Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 16.09.2003, Az.: L 9 B 17/03 U
Ablehnung eines Sachverständigen wegen Befangenheit ; Zweifel an der Unparteilichkeit im Einzelfall ; Vertreten einer bestimmten wissenschaftlichen Auffassung ; Mangelnde fachliche Befähigung eines Gutachters als geeigneter Ablehnungsgrund
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 16.09.2003
- Aktenzeichen
- L 9 B 17/03 U
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 21073
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0916.L9B17.03U.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Aurich - AZ: S 3 U 76/02
Rechtsgrundlagen
- § 118 Abs. 1 SGG
- § 406 Abs. 1 ZPO
- § 42 ZPO
- § 109 SGG
Tenor:
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Aurich vom 19. Mai 2003 wird zurückgewiesen.
Gründe
Nach § 118 Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 406 Abs. 1 ZPO können im sozialgerichtlichen Verfahren Sachverständige aus denselben Gründen abgelehnt werden, aus denen auch die Ablehnung von Richtern stattfindet. Statthaft ist danach insbesondere ihre Ablehnung wegen Befangenheit (§ 406 Abs. 1 i.V.m. 42 ZPO). Sie ist begründet, wenn hinsichtlich der Person eines Richters oder Sachverständigen ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen dessen Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Derartige Gründe hat der Berufungskläger gegenüber der Sachverständigen Prof. Dr. C. mit seinem Befangenheitsantrag nicht glaubhaft gemacht. Der Befangenheitsantrag ist deshalb vom Sozialgericht zu Recht als unbegründet abgelehnt worden:
Soweit der Berufungskläger geltend gemacht hat, dass Prof. Dr. C. in bestimmten Veröffentlichungen eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber dem Krankheitsbild der "MCS" (Multiple Chemical Sensitivities) eingenommen habe, ist ein hinreichender Grund für die Ablehnung der Sachverständigen nicht dargetan. Vorauszuschicken ist in diesem Zusammenhang, dass es grundsätzlich keinen Befangenheitsgrund darstellt, wenn ein Sachverständiger eine bestimmte wissenschaftliche Auffassung vertritt und diese auch bereits in Veröffentlichungen oder aus Anlass vorausgegangener Begutachtungen nach außen hat dringen lassen (vgl. Baumbach - Lauterbach, ZPO, 61. Auflage 2003, § 42 zum Stichwort "Veröffentlichung"). Für den Sachverständigen gilt insoweit nichts anderes als für den Richter, dessen offen, etwa in Fachveröffentlichungen bekundete, abstrakte Rechtsauffassung als solche ebenfalls keinen Anlass zu durchgreifenden Zweifeln an der Unparteilichkeit im Einzelfall begründet (vgl. Meyer - Ladewig, a.a.O., Rdnr. 8b). Das Recht der Beteiligten, einen Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, beinhaltet insoweit nicht auch die Befugnis, aktiv darauf Einfluss zu nehmen, dass lediglich bestimmte wissenschaftliche Auffassungen oder "Schulen" im Prozess zur Geltung kommen. Zu einer solchen Ausdehnung des den Beteiligten einzuräumenden Einflusses auf die Beweiserhebung besteht im Übrigen auch gerade im sozialgerichtlichen Verfahren kein Anlass, weil dort für den Versicherten die Möglichkeit besteht, seine Vorstellungen von der medizinischen Beweiserhebung im Wege der Antragstellung nach § 109 SGG zur Geltung zu bringen, während der zuständige Träger schon im Vorfeld des gerichtlichen Verfahrens während des von ihm durchzuführenden Verwaltungsverfahrens Umfang und Richtung der Ermittlungen bestimmt. Als befangen kann nach alledem ein Sachverständiger wegen seiner veröffentlichten Überzeugungen allenfalls dann gelten, wenn seine fachlichen Stellungnahmen erkennbar einseitig sind und damit zugleich den Anspruch der Wissenschaftlichkeit verfehlen (so i. E. auch Baumbach - Lauterbach, a.a.O., zum Stichwort "Veröffentlichung").
