Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 03.09.2003, Az.: L 6 U 321/02

Anspruch auf auf Verletztengeld oder Verletztenrente ; Anspruch auf Teilrente (sog. Stützrente) bei Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um mindestens 20 von Hundert; Beckenprellung als eine ihrer Natur nach folgenlos abklingende Gesundheitsstörung; Innerer Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem zum Unfall führenden Verhalten, sowie zwischen diesem und dem Unfall und den geltend gemachten Gesundheitsstörungen; Kausalzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der Gesundheitsstörung; Beweis der Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
03.09.2003
Aktenzeichen
L 6 U 321/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 20984
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0903.L6U321.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Braunschweig - 18.04.2002 - AZ: S 6 U 88/99

Redaktioneller Leitsatz

Eine Verletztenrente wird nur gewährt, solange die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge des Arbeitsunfalls um wenigstens 1/5 oder die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Arbeitsunfälle jeweils um mindestens 10 von Hundert gemindert ist und die Summe der durch die einzelnen Unfälle verursachte Minderungen der Erwerbsfähigkeit (MdE) wenigstens 20 von Hundert beträgt.

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 18. April 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

1

I.

Die Klägerin begehrt die Zahlung einer Verletztenrente ab dem 1. März 1999, außerdem wendet sie sich gegen die Rückforderung von Verletztengeld für den Zeitraum vom 19. November 1998 bis 28. Februar 1999. Die 1934 geborene Klägerin ist als Unternehmerin bei der Beklagten versichert. Am 24. Oktober 1997 rutschte sie beim Betreten ihres Geschäfts aus und fiel auf das Gesäß. Am selben Tag suchte sie ihre Hausärztin Dr. C. auf und am 27. Oktober 1997 den Durchgangsarzt Dr. D. (E.). Bei der Untersuchung durch Dr. D. fanden sich keine äußeren Verletzungszeichen, jedoch ein geringer Druckschmerz über dem lateralen Beckenkamm. Die röntgenologische Untersuchung der rechten Hüfte ergab keine knöchernen Verletzungen. Dr. D. diagnostizierte eine Prellung des rechten Beckenkamms und empfahl Salbenverbände. Am 2. Februar 1998 berichtete er über eine deutliche Gangunsicherheit auf Grund einer am 24. Oktober 1997 erlittenen schweren Beckenprellung. In der Folgezeit war die Klägerin wegen dieser Gangunsicherheit in Behandlung bei Dr. D. und erhielt von der Beklagten Verletztengeld. Mit Bescheid vom 15. Dezember 1998 gewährte die Beklagte einen Vorschuss auf das Verletztengeld für die Zeit vom 19. November bis 31. Dezember 1998 in Höhe von 3.367,56 DM. In dem Bescheid heißt es u.a.: "Diese Zahlung erfolgt unter dem Vorbehalt, dass unsere Entschädigungspflicht anerkannt wird und Leistungen mindestens in Höhe der gezahlten Vorschüsse zu gewähren sind. Für den Fall, dass unsere Leistungspflicht nicht besteht oder die endgültig zu gewährenden Leistungen niedriger sind als die gezahlten Vorschüsse, ist der überzahlte Betrag zu erstatten ... Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass die Vorschusszahlung unter Vorbehalt erfolgt. Zur Zeit ist nicht geklärt, ob bei ihnen überhaupt noch unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit gegeben ist". Mit weiteren Bescheiden vom 25. Januar 1999, 19. Februar 1999 und 5. März 1999 gewährte die Beklagte weitere Vorschüsse in Höhe von 3.400,00 DM (Arbeitsunfähigkeitszeit bis einschließlich 28. Februar 1999). Außerdem holte die Beklagte das Gutachten des Dr. F. vom 17. Februar 1999 ein. Nach dessen Beurteilung hat die Klägerin bei dem Unfall am 24. Oktober 1997 eine Beckenprellung ohne wesentliche Komplikationen erlitten, die zu einer Arbeitsunfähigkeit von ca. 8 Wochen geführt hat. Die subjektiv geklagten Beschwerden und die demonstrative Gangbildstörung ließen sich - so Dr. F. - durch pathologische Befunde auf unfallchirurgischem Gebiet nicht erklären. In ihrem neurologischen Gutachten vom 26. April 1999 konnten Dres. G. ebenfalls keine Verletzungsfolgen auf neurologischem Gebiet feststellen. Die gezeigte Gangstörung sei als relativ bewusstseinsnahe demonstrative Aggravation einzuordnen. Bei Ablenkung normalisiere sich das Gangbild.

2

Mit Bescheid vom 6. Mai 1999 lehnte die Beklagte die Zahlung einer Verletztenrente mit der Begründung ab, unfallbedingt habe eine Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit nur bis zum 19. Dezember 1997 (8 Wochen nach dem Unfall) bestanden. Den Widerspruch der Klägerin wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 24. Juni 1999 zurück. Dagegen hat die Klägerin am 1. Juli 1999 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Braunschweig erhoben.

3

Nach Anhörung forderte die Beklagte mit Bescheid vom 12. August 1999 Vorschusszahlungen in Höhe von 6.767,56 DM zurück. Den Widerspruch der Klägerin wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 27. September 1999 zurück. Gegen diesen Widerspruchsbescheid hat die Klägerin am 7. Oktober 1999 Klage vor dem SG Braunschweig erhoben (Az. S 6 U 136/99). Das SG hat beide Verfahren zur gemeinsamen Entscheidung und Verhandlung verbunden. Die Klägerin hat den Arztbrief des Orthopäden H. vom 22. Juli 1999 eingereicht.

4

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 18. April 2002 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Klägerin stehe ab 19. November 1998 weder Verletztengeld noch Verletztenrente zu. Das vorschussweise gezahlte Verletztengeld sei zurückzuzahlen, weil sich der in den Bescheiden enthaltene Vorbehalt der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit realisiert habe.

5

Gegen dieses am 12. Juni 2002 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 4. Juli 2002 Berufung eingelegt, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt.

6

Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,

  1. 1.

    das Urteil des SG Braunschweig vom 18. April 2002 und die Bescheide der Beklagten vom 6. Mai 1999 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Juni 1999 und vom 12. August 1999 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 1999 aufzuheben,

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. März 1999 Verletztenrente in Höhe von mindestens 20 v.H. der Vollrente zu zahlen.

7

Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,

die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Braunschweig vom 18. April 2002 aufzuheben.

8

Die Beklagte hält das Urteil des SG und ihre Bescheide für zutreffend.

9

Die Beteiligten sind mit Verfügungen der Berichterstatterin vom 23. Juni und 24. Juli 2003 darauf hingewiesen worden, dass der Senat beabsichtigt, über die Berufung nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu entscheiden. Ihnen ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.

10

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte Bezug genommen. Der Entscheidungsfindung haben die Verwaltungsakten der Beklagten zu Grunde gelegen.

11

II.

Der Senat konnte über die gemäß §§ 143 und 144 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung nach vorheriger Anhörung der Beteiligten durch Beschluss entscheiden, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (vgl. § 153 Abs. 4 SGG).

12

Die Beklagte hat zu Recht Ansprüche der Klägerin auf Verletztengeld oder Verletztenrente ab dem 19. November 1998 verneint (1.). Die Klägerin ist auch verpflichtet, der Beklagten das für den Zeitraum vom 19. November 1998 bis 28. Februar 1999 gezahlte Verletztengeld in Höhe von 6.767,56 DM zu erstatten.

13

1.

Gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII wird Verletztengeld erbracht, wenn der Versicherte infolge des Arbeitsunfalls arbeitsunfähig ist. Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII besteht ein Anspruch auf Verletztenrente, wenn die Erwerbsfähigkeit des Versicherten infolge eines Arbeitsunfalls um wenigstens 20 v.H. gemindert ist. Die Voraussetzungen dieser gesetzlichen Bestimmungen sind hier nicht erfüllt. Denn seit dem 19. November 1998 lassen sich keine Folgen des Arbeitsunfalls vom 24. Oktober 1997 feststellen, die zu einer Arbeitsunfähigkeit der Klägerin oder zu einer MdE um mindestens 20 v.H. führen könnten. Zu dieser Beurteilung kommt der Senat nach Auswertung der im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten und weiteren ärztlichen Berichten. Bei dem Sturz hat die Klägerin eine Beckenprellung erlitten. Dabei handelt es sich um eine ihrer Natur nach folgenlos abklingende Gesundheitsstörung. Dagegen vermochte der Senat nicht festzustellen, dass die von der Klägerin angegebenen Schmerzen im Bereich des Beckens und der Hüfte und die damit verbundene Gangunsicherheit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf den Arbeitsunfall zurückzuführen sind. Es bestehen schon Zweifel, ob diese Symptomatik tatsächlich in dem von der Klägerin angegebenen Ausmaß vorliegt. Dagegen spricht, dass sowohl Dr. D. (Bericht vom 1. Dezember 1998) als auch Dres. I. die Gangstörung im Sinne einer demonstrativen Aggravation eingeordnet haben und die Klägerin nach den Beobachtungen von Dres. I. bei Ablenkung ein normales Gangbild aufwies. Zweifel an der angegebenen Symptomatik bestehen außerdem, weil die Umfangsmaße der unteren Extremitäten fast seitengleich sind. Dies lässt nur den Schluss auf eine geringe Schonung des rechten Beines zu. Darauf hat Dr. F. zu Recht hingewiesen. Dies kann jedoch dahinstehen. Denn entscheidend gegen einen Zusammenhang zwischen dem Unfall und der Schmerzsymptomatik bzw. der Gangstörung spricht, dass es bei dem Unfall nicht zu Verletzungen gekommen ist, die die Beschwerden der Klägerin erklären könnten: Bei der Erstuntersuchung durch Dr. D. fanden sich keine äußeren Verletzungszeichen, es bestand lediglich ein geringer Druckschmerz über dem lateralen Beckenrand. Bei der röntgenologischen Untersuchung fand sich keine knöcherne Verletzung. Auch die folgenden Untersuchungen haben keinen Hinweis auf Verletzungsfolgen auf unfallchirurgischem und/oder neurologischem Gebiet ergeben (vgl. Behandlungsberichte Dr. D., Gutachten Dr. F., Gutachten Dres. I.).

14

Entgegen der Ansicht der Klägerin ist ein Zusammenhang zwischen dem Unfall und ihren Beschwerden auch nicht dadurch belegt, dass Dr. D. ihr - über die 8. Woche nach dem Unfall hinaus - durchgehend Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausgestellt hat. Denn den Berichten von Dr. D. lässt sich nicht entnehmen, in welcher Weise der Unfall ursächlich für diese Beschwerden gewesen sein soll. Im Gegenteil hat auch dieser Arzt bereits am 1. Juli 1998 darauf hingewiesen, dass die Schmerzen nicht eindeutig mit der Beckenprellung zu erklären seien. Der Senat hatte bei der auf Zahlung von Verletztenrente gerichteten Klage nur zu prüfen, ob die Klägerin ab 1. März 1999 Anspruch auf Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung hat, nicht jedoch, ob die Verletztengeldzahlungen zu Unrecht erfolgt sind. Eine für die Klägerin günstigere Beurteilung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung des Behandlungsberichtes des Orthopäden H. vom 22. Juli 1999. Denn dieser Arzt teilt keine objektiven Unfallfolgen mit, sondern lediglich die von der Klägerin subjektiv angegebenen Beschwerden. Schließlich lässt sich auch nicht aus der Tatsache, dass der Klägerin von Dr. J. ein TNS-Gerät verordnet worden ist, daraus schließen, dass die angegebenen Schmerzen unfallbedingt sind.

15

2.

Die Beklagte war auch berechtigt, von der Klägerin das für den Zeitraum vom 19. November 1998 bis 28. Februar 1999 gezahlte Verletztengeld zurückzufordern. Denn die endgültige Leistungsfeststellung hat nach Einholung der Zusammenhangsgutachten von Dr. K. ergeben, dass der Klägerin jedenfalls ab dem 19. November 1998 kein Verletztengeld mehr zustand. Zwar konnte die Beklagte die Rückforderung nicht auf § 42 Abs. 2 SGB I stützen, weil diese Vorschrift hier nicht anwendbar ist. Nach § 42 Abs. 1 Satz 1 SGB I kann der zuständige Leistungsträger Vorschüsse zahlen, wenn ein Anspruch auf Geldleistungen dem Grunde nach besteht und zur Feststellung seiner Höhe voraussichtlich längere Zeit erforderlich ist. Im vorliegenden Fall war dagegen die Feststellung der Anspruchsvoraussetzungen dem Grunde nach unklar, während die Anspruchshöhe nicht anders zu berechnen gewesen wäre als in der Zeit bis zum 18. November 1998 und somit schon feststand. Die unzutreffend angegebene Rechtsgrundlage für die Rückforderung führt jedoch nicht zur Rechtswidrigkeit des Bescheides, weil die Beklagte auch bei der hier vorliegenden Konstellation - ergänzend zu § 42 SGB I - berechtigt war, vor Abschluss der endgültigen Sachverhaltsfeststellungen eine so genannte "Vorwegzahlung" zu leisten und sich die Rückforderung vorzubehalten (vgl. BSG, Urteil vom 28. Juni 1990 - Az. 4 RA 57/89 - BSGE 67, 104; BSG, Urteil vom 12. Mai 1992 - Az. 2 RU 7/92 - SozR 3-1200 § 42 Nr. 2). Der Klägerin ist auch hinreichend bestimmt deutlich gemacht worden, dass es sich bei der Zahlung von Verletztengeld ab 19. November 1998 nur um eine vorläufige Regelung handelt. Denn die Beklagte hat im Bescheid vom 15. Dezember 1998 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass noch nicht geklärt sei, ob bei der Klägerin überhaupt noch unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit gegeben sei und dass diese den überzahlten Betrag zu erstatten habe, wenn sich herausstelle, dass eine weitere Leistungspflicht nicht bestehe. Deshalb kann die Klägerin nicht mit Erfolg einwenden, die Vorschusszahlungen gutgläubig verbraucht zu haben.

16

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.