente und dessen ursachenkonforme zeitliche Entstehung im Sinne einer gegenüber dem Altersdurchschnitt vorauseilenden Schadensausbildung in Betracht (vgl. m.w.N. auch zu den im Einzelnen divergierenden medizinischen Auffassungen Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 578 f auch zum Nachstehenden). Daneben ist anerkannt, dass die bildtechnisch nachweisbaren segmentalen Bandscheibenveränderungen und deren Folgen das altersdurchschnittlich zu erwartende Ausmaß im Falle einer beruflich verursachten LWS-Erkrankung überschreiten (so auch Schröter, in Trauma und Berufskrankheit, 1/2002, S. 127 ff).

21

Im Falle des Berufungsklägers vermag der Senat ein Überwiegen derjenigen Gesichtspunkte, die für eine berufliche Verursachung des bestehenden Wirbelsäulenleidens sprechen (Positivkriterien) gegenüber den gegen eine solche Verursachung sprechenden Gesichtspunkten (Negativkriterien) nicht festzustellen.

22

Insoweit hat das Ergebnis der Beweisaufnahme ergeben, dass das bei dem Berufungskläger vorliegende Schadensbild an der gesamten Wirbelsäule darauf hindeutet, dass die Wirbelsäulenerkrankung des Berufungsklägers nicht mit Wahrscheinlichkeit auf eine berufliche Verursachung zurückgeführt werden kann. Insoweit liegt der Schadensschwerpunkt an der Wirbelsäule des Berufungsklägers nach den überzeugenden Ausführungen des Gutachters Dr. E. eher an der HWS als an der LWS. Weiter hat Dr. E. für das Gericht überzeugend darauf hingewiesen, dass 1998, als es zur akuten Erkrankung kam, kein altersvorauseilendes Schadensbild an der Wirbelsäule des Berufungsklägers festgestellt werden konnte. Weiter hat Dr. E. ebenfalls herausgearbeitet, dass die oberen Abschnitte der LWS des Berufungsklägers nicht degenerativ geschädigt sind, was indessen bei einer Veränderung der LWS auf Grund beruflicher Belastung zu erwarten gewesen wäre.

23

Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung von §§ 183, 193 SGG.

24

Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG.