Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 02.09.2003, Az.: L 6 U 31/03
Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) des Verletzten infolge eines Arbeitsunfalls; Innerer Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem zum Unfall führenden Verhalten, sowie zwischen diesem und dem Unfall und den geltend gemachten Gesundheitsstörungen; Kausalzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der Gesundheitsstörung; Beweis der Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit; Erwerbsminderung wegen Einschränkung der Leistungsfähigkeit auf weniger als drei Stunden Erwerbstätigkeit täglich und mindestens 20 von Hundert
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 02.09.2003
- Aktenzeichen
- L 6 U 31/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 20979
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0902.L6U31.03.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Osnabrück - 13.12.2002 - AZ: S 8 U 49/99
Rechtsgrundlagen
- § 212 SGB VII
- § 548 RVO
- § 580 RVO
- § 581 RVO
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Eine Verletztenrente wird nur gewährt, solange die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge des Arbeitsunfalls um wenigstens 1/5 oder die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Arbeitsunfälle jeweils um mindestens 10 von Hundert gemindert ist und die Summe der durch die einzelnen Unfälle verursachte Minderungen der Erwerbsfähigkeit (MdE) wenigstens 20 von Hundert beträgt.
- 2.
Beweismaßstab für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und einer Gesundheitsstörung ist dabei grundsätzlich die hinreichende Wahrscheinlichkeit. Das Vorliegen der bei der medizinisch-wissenschaftlichen Beurteilung des Kausalzusammenhangs zu Grunde zu legenden Tatsachen muss dagegen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (Gewissheit) erwiesen sein.
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 13. Dezember 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Klägerin begehrt die Zahlung von Verletztenrente ab 1. Januar 1996. Die 1970 geborene Klägerin ist seit 1. Januar 1995 im C. als Krankenschwester tätig. Am 14. Juli 1995 gegen 12.10 Uhr erlitt sie auf dem Weg zur Arbeit einen Verkehrsunfall, bei dem ihr ein anderer PKW von links die Vorfahrt nahm. Sie fuhr zunächst nach Hause und stellte sich gegen 14.40 Uhr bei dem Durchgangsarzt Dr. D. (E.) vor. Bei der Untersuchung war die Halswirbelsäule (HWS) frei beweglich, die Beugung war schmerzhaft, außerdem fand sich ein Druckschmerz paravertrebal in Höhe HWK 4/5 und in Höhe der Brustwirbelkörper - BWK - 4 bis 6. Röntgenologisch ergab sich in den Funktionsaufnahmen ein kyphotischer Knick in Höhe der Halswirbelkörper - HWK - 4/5. Dr. D. diagnostizierte eine "HWS-Zerrung". Ab dem 19. September 1995 war die Klägerin wieder arbeitsfähig. Vom 18. Oktober 1995 bis zum 18. April 1996 wurde sie von dem Orthopäden Dr. F. weiter behandelt. Es erfolgten Chirotherapie und manuelle Therapie. Die am 15. April 1996 durchgeführte Kernspintomographie (MRT) der HWS ergab einen unauffälligen Befund (Bericht Dres. G. vom 15. April 1996). Neurologisch fand sich kein Hinweis auf cerebrale Komplikationen oder auf eine medulläre bzw. radikuläre Symptomatik (Bericht Dr. H. vom 2. April 1996). Am 23. April 1997 stellte sich die Klägerin erneut bei Dr. F. vor und klagte u.a. über Kopfschmerzen und Missempfindungen in den Fingern.
Die Beklagte holte das chirurgische Gutachten von Dres. I. vom 24. November 1997 ein. Die Gutachter stellten bei der Auswertung der Röntgen-Aufnahmen eine angedeutete ventralseitige Knickbildung der HWS in Höhe der HWK 4 und 5 bei Anteflexion fest. Diese sei aber nicht auf den Unfall zurückzuführen, weil sich kernspintomographisch keine Krankheitsveränderungen zeigten. Unfallbedingt habe eine Nackenzerrung bestanden, die eine maximale Arbeitsunfähigkeitszeit von 10 Wochen rechtfertige. Die Erwerbsfähigkeit der Klägerin sei bis zum 31. Oktober 1995 in rentenberechtigendem Grade gemindert. Mit Bescheid vom 10. Februar 1998 lehnte die Beklagte die Zahlung von Verletztenrente mit der Begründung ab, der Unfall habe lediglich zu einer inzwischen abgeklungenen Zerrung der Nackenmuskulatur geführt. Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte das chirurgische Gutachten von Dr. J. und des Dr. K. vom 30. November 1998 ein. Nach deren Bewertung ist es durch den Unfall zu einer Zerrung der Nacken- und Schultergürtelmuskulatur ohne weiter gehende knöcherne oder bandspezifische Verletzungen gekommen. Die ventrale Knickbildung in Höhe der HWK 4/5 sei konstitutionell bedingt und habe keinen wesentlichen Krankheitswert. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) schätzte sie für den Zeitraum vom 19. September 1995 bis 31. Dezember 1995 auf 20 v.H, danach auf 10 v.H. Mit Widerspruchsbescheid vom 28. Januar 1999 bewilligte die Beklagte für diesen Zeitraum Verletztenrente in Höhe von 20 v.H. der Vollrente. Einen weiter gehenden Anspruch lehnte sie mit der Begründung ab, es liege keine rentenberechtigende MdE mehr vor.
Die dagegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) Osnabrück mit Urteil vom 13. Dezember 2002 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die von der Klägerin geäußerten Beschwerden ließen sich weder im klinischen noch im röntgenologischen Befund objektivieren. Die ab dem 1. Januar 1996 bestehenden Beschwerden seien auf die anlagebedingte ventrale Knickbildung der HWS zurückzuführen. Selbst diese Veränderung bedinge jedoch keine MdE in rentenberechtigendem Grade.
