Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 25.09.2003, Az.: L 1 RA 198/02

Rückforderung einer gezahlten Berufsunfähigkeitsrente wegen gleichzeitigen Bezuges von Arbeitslosengeld; Ermessensausübung eines Sozialversicherungsträger bei der Rückforderung von Leistungen; Vorliegen eines atypischen Falls bei einer Rückforderung von Leistungen im Sozialversicherungsrecht

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
25.09.2003
Aktenzeichen
L 1 RA 198/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 20015
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0925.L1RA198.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hildesheim - 18.07.2002 - AZ: S 14 RA 195/00

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Das Hinzutreten einer Arbeistlosengeld-Zahlung bedeutet eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen des Empfängers einer Berufsunfähigkeitsrente, die grundsätzlich zur nicht nur in die Zukunft gerichteten, sondern darüber hinaus zur rückwirkenden Aufhebung der Berufsunfähigkeits-Rentenbewilligung berechtigt. Dies entbindet den Versicherungsträger aber nicht, bei seiner Entscheidung Ermessen auszuüben.

  2. 2.

    Die Anforderungen für die Annahme eines atypischen Falles im Allgemeinen und an ein für die Überzahlung ursächliches Verschulden auf Verwaltungsseite im Besonderen sind in den Fällen der Nr. 3 des § 48 Abs. 1 Satz SGB X niedriger anzusetzen als bei den Nrn. 2 und 4. Denn anders als bei der Verletzung von Mitteilungspflichten bzw. der Bösgläubigkeit auf Seiten des Empfängers kommt es für die Anwendung der Nr. 3 nicht auf Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis beim Empfänger an. Der Anwendungsbereich der Nr. 3 würde sonst unzulässig eingeschränkt.

Tenor:

Das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 18. Juli 2002 und der Bescheid der Beklagten vom 5. 0ktober 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. September 2000 werden aufgehoben.

Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers beider Rechtszüge zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darum, ob die Beklagte berechtigt war, für die Zeit vom 1. April bis zum 31. Oktober 1999 gezahlte Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) wegen gleichzeitigen Bezuges von Arbeitslosengeld (Alg) in Höhe von 7.239,49 DM vom Kläger zurück zu fordern.

2

Der 1939 geborene Kläger, der als gelernter Großhandelskaufmann zuletzt Schichtmeister in einem Automobil-Zulieferbetrieb war, erkrankte am 15. September 1997 auf Dauer arbeitsunfähig (au). Er bezog fortlaufend Krankengeld. Auf seinen Rentenantrag (zunächst als Reha-Antrag gestellt) bewilligte die Beklagte mit ihrem Bescheid vom 28. August 1998 Rente wegen BU ab Mai 1998. Der weiter gehende Antrag, Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) zu zahlen, wurde gleichzeitig abgelehnt. Gegen die Ablehnung richtete sich der Kläger erfolglos mit Widerspruch und Klage (Widerspruchsbescheid vom 2. März 1999; Klageeingang beim Sozialgericht -SG- Hildesheim am 29. März 1999; Klagerücknahme mit Schriftsatz vom 12. Juli 1999). In der Folgezeit erließ die Beklagte mehrere Neuberechnungsbescheide zu der gewährten Rente wegen BU.

3

Bereits am 2. März 1999 erhielt die Beklagte vom Arbeitsamt H. die Nachricht, ab dem 16. März 1999 werde Alg gezahlt.

4

Am 22. März 1999 ging die entsprechende Mitteilung des Klägers ein, - nach Aussteuerung seitens der Krankenkasse mit dem 15. März 1999 - ab dem 16. März 1999 Arbeitslosengeld zu erhalten. Belehrungen über die Verpflichtung, den Bezug anderer Sozialleistungen umgehend mitzuteilen, hatte die Beklagte dem Kläger bereits im Bescheid vom 28. August 1998 (und in dem Folgebescheid vom 30. Dezember 1998) erteilt.

5

Nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer Beanspruchung durch das EU-Klageverfahren und im Übrigen durch die Neuberechnung der BU-Rente wegen der seit dem Alg-Bezug eingetretenen Versicherungspflicht zur Kranken- und Pflegeversicherung (Wegfall des zuvor gezahlten Zuschusses zur freiwilligen Versicherung) ließ die Beklagte die Mitteilungen vom 2. und vom 22. März 1999 zunächst unbeachtet.

6

Nachdem sie zwischenzeitlich zunächst die laufende Zahlung des Zuschusses zur Kranken- und Pflegeversicherung eingestellt, die Rückforderung der diesbezüglichen Überzahlung veranlasst und vor allem mit dem Bescheid vom 29. Juli 1999 die Zahlung der BU-Rente für die Zeit ab dem 1. August 1999 wegen Anrechnung des - höheren - Alg beendet hatte, hörte die Beklagte den Kläger mit dem Schreiben vom 5. August 1999 zur beabsichtigten Aufhebung des BU-Rentenbescheides auch bereits für die Zeit ab dem 1. April 1999 an. Das Alg sei gemäß § 95 Sozialgesetzbuch (SGB) VI auf die Rente wegen BU anzurechnen. Das habe der Kläger auch erkennen müssen. Ihm werde Gelegenheit gegeben, sich dazu und zu der Frage zu äußern, ob die Rückzahlung zu erheblichen finanziellen Nachteilen führen werde. Der Kläger entgegnete, sich im Anschluss an die Mitteilung der Alg-Bewilligung darauf verlassen zu haben, dass ihm beide Sozialleistungen gleichzeitig zustünden. Mit einer gegenteiligen Nachricht habe er nach Ablauf von 3 1/2 Monaten nicht mehr rechnen können. Darüber hinaus habe ihm eine Mitarbeiterin des Arbeitsamtes Hildesheim erklärt, "in seinem Fall" werde die BU-Rente ungeachtet des Bezuges des Alg weiter gezahlt.

7

Die Beklagte erließ ungeachtet des Vortrags des Klägers den Bescheid vom 5. Oktober 1999, mit dem sie die gesamte Überzahlung für den Zeitraum vom 1. April bis zum 31. Oktober 1999, nämlich 7.235,49 DM, zurückforderte. Entsprechend der Mitteilung des Arbeitsamtes Hildesheim legte sie dabei einen Monatsbetrag des Arbeitslosengeldes in Höhe von 2.549,21 DM zu Grunde. Da dieser höher lag als die BU-Rente (Monatsbetrag für die Zeit von April bis Juni 1999 1.955,33 DM; für die Monate Juli bis Oktober 1999 1.981,59 DM), sei die Rente nicht zu zahlen gewesen. Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 2 bis 4 SGB X lägen vor. Das schwebende Klageverfahren (Rente wegen EU statt lediglich Rente wegen BU) habe eine schnellere Neuberechnung verhindert. Eine eventuelle Rückfrage habe sich nicht lediglich an das Arbeitsamt, vielmehr an sie, die Beklagte, richten müssen.

8

Nachdem sie die zwischenzeitlich rückwirkend für die Zeit ab dem 1. Oktober 1999 Altersrente für Schwerbehinderte, Berufsunfähige bzw. Erwerbsunfähige bewilligt hatte, wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers mit dem Widerspruchsbescheid vom 12. September 2000 zurück. Dem Kläger habe klar sein müssen, dass eine - auch rückwirkende - Neufeststellung der BU-Rente "logische Folge" der Beantragung der Leistung der Arbeitsverwaltung sein werde. Unter den Versicherten sei allgemein bekannt, dass der gleichzeitige Bezug mehrerer Sozialleistungen in aller Regel zur Kürzung bzw. zum Ruhen mindestens einer der Leistungen führe. Ein so genannter "atypischer" Fall, in dem sich die Rückforderung als unbilliger Eingriff in die persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnisse darstelle, liege nicht vor. Die Aufhebungsfrist von einem Jahr nach § 48 Abs. 4 SGB X sei gewahrt. Generell müsse den Rentenversicherungsträgern eine gewisse Bearbeitungsdauer zugestanden werden.

9

Dagegen hat der Kläger am 2. Oktober 2000 Klage zum SG Hildesheim erhoben. Er hat weiterhin vor allem geltend gemacht, darauf vertraut zu haben, dass er die BU-Rente ungeachtet seiner am 22. März 1999 bei der Beklagten eingegangenen Mitteilung fortgezahlt bekommen habe. In den nunmehr streitigen Rückforderungszeitraum sei sogar die Rentenanpassung zum 1. Juli 1999 gefallen.

10

Das SG hat die Klage durch sein Urteil vom 18. Juli 2002 abgewiesen. Es hat zur Begründung ausgeführt, die Pflicht zur Anrechnung des Alg ergebe sich im vorliegenden Übergangsfall aus § 313 a SGB VI. Da diese Norm die bis zum 31. Dezember 1998 geltende Regelung für Alg-Zahlungen bis zum 31. Dezember 2000 übernommen habe, sei es unschädlich, dass die Beklagte noch die alte Vorschrift des § 95 SGB VI zitiert habe. Demgegenüber sei § 96 a SGB VI (Alg als Hinzuverdienst wie sonstiges versicherungspflichtiges Entgelt) noch nicht anwendbar. Die somit rechtsgrundlos erfolgte Bewilligung der BU-Rente habe die Beklagte für den Streitzeitraum nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X aufheben dürfen. Es habe sich um einen Regelfall gehandelt, in dem zusätzlich zu einer ersten Sozialleistung (BU-Rente) Einkommen (hier in Gestalt des Alg) erzielt worden sei. Es sei unschädlich gewesen, dass die Beklagte die Voraussetzungen des Aufhebungstatbestandes nicht ausreichend (Anlage 10 zum Bescheid vom 5. Oktober 1999) bzw. nicht zutreffend (Widerspruchsbescheid vom 12. September 2000) bezeichnet habe. Es komme maßgebend allein darauf an, dass die Voraussetzungen der Eingriffsermächtigung tatsächlich vorgelegen hätten. Während die Voraussetzungen für einen rentenschädlichen Einkommensbezug nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X gegeben seien, lasse sich dies für die Tatbestände des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 2 und 4 SGB X (Verletzung einer Mitteilungspflicht bzw. Bösgläubigkeit wegen besonders schwer wiegender Sorgfaltspflichtverletzung) nicht annehmen. Darauf komme es aber nach dem zu der bereits zitierten Nr. 3 Gesagten nicht mehr an. Da dieser Tatbestand des parallelen Einkommensbezuges unabhängig davon eingreife, ob der Versicherte auf die Rechtmäßigkeit des Doppelbezuges vertraut habe oder nicht, könne die Aufhebung allenfalls noch am Vorliegen eines atypischen Falles scheitern. Ein solcher Fall sei gegeben, wenn die Umstände im Hinblick auf die mit der rückwirkenden Aufhebung des Verwaltungsaktes verbundenen Nachteile von den Normalfällen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 4 SGB X derart abwichen, dass der Leistungsempfänger in eine besondere Bedrängnis gerate. Dafür bestünden jedoch keine Anhaltspunkte, vielmehr ergebe sich hier lediglich die vom Gesetz in jedem Rückforderungsfall zugemutete und mit der Erstattungspflicht verbundene Härte. Auch ein grober Behördenfehler liegt nicht vor.

11

Gegen das ihm am 26. August 2002 zugestellte Urteil richtet sich der Kläger mit der am 17. September 2002 eingegangenen Berufung. Zu deren Begründung weist er weiter gehend darauf hin, vor dem hier streitigen Rückforderungszeitraum in rechtmäßiger Weise Krankengeld und BU-Rente parallel bezogen zu haben. Insofern gehe die Beklagte mit ihrem Argument fehl, es habe sich für ihn als Leistungsempfänger aufdrängen müssen, die hier parallel bewilligten Leistungen nicht vollständig behalten zu dürfen.

12

Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 18. Juli 2002 sowie

den Bescheid der Beklagten vom 5. Oktober 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. September 2000 aufzuheben.

13

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

14

Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

15

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend damit einverstanden erklärt, dass der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.

16

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen. Die Akten sind Gegenstand der Beratung und Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe

17

Die Berufung des Klägers ist nach den §§ 143 f Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und zulässig. Der Senat konnte im Einverständnis der Beteiligten den Rechtsstreit durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, § 124 Abs. 2, 153 Abs. 1 SGG.

18

Auf die Berufung des Klägers waren das angefochtene Urteil des SG vom 18. Juli 2002 sowie der zu Grunde liegende Bescheid der Beklagten vom 5. Oktober 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. September 2000 aufzuheben. Zwar bedeutete das Hinzutreten der Alg-Zahlungen eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen, die grundsätzlich zur nicht nur in die Zukunft gerichteten, sondern darüber hinaus zur hier streitigen rückwirkenden Aufhebung der BU-Rentenbewilligung berechtigte, § 48 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 2 Nr. 3 SGB VI. Die Beklagte hätte jedoch bei ihrer Entscheidung Ermessen ausüben müssen. Der Senat bejaht das Vorliegen eines atypischen Falles, in dem die Beklagte nicht - regelhaft (§ 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X: der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, ...) - aufzuheben hatte. Vielmehr hätte sie Überlegungen anstellen müssen, ob auf der Rechtsfolgenseite von der Aufhebung ganz oder teilweise abzusehen war (Ermessensentscheidung).

19

Zunächst war eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen zu bejahen, die dem Erlass des BU-Rentenbescheides vom 28. August 1998 - nebst nachfolgenden Änderungsbescheiden -, eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X, zu Grunde gelegen hatten. Die Änderung bestand hier darin, dass die Zahlung des Krankengeldes durch die Zahlung des Alg abgelöst wurde. Damit verbunden war eine neue Rechtslage, die die aus dem zuerkannten Stammrecht fließenden Einzelansprüche auf Auszahlung der BU-Rente entscheidend beeinflusste. Während der Anspruch für die Dauer der Zahlung des Krankengeldes erhalten blieb (§ 50 Abs. 2 Nr. 2 SGB V schreibt umgekehrt die Kürzung des Krankengeldes um den Zahlbetrag der Rente wegen BU vor, sofern die Leistung von einem Zeitpunkt nach dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit - wie hier - zuerkannt wird), war für die Zeit ab dem Zusammentreffen der BU-Rente mit dem Alg (also ab dem 16. März 1999) § 313 a SGB VI - als Nachfolgevorschrift des § 95 SGB VI - maßgebend, wonach bei einem am 31. Dezember 1998 bestehenden Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (hier gegeben bei BU-Rentenbewilligung ab dem 1. Mai 1998) das für denselben Zeitraum geleistete Alg auf die Rente angerechnet wird (Einfügung des § 313 a SGB VI durch Art. 1 des Rentenreformgesetzes - RRG - 1999 vom 16. Dezember 1997, Bundesgesetzblatt I Seite 2998, In-Kraft-Treten 1. Januar 1999, Ende der Anwendbarkeit bei erst nach dem 31. Dezember 2000 entstehendem Anspruch auf Alg). Es lag hier keiner der Sonderfälle vor, in denen die Anrechnung ausnahmsweise nicht erfolgt, § 313 a Satz 2 SGB VI (dazu beispielhaft LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15. Juni 2000, Az: L 9 AL 127/98: Nahtlosigkeitsregelung und Erwerb der Anwartschaft erst nach Eintritt der BU).

20

Das SG ist richtig davon ausgegangen, dass die Aufhebungsvoraussetzungen nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X vorlagen und dass es unschädlich war, wenn statt der einschlägigen Nr. 3 des Satzes 2 die Nrn. 2 und 4 zur Anwendung kamen. Es kommt lediglich darauf an, dass die Aufhebungsvoraussetzungen tatsächlich vorlagen. Das ist bereits deshalb der Fall, weil der Kläger - wie bereits erwähnt und zwischen den Beteiligten auch unstreitig - gleichzeitig BU-Rente und Alg bezog.

21

Zu der Frage, ob ein atypischer Fall vorliegt, war voraus zu schicken, dass dessen Annahme nicht im Ermessen der Verwaltung steht, sondern dass die Gerichte selbst überprüfen und entscheiden, ob eine derartige Konstellation anzunehmen ist. Es sind dabei alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Sie müssen Merkmale aufweisen, die signifikant vom (typischen) Regelfall abweichen, in dem die Rechtswidrigkeit eines ursprünglich zutreffenden Verwaltungsaktes durch nachträgliche Veränderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eingetreten ist. Dabei ist nicht nur zu prüfen, ob die mit der Aufhebung verbundene Pflicht zur Erstattung der zu Unrecht erhaltenen Leistungen (§ 50 Abs. 1 SGB X) eine dem Leistungsbezieher stärker als den im Normalfall Betroffenen belastende Härte bedeutet, sondern auch, ob und in welchem Maße etwa ein Fehlverhalten der Behörde zur Überzahlung beigetragen hat. Die Anforderungen für die Annahme eines atypischen Falles im Allgemeinen und an ein für die Überzahlung ursächliches Verschulden auf Verwaltungsseite im Besonderen sind in den Fällen der Nr. 3 des § 48 Abs. 1 Satz SGB X niedriger anzusetzen als bei den Nrn. 2 und 4. Denn anders als bei der Verletzung von Mitteilungspflichten bzw. der Bösgläubigkeit auf Seiten des Empfängers kommt es für die Anwendung der Nr. 3 nicht auf Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis beim Empfänger an. Der Anwendungsbereich der Nr. 3 würde sonst unzulässig eingeschränkt. Das Bundessozialgericht (BSG) hat es in diesem Sinne etwa als nach der Nr. 3 atypisch angesehen, wenn die Überzahlung darauf beruhte, dass der zuständige Arbeitsvermittler die Leistungsabteilung des Arbeitsamtes nicht über die ihm vom Arbeitslosen mitgeteilte Aufnahme einer Nebentätigkeit unterrichtete (BSG SozR 3-4100 § 115 Nr. 1; vgl. im Übrigen Schneider-Danwitz in: Gesamtkommentar zur Sozialversicherung, Band 4a, § 48 SGB X Anm. 70) a) cc); Freischmidt in: Hauck/Haines, Sozialgesetzbuch - SGB X/I, II § 48 SGB X Anm. 2.0 sowie BSG-Urteil vom 29. Juni 1994, Az: 1 RK 45/93).

22

Das die Atypik begründende Verschulden der Beklagten ist im vorliegenden Fall darin zu erblicken, dass der ihr bekannt gewordene Umstand des Alg-Bezuges nicht zeitnah umgesetzt wurde. Bei ordnungsgemäßer Sachbearbeitung wäre es möglich gewesen, als Konsequenz der am 2. März 1999 eingegangenen Meldung des Arbeitsamtes Hildesheim bereits die April-Zahlung zu stoppen. Den einschlägigen Rechtsvorschriften war bei zumutbarem Aufwand sogleich zu entnehmen, dass das Alg auf die BU-Rente anzurechnen war. Der Umfang der Anrechnung und die Auswirkung auf den künftigen Zahlbetrag waren auch bereits vollständig der am 2. März 1999 eingegangenen Mitteilung zu entnehmen. Erschwerend kam hinzu, dass die Nachricht über den BU-Rentenbezug kurze Zeit später - nunmehr von Seiten des Klägers - erneut einging und wiederum nicht umgesetzt wurde. Die erhebliche und die Rückforderung verursachende Überzahlung war unter den Bedingungen moderner Datenverarbeitung und schneller Übertragungswege nicht erfolgreich mit der Belastung durch weitere Bearbeitungsfälle zu rechtfertigen. Ggf. hätte die laufende Zahlung mit einem Vorbehalt versehen werden müssen.

23

Von besonderer Bedeutung für die Annahme eines atypischen Falles war bei alledem, dass in der Person des Klägers ein Vertrauen erzeugt wurde, das mit der klägerseitigen Anzeige des Doppelbezuges korrespondierte. Der Kläger macht insoweit zu Recht geltend, gleich in drei Fällen, nämlich durch die Bescheide vom 25. und 30. Juni sowie vom 2. Juli 1999 sinngemäß die Antwort erhalten zu haben, eine Anrechnung erfolge gerade nicht. Das Gegenteil, nämlich die Rechtsfolge der - vollständigen - Anrechnung lag auch nicht derartig offensichtlich auf der Hand, dass der Kläger den Bescheiden nicht vertrauen durfte. So zeigen etwa die Sonderfälle des § 313 a Satz 2 SGB VI sowie die Hinzuverdienstregelung des § 96 a SGB VI, dass Doppelleistungen nicht schlechthin ausgeschlossen sind. Inwieweit das Vertrauen des Klägers möglicherweise noch durch Auskünfte während zweier Vorsprachen beim Arbeitsamt Hildesheim am 9. und 16. Februar 1999 bestärkt wurde, konnte nach alledem unerörtert bleiben. Immerhin hat der Kläger hierzu substantiiert vorgetragen.

24

Die angefochtenen Bescheide waren somit mangels angestellter Ermessenserwägungen aufzuheben. Über weitere Konsequenzen (Ablauf der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X) war nicht zu befinden (vgl. etwa BSG-Urteil vom 29. Juni 1994, Az: 1 RK 45/93).

25

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

26

Es hat kein gesetzlicher Grund vorgelegen, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG).