Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 26.09.2003, Az.: L 6 U 409/02
Segmentinstabilität im LWK 2/3; Dorsalverschiebung des Segments L 2/3; Neurologische Ausfallerscheinungen von Seiten der Kompressionsfraktur; Unfallunabhängige degenerative Veränderungen der HWS; Vorläufige Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 26.09.2003
- Aktenzeichen
- L 6 U 409/02
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 20022
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0926.L6U409.02.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hannover - 22.08.2002 - AZ: S 36 U 345/99
Rechtsgrundlage
- § 48 SGB X
Redaktioneller Leitsatz
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit kann nicht nach röntgenologischen Befunden bemessen werden, sondern nach den tatsächlich verbliebenen Funktionseinschränkungen.
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 22. August 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Der Kläger begehrt höhere Verletztenrente. Streitig ist, ob sich die Folgen eines Arbeitsunfalls wesentlich verschlechtert haben.
Der im März 1940 geborene Kläger stürzte bei seiner Tätigkeit als Maurer und Polier am 13. Oktober 1995 aus ca. 2 bis 3 m Höhe von einem Gerüst und fiel auf den Rücken. Neben einer Rippenprellung, einer Prellung beider Kniegelenke sowie einer Schürfung beider Unterschenkel zog er sich hierbei einen Kompressionsbruch des 2. Lendenwirbelkörpers (LWK) zu (Durchgangsarzt-Bericht vom 16. Oktober 1995; Zwischenbericht des Prof. Dr. C., Friederikenstift D., vom 22. November 1995). Auch wegen weiterer Erkrankungen bewilligte die LVA Hannover Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. August 1996.
Die Beklagte gewährte auf der Grundlage des Gutachtens der Prof. Dr. E. vom 28. Juni 1996 zunächst vorläufige Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v.H. (Bescheid vom 28. Oktober 1996). Als Folgen des Arbeitsunfalls erkannte sie dabei an: Bewegungseinschränkung der Lendenwirbelsäule (LWS), Verspannung der langen Rückenstreckmuskulatur sowie subjektive Belastungsbeschwerden nach in keilförmiger Fehlstellung knöchern fest verheiltem Bruch des 2. LWK. Nicht als Folgen des Arbeitsunfalls wurden u.a. anerkannt: Rundrücken, Verschleißerscheinungen im mittleren und unteren LWS-Bereich. Den hiergegen eingelegten Widerspruch begründete der Kläger mit einer Bescheinigung seines behandelnden Arztes Dr. F. vom 19. Januar 1997. Die Beklagte holte die beratungsärztliche Stellungnahme der Dr. G. vom 27. Februar 1997, den Entlassungsberichtes der Klinik H. vom 4. Dezember 1993 sowie das Gutachten der Dr. I. vom 23. Juni 1997 ein. Diese stellte an unfallunabhängigen Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule (WS) deutliche Verschleißerscheinungen im Bereich der LWS sowie eine Rundrückenbildung im Bereich der oberen Brustwirbelsäule (BWS) mit leichter Seitverbiegung fest. Die Beschwerden und Funktionsstörungen des Klägers seien nur zum Teil auf die unfallbedingte Kompressionsfraktur zurückzuführen. Die erheblichen degenerativen Veränderungen der WS, die unfallunabhängig seien, verursachten im Wesentlichen die Beeinträchtigungen der Beweglichkeit. Daraufhin bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 11. August 1997 Verletztenrente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 20 v.H. Als Folgen des Arbeitsunfalls erkannte sie an: Anteilige Bewegungseinschränkungen und Muskelverspannungen der LWS, Deformierung des 2. LWK mit bauchwärts und seitlicher Abstützung durch Spangenbildung zum 1. LWK sowie subjektive Belastungsbeschwerden nach in keilförmiger Fehlstellung knöchern fest verheiltem Bruch des 2. LWK. Nicht als Folgen des Arbeitsunfalls wurden anerkannt: Verschleißerscheinungen im mittleren und unteren LWS-Bereich mit dadurch bedingten anteiligen Bewegungseinschränkungen, Muskelverspannungen und Belastungsbeschwerden, Rundrückenbildung im Bereich der unteren BWS mit leichter Seitenverbiegung. Danach nahm der Kläger den Widerspruch zurück.
Mit Schreiben vom 27. Mai 1998 beantragte der Kläger höhere Verletztenrente und machte geltend, seine Bewegungseinschränkungen und Schmerzen hätten zugenommen. Deshalb suchte er auch am 9. Juni 1998 Dr. Jungklaus auf, der einen extremen Hartspann der Rückenstreckmuskulatur zwischen unterer BWS und der gesamten LWS feststellte (Bericht vom 9. Juni 1998). Die Beklagte zog die medizinischen Unterlagen des Dr. F. bei, der den Bruch als gut verheilt bezeichnete und die Beschwerden des Klägers auf eine Einsteifung der BWS und LWS zurückführte (Bericht vom 23. Juni 1998). Weiterhin holte die Beklagte das Gutachten der Chirurgen Dres J. vom 29. September 1998 ein. Diese stellten keine wesentliche Verschlechterung der Folgen des Unfalls vom 13. Oktober 1995 fest und bewerteten die unfallbedingte MdE unverändert mit 20 v.H. Die nunmehr festgestellte höhere MdE werde durch die vor allem links betonte Gonarthrose sowie die Coxarthrose beider Hüftgelenke mitverursacht. Unfallunabhängig bestehe im Übrigen auch eine Spondylarthrose der gesamten Wirbelsäule. Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 6. November 1998 die Neufeststellung der Verletztenrente nach § 48 Sozialgesetzbuch 10. Buch (SGB X) ab.
Im Widerspruchsverfahren berief sich der Kläger auf ein Gutachten seines behandelnden Orthopäden Dr. K. vom 10. Februar 1999. Nach Einholung beratungsärztlicher Stellungnahmen der Dr. G. vom 1. April 1999 und der Dr. I. vom 24. August 1999, die beanstandete, dass sich Dr. K. nicht mit den erheblichen unfallunabhängigen Veränderungen der WS des Klägers auseinander gesetzt habe, wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 4. Oktober 1999 zurück.
Hiergegen hat der Kläger noch im selben Monat Klage erhoben. Er hat Bezug genommen auf das Gutachten des Dr. K., der festgestellt habe, dass der Kompressionsbruch zu einer Höhenminderung und zu einer Dysregulation im Bereich der LWS geführt habe. Dadurch sei es zu einem kyphotischen Knick von LWK 1 gegenüber LWK 2 mit Reduzierung der Bewegungsausmaße gekommen, die zu Abstützreaktionen in LWK 2 und 3 geführt hätten. Die MdE betrage 40 v.H. Das Sozialgericht (SG) hat die medizinischen Unterlagen der LVA Hannover - insbesondere das ärztliche Gutachten des Dr. L. vom 11. Februar 1997 und des Dr. M. vom 26. Juli 2000 - beigezogen und das Gutachten des Orthopäden Dr. N. vom 26. Februar 2001 eingeholt. Auf Antrag des Klägers ist das Gutachten des Dr. K. vom 4. Dezember 2001 erstattet worden. Die Beklagte hat die Stellungnahmen der Dr. G. vom 21. September 2000 und der Dr. I. vom 18. Februar 2002 vorgelegt. Das SG hat zu beiden die ergänzende Stellungnahme des Dr. N. vom 15. März 2002 eingeholt. Anschließend hat das SG Hannover mit Urteil vom 22. August 2002 die Klage abgewiesen. Unter Berücksichtigung des Gutachtens und der ergänzenden Stellungnahme des Dr. N. lasse sich keine wesentliche Verschlechterung der Unfallfolgen von mehr als 5 v.H. beim Kläger feststellen. Es bestehe eine mittelgradige Bewegungseinschränkung der LWS. Instabilitätszeichen im Bereich der LWS und BWS sowie Nervenwurzelirritationen oder Kompressionssyndrome lägen nicht vor. Die Unfallfolgen seien im Einklang mit den unfallmedizinischen Erfahrungsgrundsätzen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Auflage 1998, S. 500 ) zutreffend mit 20 v.H. bewertet worden. Entgegen der Auffassung des Dr. K. seien demgegenüber die rezidivierenden Cephalgien mit Schwindelattacken nicht auf den Unfall vom 13. Oktober 1995 zurückzuführen, da es hierfür zeitnah nach dem Unfall an den erforderlichen Brückensymptomen fehle. Auch eine Segmentinstabilität bei LWK 2 und 3 sei entgegen der Ausführungen des Dr. K. beim Kläger gerade nicht festgestellt worden.
Hiergegen hat der Kläger am 24. September 2002 Berufung eingelegt und sich auf das Gutachten des Dr. K. gestützt. Dieser habe schlüssig eine Segmentinstabilität bei LWK 2/3, syndesmophytäre Ausziehungen der ventralen Deckplattenregion des LWK 3 sowie eine Einengung des Liquorraumes festgestellt. Auch Dr. I. halte eine MRT-Untersuchung für erforderlich.
Der Kläger beantragt,
- 1.
das Urteil des SG Hannover vom 22. August 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 6. November 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Oktober 1999 aufzuheben,
- 2.
festzustellen, dass eine Instabilität des Bewegungssegmentes LWK 2/3 nebst syndesmophytären Ausziehungen der ventralen Deckplattenregion des LWK 3 sowie eine Einengung des Liquorraumes Folge des Unfalls vom 13. Oktober 1995 sind,
- 3.
die Beklagte zu verurteilen, ihm Verletztenrente in Höhe von mindestens 30 v.H. der Vollrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Hannover vom 22. August 2002 zurückzuweisen.
Sie weist darauf hin, dass die Einengung des Spinalkanals auf anlagebedingte Faktoren zurückzuführen ist und die von Dr. K. beschriebene Zunahme der LWS-Symptomatik durch die unfallunabhängigen Verschleißveränderungen verursacht würde.
Mit Verfügung der Berichterstatterin vom 22. August 2003 sind die Beteiligten darauf hingewiesen worden, dass der Senat die Berufung für unbegründet und eine weitere mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält und dass beabsichtigt sei, die Berufung durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zurückzuweisen. Ihnen ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten und die Gerichtsakte Bezug genommen, die Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung gewesen sind.
II.
Die Berufung ist zulässig. Sie ist jedoch unbegründet. Das SG Hannover hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Entscheidung der Beklagten ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf höhere Verletztenrente. Es lässt sich nicht feststellen, dass sich die Folgen des Unfalls vom 13. Oktober 1995 seit der Feststellung der Dauerrente i.S.d. § 48 SGB X wesentlich verschlechtert haben. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat auf die ausführliche Begründung des Urteils des SG Hannover und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG).
Lediglich hinsichtlich des Vorbringens des Klägers im Berufungsverfahren wird wie folgt ausgeführt:
Auch nach nochmaliger Durchsicht der umfangreichen medizinischen Unterlagen lässt sich eine Segmentinstabilität im LWK 2/3 beim Kläger nicht im Wege des Vollbeweises feststellen. Keiner der den Kläger zeitnah nach dem Unfall behandelnden Ärzte und auch die zahlreichen Gutachter - Prof. Dr. C., Dres O. - haben bei dem Kläger eine Segmentinstabilität beschrieben. Dr. N. hat diese vielmehr ausdrücklich ausgeschlossen (Stellungnahme des Dr. N. S. 4). Infolgedessen vermochte sich der Senat der abweichenden Einschätzung des Dr. K. nicht anzuschließen. Zudem besteht auch der Eindruck, dass Dr. K. nicht von einer Instabilität im eigentlichen Sinne ausgeht, sondern vielmehr die Dorsalverschiebung des Segments L 2/3 als Instabilität interpretiert (vgl. Stellungnahme Dr. I. vom 18. Februar 2002, S. 8).
