Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 22.09.2003, Az.: L 5 V 16/03

Umfang und Bewertung von Schädigungsfolgen; Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen; Vorliegen einer arteriellen Verschlusskrankheit; Berücksichtigung der versorgungsärztlichen Stellungnahmen; Feststellung der Gesamtbeeinträchtigung durch Rechenoperationen

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
22.09.2003
Aktenzeichen
L 5 V 16/03
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 21129
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0922.L5V16.03.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - AZ: S 18 V 44/99 ZE

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Nicht nach dem Bundesversorgungsrecht zu bewerten sind Beschwerden, die durch eine schicksalhafte Gefäßerkrankung bedingt sind und nicht durch die Schädigung.

  2. 2.

    Bei der Gesamtbeeinträchtigung handelt es sich um eine Gesamtbewertung und Gesamtbetrachtung der Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander.

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

1

I.

Die Berufung betrifft Umfang und Bewertung von Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

2

Der am E. geborene Kläger erlitt am 24. Oktober 1945 bei Minenräumarbeiten Verletzungen. Die Schädigungsfolgen bezeichnete das Versorgungsamt (VA) zuletzt mit Bescheid vom 5. September 1990 unter Bewertung mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 v.H. nach § 30 Abs. 1 und 2 BVG wie folgt:

3

Verlust des linken Oberschenkels, Weichteilstecksplitter im rechten Oberschenkel, in der Umgebung des rechten Kniegelenks und im rechten Unterschenkel mit kleinen Knochennarben im oberen Drittel des rechten Schienbeins, reizlose alte Operationsnarbe an der Außenseite des rechten Oberschenkels und Kniegelenks sowie Knochennarbe am äußeren Oberschenkelknorren, Linksausbiegung der Lendenwirbelsäule, entsprechende einseitige (konkavseitige) Aufbrauchprozesse der Lendenwirbelsäule, aufgehobene Lendenwirbelsäulenbeweglichkeit.

4

Zu Grunde lag ein versorgungsärztliches Untersuchungsgutachten der Frau Dr. F. vom 23. Juli 1990.

5

Im September 1993 beantragte der Kläger die Neufeststellung der Schädigungsfolgen wegen einer bei ihm bestehenden Gefäßkrankheit sowie die Neubewertung mit einer MdE um 100 v.H. nach § 30 Abs. 1 BVG. Die MdE müsse auch wegen heftiger Stumpfbeschwerden angehoben werden. Zur Begründung stützte er sich auf ein Attest des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. G. sowie auf einen Arztbrief des Radiologen Dr. H ... Nachdem der Chirurg und Gefäßchirurg Dr. I. im Schwerbehindertenverfahren ein Untersuchungsgutachten vom 10. Februar 1994 erstattet hatte, lehnte das VA nach versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Chirurgen Dr. J. vom 27. Juni 1994 und 9. August 1994 den Antrag ab (Bescheid vom 15. August 1994), weil die Voraussetzungen des § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) nicht festzustellen seien. Seinen Widerspruch stützte der Kläger darauf, er habe nur im Stumpfbereich, nicht jedoch im Bereich des rechten Beines Durchblutungsstörungen, deshalb liege der Zusammenhang mit den Kriegsschäden auf der Hand. Nach versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Herrn K. sowie des Dr. L. blieb der Widerspruch erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 24. März 1995).

6

Hiergegen hat sich der Kläger mit der am 31. März 1995 beim Sozialgericht (SG) Hannover eingegangenen Klage gewandt. Das SG hat einen Befundbericht des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. G. (mit Arztbriefen des Orthopäden Dr. M., des Internisten Dr. H. und der Chirurgischen Abteilung des Kreiskrankenhauses N.) eingeholt und durch Urteil vom 28. Januar 2003 die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen, auf die wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, hat es ausgeführt, die Gesundheitsstörung "chronische arterielle Verschlusskrankheit, vorwiegend vom Beckentyp links, im Stadium III b nach Fontaine" könne nicht als weitere Schädigungsfolge festgestellt werden. Zwischen der arteriellen Verschlusskrankheit und den Schädigungsfolgen fehle es nach den medizinischen Ermittlungen am erforderlichen Ursachenzusammenhang. Denn das Gefäßleiden könne schon deshalb nicht auf die Oberschenkelamputation zurückgeführt werden, weil die Durchblutungsstörungen bereits im Beckenbereich aufträten. In 90 % der arteriellen Verschlusskrankheiten liege die Ursache in degenerativen Gefäßkrankheiten, lediglich in 10 % bei entzündlichen Angiopathien. Die häufigste degenerative Arteriopathie sei die Arteriosklerose. Die als Risikofaktoren hierfür bekannten Erkrankungen "arterielle Hypertonie und Fettstoffwechselstörung" seien bei dem Kläger bereits am 1. August 1988 diagnostiziert worden. Eine höhere Bewertung der anerkannten Schädigungsfolgen sei nach § 48 SGB X in Verbindung mit den Bewertungsmaßstäben der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) nicht zu rechtfertigen. Eine wesentliche Verschlimmerung sei nicht eingetreten. Sie sei auch wegen der bestehenden Stumpfbeschwerden nicht gerechtfertigt. Denn in der Einschätzung der Schädigungsfolge "Verlust des linken Oberschenkels" mit einem Einzelwert von 80 v.H. nach § 30 Abs. 1 BVG sei nach den Maßstäben der AHP (AHP 1983, S. 113; AHP 1996, S. 148) bereits eine ausreichende Berücksichtigung der hiermit verbundenen Stumpfbeschwerden erfolgt. Darüber hinaus sei jedenfalls der Großteil der Oberschenkelstumpfbeschwerden auf die schicksalsbedingte Durchblutungserkrankung zurückzuführen und könne deshalb bei der Einschätzung der MdE des anerkannten Kriegsleidens nicht berücksichtigt werden. Dies ergebe sich aus der orthopädisch diagnostizierten Art der Beschwerden als Claudicatio intermittens (zeitweiliges Hinken wegen auf Grund einer Verminderung des Sauerstoffgehaltes im Blut auftretender Schmerzen, die bei ungenügender Mehrdurchblutung während einer Mehrarbeit der Muskulatur auftreten).

7

Gegen das am 28. März 2003 zugestellte Urteil hat der Kläger am 25. April 2003 Berufung eingelegt. Er stützt sie darauf, das VA habe rechtswidrig die Kriegsbeschädigung des rechten Beines in der Bewertung gestrichen, auch der kriegsbedingte Anteil der Wirbelsäulenschädigung mit einem Wert von 10 v.H. sei nicht mehr berücksichtigt worden. Der hierin liegende Rechtsverstoß des VA müsse korrigiert werden. Im Übrigen vertieft der Kläger sein erstinstanzliches Vorbringen.

8

Der Kläger beantragt schriftsätzlich dem Sinne nach,

  1. 1.

    das Urteil des SG Hannover vom 28. Januar 2003 und den Bescheid vom 15. August 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. März 1995 aufzuheben,

  2. 2.

    "chronische arterielle Verschlusskrankheit, vorwiegend vom Beckentyp links, im Stadium III b nach Fontaine" als weitere Schädigungsfolge festzustellen,

  3. 3.

    den Beklagten zu verpflichten, ab September 1993 Beschädigtenversorgung nach einer MdE um 100 v.H. nach § 30 Abs. 1 BVG zu gewähren.

9

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

10

Der Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

11

Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge haben die den Kläger betreffenden Beschädigten-Akten (Grundlisten-Nr. O.) sowie die Schwerbehinderten-Akten (Az.: P.) des VA Oldenburg - Außenstelle Osnabrück - vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

12

II.

Der Senat entscheidet nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss, weil er einstimmig die Berufung für nicht begründet und eine mündliche Verhandlung für entbehrlich hält.

13

Die gemäß § 143 SGG zulässige Berufung ist nicht begründet. Denn weder kann eine weitere Schädigungsfolge festgestellt werden, noch haben sich die anerkannten Schädigungsfolgen wesentlich verschlimmert, sodass die MdE gemäß § 30 Abs. 1 BVG höher zu bewerten wäre.