Gegen dieses am 8. Januar 2003 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 30. Januar 2003 Berufung eingelegt, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,
- 1.
das Urteil des SG Osnabrück vom 13. Dezember 2002 aufzuheben,
- 2.
den Bescheid der Beklagten vom 10. Februar 1998 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Januar 1999 zu ändern,
- 3.
die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Verletztenrente in Höhe von mindestens 30 v.H. der Vollrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,
die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Osnabrück vom 13. Dezember 2002 zurückzuweisen.
Die Beklagte hält das Urteil des SG und ihre Bescheide für zutreffend.
Die Beteiligten sind mit Verfügung der Berichterstatterin vom 2. Juli 2003 darauf hingewiesen worden, dass der Senat beabsichtigt, über die Berufung nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu entscheiden. Ihnen ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte Bezug genommen. Der Entscheidungsfindung haben die Verwaltungsakten der Beklagten zu Grunde gelegen.
II.
Der Senat konnte über die gemäß §§ 143 und 144 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung nach vorheriger Anhörung der Beteiligten durch Beschluss entscheiden, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (vgl. § 153 Abs. 4 SGG). Die angefochtenen Bescheide sind nicht zu beanstanden.
Das Begehren der Klägerin richtet sich auch nach Eingliederung des Rechts der Gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch (SGB) zum 1. Januar 1997 nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO). Das ergibt sich aus der Übergangsregelung in § 212 SGB VII, wonach auf Versicherungsfälle, die vor dem 1. Januar 1997 eingetreten sind, das alte Recht (§§ 548, 580, 581 RVO) anzuwenden ist. Die Gewährung von Verletztenrente setzt gemäß §§ 580, 581 RVO voraus, dass die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge des Arbeitsunfalls um wenigstens 1/5 gemindert ist. Nach Auswertung der im Verwaltungsverfahren erstatteten Gutachten sowie der vorliegenden ärztlichen Befund- und Behandlungsberichte kann im vorliegenden Fall nicht festgestellt werden, dass diese Voraussetzungen ab dem 1. Januar 1996 vorlagen. Denn spätestens seit diesem Zeitpunkt lassen sich die von der Klägerin angegebenen Gesundheitsstörungen (Kopfschmerzen, Verspannungen im Nacken, Missempfindungen in den Fingern) nicht mit der gebotenen Wahrscheinlichkeit auf den Arbeitsunfall vom 14. Juli 1995 zurückführen. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die MdE im Zeitraum vom 19. September bis 31. Dezember 1995 höher als 20 v.H. einzuschätzen ist. Dies ergibt sich aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens, insbesondere aus den überzeugenden Ausführungen der Gutachter Dr. J. und Dr. K ...
Entscheidend gegen die unfallbedingte Verursachung der Beschwerden spricht, dass nach dem Unfall keine strukturellen Verletzungen (z.B. knöcherne oder Bandverletzungen) im Bereich der HWS nachgewiesen werden konnten. Darauf haben Dr. J. und Dr. K. hingewiesen.
- Die erste Untersuchung durch den Durchgangsarzt Dr. D. ergab lediglich eine schmerzhafte Beugung sowie einen Druckschmerz paravertrebral in Höhe HWK 4/5 und in Höhe BWK 4 bis 6.
- Es liegen keine Anhaltspunkte für die Verletzung nervaler Strukturen vor. Denn neurologische Defizite sind bei der Untersuchung durch Dr. H. nicht festgestellt worden.
- Auch die bildgebenden Verfahren (Röntgenaufnahmen vom 14. Juli 1995 und 4. August 1997, MRT der HWS vom 15. April 1996) haben keine objektiven verletzungsbedingten Befunde gesichert. Lediglich die Röntgenfunktionsaufnahmen der HWS zeigte eine angedeutete ventralseitige Knickbildung in Höhe HWK 4 und 5 bei Anteflexion. Nach den überzeugenden Ausführungen von Dr. J. und Dres. L. ist die Knickbildung jedoch nicht durch den Unfall vom 14. Juli 1995 verursacht worden. Denn durch die MRT vom 15. April 1996 konnten frische Unfallfolgen ausgeschlossen werden.
Auch die die Klägerin behandelnden Ärzte Dr. M. haben Zweifel daran geäußert, ob die weiter bestehenden Beschwerden der Klägerin noch auf den Unfall vom 14. Juli 1995 zurückzuführen sind (vgl. Berichte vom 2. April 1996 und 23. April 1997).
Der Senat musste der Anregung der Klägerin auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens nicht nachgehen. Denn es besteht kein Aufklärungsbedarf auf medizinischem Gebiet. Die Fragen, welche alternative Ursache (welcher "Vorschaden") zu der Knickbildung im Bereich der HWS geführt hat und ob die Beschwerden der Klägerin auf diese - sicher unfallunabhängige - Knickbildung zurückzuführen sind, sind grundsätzlich nicht rechtserheblich. Auch der derzeitige Gesundheitszustand der Klägerin war nicht zu ermitteln. Dies wäre nur dann erforderlich gewesen, wenn Unfallfolgen in Form von strukturellen Verletzungen hätten festgestellt werden können und die Höhe der unfallbedingten MdE zu bewerten gewesen wäre. Schließlich ist auch keine erneute medizinische Zusammenhangsbegutachtung unter Zugrundelegung eines anderen Unfallhergangs erforderlich. Denn entscheidend ist allein, welche Schäden der Unfall am Körper der Klägerin hinterlassen hat. Es lassen sich aber - wie ausgeführt - keine Verletzungen feststellen, die zu einer rentenberechtigenden MdE führen. Deshalb kommt es auf Einzelheiten des Unfallhergangs nicht an.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.