Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 23.09.2003, Az.: L 9 SB 47/03

Zuerkennung des Nachteilsausgleichs der erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Merkzeichen "G"); Voraussetzungen der erheblichen Gehbehinderung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
23.09.2003
Aktenzeichen
L 9 SB 47/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 25019
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0923.L9SB47.03.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 07.04.2003 - AZ: S 28 SB 758/01

Redaktioneller Leitsatz

Bei der Bestimmung des Begriffes "ortsübliche Wegstrecke" ist abstrakt auf die Fähigkeit eines Schwerbehinderten abzustellen, noch solche Entfernungen zu Fuß zurücklegen zu können, zu deren Überwindung ein Nichtbehinderter altersunabhängig normalerweise weder ein öffentliches noch ein privates Verkehrsmittel in Anspruch nimmt, unabhängig davon, an welchem Ort die Wegstrecke zurückgelegt wird. Nach der Rechtsprechung bemisst sich die ortsübliche Wegstrecke nach einer Wegstrecke von 2 km bei einer Gehdauer von etwa 1/2 Stunde.

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Berufungsklägerin begehrt die Feststellung der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Merkzeichen "G").

2

Bei der 1944 geborenen Berufungsklägerin stellte das Versorgungsamt (VA) Hannover mit Bescheid vom 30. Januar 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01. März 1995 einen Grad der Behinderung - GdB - von 30 fest. Während des hiergegen von der Berufungsklägerin durchgeführten Klageverfahrens vor dem Sozialgericht (SG) Hannover zu dem Az.: S 28 SB 218/95 stellte der Berufungsbeklagte in Ausführung des vor dem SG Hannover abgegebenen Anerkenntnisses vom 07. Oktober 1997 mit Ausführungsbescheid vom 14. Oktober 1997 bei der Berufungsklägerin einen GdB von 50 wegen der Funktionsbeeinträchtigungen

  1. 1.

    psychische Erschöpfungszustände mit Verkörperungstendenzen,

  2. 2.

    Bewegungsfunktionsstörungen des linken Handgelenkes nach operativ behandeltem Carpaltunnelsyndrom,

  3. 3.

    Allergie-Neigung,

  4. 4.

    Krampfaderleiden beider Beine und

  5. 5.

    Wirbelsäulen-, Bandscheibenschaden fest.

3

Die weiter gehende Klage, mit welcher die Berufungsklägerin einen GdB von mindestens 80 begehrte, wies das SG Hannover mit Urteil vom 25. März 1998 ab.

4

Am 07. Februar 2001 stellte die Berufungsklägerin beim VA Hannover einen Antrag nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) auf Feststellung eines höheren GdB und auf Zuerkennung des Merkzeichens "G" wegen einer Verschlimmerung sämtlicher bei ihr festgestellter Funktionsbeeinträchtigungen und wegen einer neu hinzugetretenen Krebserkrankung (Mamma-Carzinom, operative Entfernung der rechten Brust) und wegen der damit verbundenen Rezidivgefahr. Der Berufungsbeklagte holte Befundberichte des Arztes für Frauenheilkunde und Geburtshilfe D. vom 28. Februar 2001, des Arztes Dr. E. vom 01. Mai 2001 und des Arztes für Orthopädie Dr. F. vom 08. Mai 2001 jeweils mit weiteren ärztlichen Unterlagen ein und zog den ärztlichen Entlassungsbericht der Fachklinik G. der Landesversicherungsanstalt - LVA - Hannover anlässlich der stationären Heilbehandlung der Berufungsklägerin in der Zeit vom 03. August bis zum 12. September 2000 vom 27. September 2000 und den Reha-Entlassungsbericht der Fachklinik G. betreffend ebenfalls die Reha-Maßnahme vom 03. August bis zum 12. September 2000 bei. Nach Abgabe der versorgungsärztlichen Stellungnahme der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. H. vom 10. Juli 2001 stellte das VA mit Bescheid vom 07. September 2001 bei der Berufungsklägerin einen GdB von 80 wegen

  1. 1.

    Verlust der rechten Brustdrüse mit Wiederaufbau

  2. 2.

    psychischer Erschöpfungszustände mit Verkörperungstendenzen

  3. 3.

    Bewegungsfunktionsstörung des linken Handgelenkes nach operativ behandeltem Carpaltunnelsyndrom und

  4. 4.

    Wirbelsäulen- und Bandscheibenleiden neu fest,

5

lehnte jedoch die Feststellung der Voraussetzungen für die Zuerkennung des beantragten Merkzeichens "G" mangels Vorliegens der Voraussetzungen ab. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Berufungsbeklagte nach Einholung der versorgungsärztlichen Stellungnahme der Ärztin Dr. H. vom 12. Oktober 2001 mit Widerspruchsbescheid vom 06. November 2001 als unbegründet zurück.

6

Hiergegen hat die Berufungsklägerin am 23. November 2001 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben und die Feststellung der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" begehrt. Das SG hat Befundberichte des Arztes für Neurologie Dr. I. vom 18. Dezember 2001 und 25. September 2002, der Ärztin für Psychiatrie J. vom 13. Dezember 2001, des Arztes für Frauenheilkunde Jonas vom 02. Januar 2002, des Arztes für innere Medizin Dr. E. vom 09. Januar 2002 und des Arztes für Orthopädie Dr. F. vom 09. Januar 2002 eingeholt und darüber hinaus weiteren Beweis erhoben durch Einholung des fachchirurgischen Gutachtens des Arztes für Chirurgie Dr. K. vom 04. September 2002 nach ambulanter Untersuchung der Berufungsklägerin. Dieser kam in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, dass die bei der Berufungsklägerin vorhandenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht das Ausmaß erreichen würden, dass die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "G" gerechtfertigt erscheine.

7

Mit Gerichtsbescheid vom 07. April 2003 hat das SG, auf dessen Entscheidungsgründe verwiesen wird, die Klage abgewiesen.

8

Gegen diesen ihr am 12. April 2003 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Berufungsklägerin am 22. April 2003 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen eingelegt und zur Begründung insbesondere ausgeführt: Die medizinischen und persönlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" lägen bei ihr vor. Das SG habe die tatsächlichen körperlichen Beeinträchtigungen verkannt. Insbesondere unter Berücksichtigung der bei ihr existierenden Polyneuropathie liege eine ganz erhebliche Gehbehinderung mit stark progredientem Krankheitsverlauf vor.

9

Die Berufungsklägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,

  1. 1.

    den Gerichtsbescheid des Sozialgerichtes Hannover vom 07. April 2003 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 07. September 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06. November 2001 abzuändern und

  2. 2.

    den Beklagten zu verurteilen, bei der Klägerin das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" festzustellen.

10

Der Berufungsbeklagte beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,

die Berufung zurückzuweisen.

11

Der Berufungsbeklagte hält den angefochtenen Gerichtsbescheid und die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig und hat sich zur weiteren Begründung auf die ärztliche Stellungnahme des Arztes für Sozialmedizin Dr. L. vom 19. Mai 2003 bezogen.

12

Der Senat hat zur weiteren medizinischen Sachaufklärung das Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. M. vom 07. Juni 2003 nach einer ambulanten Untersuchung der Berufungsklägerin und das Gutachten des Arztes für Orthopädie Dr. N. vom 18. August 2003 nach Aktenlage eingeholt. Im Termin zur Erörterung des Sachverhaltes mit den Beteiligten und zur Beweisaufnahme vom 04. September 2003 ist der Arzt für Orthopädie Dr. N. zur Erläuterung seines Gutachtens gehört worden. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Prozessakten des ersten und zweiten Rechtszuges und auf den Inhalt der Schwerbehindertenakten des Berufungsbeklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

13

Gem. §§ 124 Abs. 2, 155 Abs. 3 i.V.m. Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz - SGG - ist der Rechtsstreit im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch den Vorsitzenden/Berichterstatter als Einzelrichter entschieden worden.

14

Die gem. § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte und gem. §§ 143 ff SGG statthafte Berufung ist zulässig.

15

Das Rechtsmittel ist jedoch nicht begründet.

16

Mit dem von der Berufungsklägerin angefochtenen Gerichtsbescheid hat das SG Hannover zutreffend die Klage abgewiesen; denn die von der Berufungsklägerin angefochtenen Bescheide des Berufungsbeklagten sind rechtmäßig. Zu Recht hat der Berufungsbeklagte den Antrag der Berufungsklägerin auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" abgelehnt; denn die Berufungsklägerin ist auf Grund ihrer Funktionsbeeinträchtigungen nicht erheblich gehbehindert.

17

Der Senat nimmt daher zur Vermeidung von Wiederholungen gem. § 153 Abs. 2 SGG auf die Gründe des angefochtenen Gerichtsbescheides Bezug.

18

Neue Gesichtspunkte, die zu einer abweichenden Entscheidung führen könnten, sind im Berufungsverfahren nicht zu Tage getreten.