Seinen diesbezüglichen Vorwurf gegenüber der Sachverständigen Prof. Dr. C. hat der Berufungskläger indessen nicht glaubhaft machen können. Der Senat vermag dem vom Berufungskläger überreichten Sonderdruck aus dem Deutschen Ärzteblatt vom 20. September 2002 schon nicht zu entnehmen, dass Prof. Dr. C. sich damit tatsächlich in grundsätzlich ablehnender Weise gegenüber Krankheitsbildern geäußert hat, wie sie mit dem Kürzel "MCS" bezeichnet werden. Soweit in dem überreichten Auszug eine kritische Haltung anklingt, bezieht sich diese im Wesentlichen auf die mit der Wortschöpfung "MCS" begrifflich verbundene Implikation einer spezifisch chemischen Krankheitsursache (S. 5, 7) und negiert keineswegs die Existenz oder Bedeutung der hiermit bezeichneten Krankheitsbilder. Im Gegenteil weisen die Autoren, unter ihnen Prof. Dr. C., ausdrücklich darauf hin, dass die betroffenen Patienten erheblich litten und es im Einzelfall einer genauen differenzialdiagnostischen Abklärung der Krankheitsursache bedürfe, wobei die primäre Vermutung einer psychiatrischen Genese ebenso wenig hilfreich sei wie eine entsprechende Vorfestlegung auf eine Umweltdiagnose. Einen Beleg dafür, dass die Sachverständige nicht willens oder in der Lage sei, das beim Beschwerdeführer bestehende Krankheitsbild im Einzelfall unvoreingenommen zu würdigen, bildet diese Stellungnahme nicht. Dies gilt im Übrigen umso mehr, als sich die in dem Sonderdruck aufgeworfenen Bedenken gegen die Krankheitsbezeichnung "MCS" mit Hinweisen in der allgemein zugänglichen medizinischen Literatur decken, nach denen auch die WHO vorgeschlagen hat, statt des Begriffs "MCS" die Bezeichnung "idiopathische umweltbezogene Unverträglichkeiten" bzw. "idiopathic environmental intolerances" zu verwenden (Pschyrembel, medizinisches Lexikon, Stand 2001, zu den Stichworten MCS und IEI).
Dem Beschwerdeführer kann auch nicht insoweit gefolgt werden, als er die fachliche Inkompetenz der Gutachterin als Grund für sein Befangenheitsgesuch heranzieht. Mangelnde fachliche Befähigung eines Gutachters ist schon kein geeigneter Ablehnungsgrund (vgl. Meyer - Ladewig, a.a.O., § 118 Rdnr. 12 l u. H. a. LSG Baden-Württemberg, Breithaupt 1997, S. 173). Hiervon abgesehen ergeben sich insoweit in der Person der Gutachterin hierfür auch keine objektivierbaren Anhaltspunkte. Insbesondere teilt der Senat nicht die Auffassung des Beschwerdeführers, dass es sich bei dem Fachgebiet der Umweltmedizin um ein neurologisches Spezialgebiet handele (S. 3 der Beschwerdebegründung vom 2. Juni 2003, Blatt 76 der Gerichtsakten). Nicht anders als das Fachgebiet der Arbeitsmedizin, auf dem die Gutachterin tätig ist, stellt auch das Fachgebiet der Umweltmedizin interdisziplinäre Anforderungen, die den Fachbereich der Neurologie weit überschreiten und etwa auch internistische, allergologische, toxikologische und endokrinologische Kenntnisse erfordern (vgl. zum interdisziplinären Charakter bereits Pschyrembel, a.a.O., zum Stichwort "Umweltmedizin"). Hinzu treten bei der Beurteilung einer Berufskrankheit die zur Beantwortung von Kausalitätsfragen erforderlichen berufskundlichen Kenntnisse, die ebenso wie das notwendige umweltmedizinische Wissen gerade von der Gutachterin, die nach ihrer Stellungnahme vom 10. April 2003 die Zusatzbezeichnung "Umweltmedizin" führt, erwartet werden können.
Dieser Beschluss ist gem. § 177 SGG unanfechtbar.