Entgegen der Auffassung des Klägers empfiehlt auch Dr. I. nicht die Durchführung weiterer bildgebender Diagnostik. Sie hat lediglich darauf hingewiesen, dass sie selbst die Diagnose einer Segmentinstabilität ohne Röntgenbilder und MRT nicht ausreichend sichern könne, diese aber bisher in den zahlreichen medizinischen Unterlagen nirgends beschrieben worden sei.
Eine Einengung des Liquorraumes lässt sich ebenfalls nicht im Wege des Vollbeweises beim Kläger feststellen. Sie ist von keinem der behandelnden Ärzte und Gutachter beschrieben worden. Stattdessen ist eine Einengung des Spinalkanals ausgeschlossen worden (Bericht des Dr. P. vom 15. Februar 1996). Dr. K. - der diese Veränderung als Einziger annimmt - hält diese lediglich für möglich und stützt sich zum Beleg auf den Befund der kernspintomografischen Untersuchung von 1999, in der diese Einengung aber auch nicht ausdrücklich diagnostiziert wird.
Dahingestellt bleiben kann, ob die von Dr. K. als syndesmophytäre - d.h. knöcherne - Abstützreaktionen beschriebene Veränderungen am LWK 2/3 eine Entwicklung nach der Kompressionsfraktur ist oder auf die unfallunabhängigen erheblichen degenerativen Veränderungen der WS zurückzuführen ist. Für eine unfallunabhängige Entwicklung spricht, dass die LWS des Klägers bereits 1993, zwei Jahre vor dem Unfall, osteochondrotische und sklerotische Veränderungen in den Deck- und Bodenplatten aller Segmente der LWS sowie reaktive spondylotische Veränderungen mit Spondylophyten zwischen den Segmenten L4/5, L1/2, L2/3 und L5/S1 aufwies (Entlassungsbericht der Klinik H. vom 4. Dezember 1993). Im Übrigen bemisst sich die MdE nicht nach dem röntgenologischen Befund, sondern nach den tatsächlich verbliebenen Funktionseinschränkungen nach dem LWK-Bruch. Die knöchernen Ausziehungen am LWK2/3 haben aber keine wesentlichen Funktionseinschränkungen zur Folge, wie die von Dr. K. beschriebenen Bewegungsmaße, die im Wesentlichen mit denen von Dr. N. übereinstimmen, belegen.
Nach alledem vermochte sich auch der Senat dem Gutachten des Dr. K. nicht anzuschließen. Soweit dieser die MdE-Bewertung von 40 v.H. mit dem Auftreten von sekundären neurologischen Spätkomplikationen begründet, wird diese Einschätzung durch alle übrigen Gutachten widerlegt. Neurologische Ausfallerscheinungen von Seiten der Kompressionsfraktur hat keiner der den Kläger zahlreich untersuchenden Ärzte festgestellt (vgl. neurologischer Bericht des Dr. Q. vom 16. Oktober 1995, Stellungnahmen der Dr. G. vom 21. September 2001 und der Dr. I. vom 18. Februar 2002). Die Kopfschmerzen und Schwindelerscheinungen sind nicht auf diese Fraktur des 2. LWK, sondern vielmehr auf die unfallunabhängigen degenerativen Veränderungen der HWS und die Durchblutungsstörungen des Gehirns bei vorzeitiger Hirngefäßverkalkung und Bluthochdruck zurückzuführen (Gutachten des Dr. L. und des Dr. M. sowie Stellungnahme der Dr. I. vom 18. Februar 2002). Auch die von Dr. M. beschriebene pseudoradikuläre Symptomatik in den beiden Beinen des Klägers beruht nicht auf den Unfallfolgen im Bereich des LWK 2/3, sondern auf den unfallunabhängigen degenerativen Veränderungen im Segment L5/S1 (Gutachten Dr. M.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Es liegt kein Grund vor, die Revision zuzulassen ( § 160 Abs. 2 SGG).