14

Nicht ergänzungsbedürftig hat das SG im angefochtenen Urteil die Voraussetzungen für die Feststellung einer Schädigungsfolge gemäß § 1 BVG dargestellt. Zur Vermeidung überflüssiger Wiederholungen nimmt der Senat hierauf Bezug. Zutreffend hat das SG auch das Ergebnis der medizinischen Ermittlungen bewertet, indem es festgestellt hat, dass die Verschlusskrankheit des Klägers mit den anerkannten Schädigungsfolgen nicht in Zusammenhang zu bringen ist. Auch insoweit nimmt der Senat auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil Bezug und stützt sich zur Zurückweisung der Berufung hierauf, § 153 Abs. 2 SGG. Ergänzend ist hinzuzufügen, dass arterielle Verschlusskrankheiten durch stenosierende (verengende) bzw. obliterierende (verschließende) Veränderungen an Arterien verursacht werden. Wesentlich ist dabei, dass die Verschlüsse zentraler Arterien meist singulär auftreten und auf ein Segment begrenzt sind. Dabei betreffen periphere arterielle Verschlusskrankheiten meist Arterien der unteren Extremität (vgl. dazu Pschyrembel, Stichwort Verschlusskrankheiten, arterielle). Bei dem Kläger liegt indes nicht lediglich eine singuläre und auf ein Segment begrenzte Erkrankung vor. Vielmehr hat Dr. I. in seinem gefäßchirurgischen Untersuchungsgutachten vom 10. Februar 1994 darauf hingewiesen, dass auch über der rechten Arteria femoralis, also im Bereich des rechten Oberschenkels, ein Gefäßgeräusch zu hören war. Solche Gefäßgeräusche zeigen jedoch oft eine gestörte Blutzirkulation an (vgl. Stobbe/Baumann, Innere Medizin, 7. Auflage 1996 S. 315). Zutreffend ist auch in den versorgungsärztlichen Stellungnahmen darauf hingewiesen worden, dass die arterielle Verschlusskrankheit des Klägers erst lange Zeit nach der Kriegsbeschädigung aufgetreten ist. Auch dies spricht für einen schicksalhaften schädigungsunabhängigen Verlauf, denn Verschlusskrankheiten vom Beckentyp, wie sie beim Kläger aufgetreten ist, treten vorwiegend bei Männern im Alter zwischen 40 und 60 Jahren auf. Nach den Feststellungen des Dr. I. ist die Erkrankung des Klägers sogar noch später, nämlich erstmalig im August 1993 belegt. Danach lässt sich ein Zusammenhang mit der Amputation des linken Beines im Oberschenkel im Sinne des § 1 Abs. 3 BVG nicht herstellen.

15

Zutreffend und nicht ergänzungsbedürftig hat das SG schließlich auch die Voraussetzungen des § 48 SGB X im Hinblick auf die Bewertung der MdE verneint. Nach den AHP (AHP 1996 S. 148) ist mit einer MdE um 80 v.H. der Verlust eines Beines im Hüftgelenk oder mit sehr kurzem Oberschenkelstumpf zu bewerten. Unter einem sehr kurzen Oberschenkelstumpf ist ein solcher zu verstehen, der eine gleiche Funktionseinbuße wie der Verlust des Beines im Hüftgelenk selbst bedingt. Das ist immer dann der Fall, wenn die Absetzungsebene in der Höhe des Trochanter minor liegt. Dem Kläger ist jedoch ein längerer Oberschenkelstumpf erhalten geblieben mit der Folge, dass er eine Beinprothese tragen kann. Der Verlust seines Beines im Oberschenkel ist demgemäß mit einer MdE von 70 zu bewerten (AHP a.a.O.). Angesichts dessen ist die zu Grunde gelegte MdE um 80 v.H. Ergebnis der Mitbewertung der Stumpfbeschwerden. Zutreffend ist auch die Feststellung des SG, dass die nicht durch die Schädigung, sondern durch die schicksalhafte Gefäßerkrankung bedingten Stumpfbeschwerden nicht nach dem BVG bewertet werden können.

16

Im Hinblick auf das Vorbringen des Klägers sowohl zur Begründung der Klage als auch der Berufung ist darauf hinzuweisen, dass die Gesamtbeeinträchtigung nicht durch Rechenoperationen festgestellt werden darf. Vielmehr handelt es sich um eine Gesamtbewertung und Gesamtbetrachtung der Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander. Von Ausnahmefällen, die hier nicht vorliegen, abgesehen, führen leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen MdE-Grad um 10 v.H. bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, und zwar auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen (AHP 1996, S. 35).

17

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

18

Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.