Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 26.09.2003, Az.: L 6 U 311/02

Zahlung von Verletztenrente wegen Erkrankung an einer Berufskrankheit; Beschäftigung als als Heizungsbauer und Lüftungsbauer und Verrichtung wirbelsäulenbelastender Tätigkeiten; Leiden an einer bandscheibenbedingten Erkrankung; Voraussetzungen der Berufskrankheit Nr. 2109 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV); Zusammenhang zwischen bandscheibenbedingter Erkrankung und beruflicher Belastung; Gewährung von Übergangsleistungen

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
26.09.2003
Aktenzeichen
L 6 U 311/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 21171
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0926.L6U311.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - AZ: S 36 U 269/99

Redaktioneller Leitsatz

Für das Bejahen der Berufskrankheit Nr. 2109 der Anlage zur BKV muss eine bandscheibenbedingte Erkrankung vorliegen, die mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit in einem ursächlichen Zusammenhang mit der beruflichen Belastung steht.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 13. Mai 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

1

I.

Der Kläger begehrt die Anerkennung seiner Halswirbelsäulen(HWS)-Beschwerden als Berufskrankheit (BK) Nr. 2109 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) (bandscheibenbedingte Erkrankungen der HWS durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können) sowie die Zahlung von Verletztenrente und Leistungen nach § 3 BKV. Der 1960 geborene Kläger war von April 1976 bis Oktober 1984 und von August 1989 bis September 1990 bei der Firma C. als Heizungs- und Lüftungsbauer tätig. Anschließend übte er bis Februar 1995 Beschäftigungen aus, die nicht mit einer Belastung der HWS verbunden waren. Seit November 1999 bezieht er Rente wegen Berufsunfähigkeit. Nach den Angaben des Klägers vom 29. Dezember 1995 traten ca. 1980 erstmals Beschwerden im HWS-Bereich auf, 1991 diagnostizierte der Arzt für Neurologie D. ein HWS-Syndrom mit Zeichen einer Wurzelirritation C7/8 rechts. Vom 4. März bis 1. April 1993 unterzog sich der Kläger einem Heilverfahren in der Reha-Klinik E. wegen eines Cervikal-Cervikobrachialsyndroms links. Am 29. November 1995 beantragte er die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK). Nach den Feststellungen des Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) der Beklagten vom 7. August 1996 sind die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK 2109 der Anlage zur BKV unter Berücksichtigung der Tätigkeiten bei der Firma C. nicht erfüllt. Am 20. März 1995 führte Dr. F. eine Kernspintomographie durch, die einen Bandscheibenvorfall C6/7 ergab. Mit Bescheid vom 11. Juni 1998 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Übergangsleistung gemäß § 3 Abs. 2 BKV ab. Zur Begründung führte sie aus: Da die arbeitstechnischen Voraussetzungen i.S.d. BK 2109 nicht vorlägen, habe auch kein Zwang zur Aufgabe der Tätigkeit bei der Firma C. im Jahr 1990 bestanden. Mit weiterem Bescheid vom 11. Juni 1998 lehnte sie die Anerkennung einer BK 2109 ab. Im Widerspruchsverfahren machte der Kläger geltend, bei der Firma C. habe er üblicherweise alle Lasten irgendwann über Kopf montieren müssen. Weil zu wenige Hände verfügbar gewesen seien, sei dies generell unter Zuhilfenahme des Kopfes geschehen. Diese Tätigkeiten seien Grund für die HWS-Beschwerden. Mit Widerspruchsbescheiden vom 9. Juli 1999 wies die Beklagte die Widersprüche zurück.

2

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Hannover hat der Kläger geltend gemacht, Lasten seien generell auf dem Kopf, zum Teil gleichzeitig auf einer Leiter und in verdrehter Körperhaltung, gehandhabt worden. Anders sei eine Deckenmontage nicht möglich gewesen. Er hat eine Aufstellung seiner Arbeitsverhältnisse und Tätigkeitsbeschreibungen eingereicht. Das SG hat das Gutachten von Dr. G. vom 23. Juni 2000 nebst ergänzender Stellungnahme vom 8. Oktober 2001 eingeholt. Nach der Bewertung des Sachverständigen liegt eine bandscheibenbedingte Erkrankung vor (chronisch rezidivierendes Cerviko-Brachialsyndrom beidseits bei Bandscheibenvorwölbung und Spondylose C6/7). Es bestehe aber kein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Tätigkeit des Klägers und der Erkrankung. Gegen einen ursächlichen Zusammenhang sprächen der frühe Beginn der Erkrankung bereits im Jahr 1980, die nicht altersvorauseilenden Verschleißveränderungen sowie das Fehlen eines typischen Krankheitsbildes.

3

Der Kläger hat den Arztbrief von Prof. Dr. H. (I. vom 19. März 2001 vorgelegt.

4

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 13. Mai 2002 mit der Begründung abgewiesen, eine BK 2109 liege nicht vor, da weder die arbeitstechnischen noch die medizinischen Voraussetzungen erfüllt seien. Deshalb habe der Kläger auch keinen Anspruch auf eine Verletztenrente. Die Beklagte habe auch zu Recht die Gewährung von Übergangsleistungen gemäß § 3 BKV abgelehnt, da es zum Zeitpunkt der Aufgabe der Tätigkeit an einem objektiven Zwang zur Unterlassung der Tätigkeit gefehlt habe.

5

Gegen dieses am 31. Mai 2002 zugestellte Urteil hat der Kläger am 28. Juni 2002 Berufung eingelegt. Er macht geltend, die Berechnung des TAD sei fehlerhaft. Er hat dazu die Fotokopie der Erklärung seines früheren Arbeitskollegen J. vom 6. Juni 2002 eingereicht. Außerdem rügt der Kläger, dass Dr. G. von unzutreffenden Annahmen u.a. bezüglich des Beginns der HWS-Erkrankung ausgegangen sei. Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,

  1. 1.

    das Urteil des SG Hannover vom 13. Mai 2002 und die Bescheide der Beklagten vom 11. Juni 1998 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 9. Juli 1999 aufzuheben,

  2. 2.

    festzustellen, dass seine HWS-Beschwerden Folge einer BK der Nr. 2109 der Anlage zur BKV sind,

  3. 3.

    die Beklagte zu verurteilen, ihm Verletztenrente in Höhe von mindestens 20 v.H. der Vollrente sowie Leistungen nach § 3 BKV zu gewähren.

6

Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Hannover vom 13. Mai 2002 zurückzuweisen.

7

Die Beklagte hält das Urteil des SG und ihre Bescheide für zutreffend.

8

Die Beteiligten sind mit Verfügungen der Berichterstatterin vom 19. Mai 2003 und vom 29. Juli 2003 darauf hingewiesen worden, dass der Senat beabsichtigt, über die Berufung nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu entscheiden. Ihnen ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.

9

II.

Der Senat konnte über die gemäß §§ 143 und 144 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung nach vorheriger Anhörung der Beteiligten durch Beschluss entscheiden, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (vgl. § 153 Abs. 4 SGG).

10

Das SG und die Beklagte haben zu Recht einen Anspruch des Klägers auf Anerkennung seiner HWS-Veränderungen als BK sowie die Gewährung von Verletztenrente und Leistungen nach § 3 BKV verneint.

11

Das Begehren des Klägers richtet sich auch nach Eingliederung des Rechts der Gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch (SGB) zum 1. Januar 1997 nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO). Das ergibt sich aus der Übergangsregelung in § 212 SGB VII, wonach auf Versicherungsfälle, die vor dem 1. Januar 1997 eingetreten sind, das alte Recht (§§ 548, 580, 581 RVO) anzuwenden ist.

12

1.

Beim Kläger lässt sich keine BK der Nr. 2109 der Anlage zur BKV feststellen, weil die sog. arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht erfüllt sind.

13

Von dieser BK sind nach dem Willen der Verordnungsgeberin nur die Berufsgruppe der Fleischträger und Berufsgruppen mit vergleichbarem Belastungsprofil erfasst (Urteil des Senats vom 29. April 1999 - L 6 U 206/98 = HVBG RdSchr VB 100/99: Keine Erfassung der Tätigkeit eines Zimmerers von der BK Nr. 2109), worauf bereits das SG im angefochtenen Urteil zutreffend hingewiesen hat. Die Arbeit von Fleischträgern ist durch das Tragen von Tierhälften oder -vierteln von 50 kg und mehr mit Kopf und Schultergürtel geprägt. Bei diesem Tragen wird der Kopf durch die Last nach vorn oder seitwärts gedrückt. Die räumliche Orientierung der Fleischträger erfordert das Andrücken des Kopfes gegen die Last. Dabei wird die Nackenmuskulatur maximal angespannt und die HWS in Hyperlordosierung gebracht. Wird der Kopf durch die Last seitwärts gedrückt, wird neben der Hyperlordosierung auch eine Drehung der HWS zur Seite der Last hin erforderlich (vgl. das Merkblatt des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung für die ärztliche Untersuchung, abgedruckt in Mehrtens/Perlebach, BKV M 2109 S. 1).

14

Das Belastungsprofil des Klägers (Montagetätigkeiten unter Zuhilfenahme von Kopf und Schulter) unterscheidet sich jedoch deutlich von der vorgenannten Tätigkeit eines Fleischträgers. Darauf weist der Kläger selbst hin. Die Verordnungsgeberin hat indessen nicht sämtliche wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten bei der Einführung der BK Nr. 2109 der Anlage zur BKV berücksichtigt, sondern nur diejenigen beruflichen Faktoren, die nach ihrer Erkenntnis bandscheibenbedingte Erkrankungen der HWS verursachen oder verschlimmern können. Dabei kommt nach dem eindeutigen Wortlaut der BK Nr. 2109 lediglich "langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter" in Betracht. Im Einklang damit hat Dr. G. darauf hingewiesen, das gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse über einen Zusammenhang zwischen axialen Belastungen des Kopfes, wie sie der Kläger schildert und einer Vermehrung von bandscheibenbedingten HWS-Erkrankungen nicht vorliegen.

15

2.

Selbst wenn man aber zu Gunsten des Klägers unterstellt, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt sind, könnte eine BK nicht anerkannt werden. Denn die medizinischen Voraussetzungen für eine solche Anerkennung sind nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. G. ebenfalls nicht erfüllt. Beim Kläger liegt zwar eine bandscheibenbedingte Erkrankung der HWS vor, diese steht aber nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit in einem ursächlichen Zusammenhang mit seiner beruflichen Belastung. Ein Zusammenhang zwischen einer berufsbedingten HWS-Belastung und einer Erkrankung ist nur dann als wahrscheinlich anzusehen, wenn mehr Gesichtspunkte dafür als dagegen sprechen. Im vorliegenden Fall sprechen jedoch schwer wiegende Gesichtspunkte gegen einen ursächlichen Zusammenhang:

  • Nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. G. liegt beim Kläger ein alterskonformer Befund der HWS vor mit lediglich leichtgradigen Verschleißveränderungen im Segment C6/7 und leichtestgradigen Verschleißveränderungen im Nachbarsegment. Dagegen wäre, wie Dr. G. einleuchtend ausgeführt hat, bei einer beruflich teilverursachten Bandscheibenerkrankung - gegenüber gleichaltrigen nicht exponierten Personen - röntgenologisch ein vorauseilender Verschleißzustand zu erwarten. Dies ist hier jedoch, wie ausgeführt, nicht der Fall.
  • Außerdem liegt nach den wissenschaftlich belegten Ausführungen des Sachverständigen Dr. G. beim Kläger kein belastungsadäquates Schadensbild vor: Bei entsprechend belasteten Personen sei eine Verlagerung der betroffenen Bandscheibensegmente nach kopfwärts hin beobachtet worden. Das Krankheitsbild des Klägers entspreche dagegen dem eines nicht exponierten Menschen, bei dem in der Regel eine degenerative Bandscheibenerkrankung in den beiden unteren HWS-Segmenten auftrete. Entgegen der Ansicht des Klägers ergibt sich auch aus der MRT-Aufnahme vom 20. März 1995 kein anderes Schadensbild. Denn auch Dr. F. beschreibt keine auffälligen Veränderungen in den oberhalb von C4/5 gelegenen HWS-Segmenten.
  • Ferner spricht auch der Beginn der HWS-Erkrankung gegen die Annahme eines Zusammenhanges zwischen Exposition und Erkrankung. Dabei kommt es nicht darauf an, ob bereits 1980 (d.h. 4 Jahre nach Beginn der Berufsausbildung) zum ersten Mal HWS-Beschwerden auftraten, wie der Kläger dies am 29. Dezember 1995 handschriftlich gegenüber der Beklagten angegeben hat oder erst 1984 (8 Jahre nach Beginn der Berufsausbildung). Denn nach den Erläuterungen von Dr. G. spricht der Krankheitsverlauf nur dann für einen ursächlichen Zusammenhang, wenn zwischen dem Beginn der Exposition und dem Krankheitseintritt ein Zeitraum von mindestens 10 Jahren gelegen hat.

16

Eine für den Kläger günstigere Beurteilung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung des Arztbriefes von Prof. Dr. H. vom 19. März 2001. Denn dem Bericht lässt sich nicht entnehmen, dass der Bandscheibenvorfall Folge der beruflichen Tätigkeit des Klägers war.

17

3.

Da sich nicht feststellen lässt, dass die Erkrankung des Klägers wesentlich durch seine berufliche Tätigkeit verursacht oder verschlimmert wurde, hat er auch keinen Anspruch auf Verletztenrente. Er hat auch keinen Anspruch auf Leistungen nach § 3 BKV.

18

Nach Absatz 1 Satz 1 dieser Vorschrift haben die Unfallversicherungsträger, wenn für Versicherte die Gefahr besteht, dass eine BK entsteht oder sich verschlimmert, dieser Gefahr mit allen geeigneten Mitteln entgegen zu wirken. Voraussetzung für ein Tätigwerden nach dieser Vorschrift ist eine konkrete individuelle Gefahr hinsichtlich der Entstehung oder Verschlimmerung der BK. Diese ist gegeben, wenn bei einem Verbleiben des Versicherten in der gefährdenden Tätigkeit oder im fortbestehenden Einwirken unter den vorliegenden Verhältnissen in absehbarer Zeit mit Wahrscheinlichkeit eine Erkrankung i.S.d. Liste zur BKV entstehen wird, deren rechtlich wesentliche Ursache oder Mitursache in der beruflichen Tätigkeit liegt (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl, S. 117). Diese Voraussetzungen sind hier jedoch nicht erfüllt:

19

Beim Kläger haben sich bandscheibenbedingte Erkrankungen entwickelt, ohne dass den beruflichen Einwirkungen bis 1990 ein wesentlicher Ursachenanteil zukam. Zwar besteht nach den Ausführungen von Dr. G. beim Kläger wie bei jedem Menschen, der an einer degenerativen Erkrankung leidet, die Möglichkeit des negativen Verlaufes der Erkrankung. Die eigentliche Ursache für das Fortschreiten der Erkrankung wären demgemäß nach wie vor die schicksalhaften Faktoren, während den beruflichen Belastungen nicht der Charakter einer wesentlichen Teilursache zukäme. Folgerichtig hat demgemäß Dr. G. die Ergreifung von präventiven Maßnahmen nicht für erforderlich gehalten.

20

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.