19

Nach § 146 Sozialgesetzbuch (SGB) - Neuntes Buch (IV) - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - vom 19. Juni 2001 (Bundesgesetzblatt I, S. 1046, 1047), der mit der bis zum 30. Juni 2001 geltenden Vorschrift des § 60 SchwbG inhaltlich identisch ist, ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Organe oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Bestimmung des Begriffes "ortsübliche Wegstrecke" ist abstrakt auf die Fähigkeit eines Schwerbehinderten abzustellen, noch solche Entfernungen zu Fuß zurücklegen zu können, zu deren Überwindung ein Nichtbehinderter altersunabhängig normalerweise weder ein öffentliches noch ein privates Verkehrsmittel in Anspruch nimmt, unabhängig davon, an welchem Ort die Wegstrecke zurückgelegt wird (vgl. Straßfeld "Der Nachteilsausgleich "G" in: Die Versorgungsverwaltung 2003, S. 35). Nach der Rechtsprechung bemisst sich die ortsübliche Wegstrecke nach einer Wegstrecke von 2 km bei einer Gehdauer von etwa 1/2 Stunde (BSG, Urteile v. 10.12.1987, 9a RVs 11/87 in BSGE 62, 273, v. 13.08.1997, 9 RVs 1/96 in SozR 3-3870 § 60 Nr. 2, v. 27.08.1998, B SB 13/97 R in: Die Versorgungsverwaltung 1999, 47; vgl. Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, 1996 - AHP 96 - Nr. 30, S. 164 ff).

20

Auch die vom Senat im Berufungsverfahren eingeholten Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. M. vom 07. Juli 2003 und des Arztes für Orthopädie Dr. N. vom 18. August 2003 bestätigen die erstinstanzliche Entscheidung. Zwar ist die Bewegungsfähigkeit der Berufungsklägerin sowohl durch die lumbosakralen Beschwerden als auch durch die überwiegend sensible Polyneuropathie mit lediglich mäßigen neurologischen Defiziten beeinträchtigt. Von den bei der Berufungsklägerin insgesamt festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen wirken sich lediglich die überwiegend sensible Polyneuropathie der unteren Extremitäten wahrscheinlich als Folge der stattgehabten Chemotherapie, der Verdacht auf ein Restless-legs-Syndrom, welches neurologischerseits entsprechend therapiert wird, und ein Zustand nach stattgehabter Nukleotomie L5/S1 mit teil radikulären teils pseudo-radikulären Beschwerden ohne Neurologie auf die Gehfähigkeit aus. Nach den gutachterlichen Ausführungen des Dr. M. finden sich im Bereich der unteren Extremitäten der Berufungsklägerin lediglich mäßige neurologische Defizite, jedoch ohne echte neurologische Ausfälle. Motorische Defizite im Bereich der unteren Extremitäten, insbesondere Paresen und Atrophien der Kennmuskeln lumbaler Nervenwurzeln sind jedoch ausweislich der ambulanten Untersuchung durch Dr. M. nicht nachweisbar gewesen. Das Gangbild der Berufungsklägerin war weit gehend frei, die Beweglichkeit der unteren Extremitäten voll erhalten. Insbesondere sind im Bereich der unteren Extremitäten Auffälligkeiten im Bereich der Sprunggelenke, Kniegelenke oder Hüftgelenke weder im Sinne einer Bewegungseinschränkung noch von Bandinstabilitäten oder gar Fixierungsproblemen wegen lähmungsähnlicher Zustände festzustellen. Die polyneuropathischen Beschwerden sind lediglich als reine sensible Störungen vorhanden, nicht jedoch im Rahmen motorischer Defizite. Bestätigt wird diese Befunderhebung und Diagnosestellung nicht nur durch das Gutachten des Arztes für Orthopädie Dr. N., sondern auch durch das vom SG in erster Instanz eingeholte Gutachten des Arztes für Chirurgie Dr. K. vom 04. September 2002. Auch danach sind die Bewegungseinschränkungen nur gering ausgeprägt. Muskelatrophien in den Beinen oder Formstörungen der großen Gelenke bestehen nicht. Auch Dr. K. weist auf die neurologischerseits festgestellte sensible Polyneuropathie der Beine hin, die sich jedoch nach seinem gutachtlichen Ergebnis wegen der Gefühlsstörungen der Füße zwar auf die Gehfähigkeit auswirkt, jedoch nicht eine erhebliche Einschränkung der Gehfähigkeit begründet, weil muskuläre Störungen nicht festzustellen sind. Anlässlich der Untersuchung durch Dr. M. haben sich auch keine Hinweise für peripher-arterielle Durchblutungsstörungen und auch keine schwer wiegenden Störungen in Form einer Arthrosis deformans der Knie- und Hüftgelenke feststellen lassen. Sowohl Dr. K. als auch Dr. M. und letztlich auch Dr. N. kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass die Berufungsklägerin trotz gewisser neurologischer Defizite in der Lage ist, ortsübliche Wegstrecken von ca. 2 km ohne erhebliche Schwierigkeiten und ohne Gefahr für sich oder andere innerhalb von 30 Minuten zurückzulegen.

21

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

22

Gesetzliche Gründe für die Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG haben nicht vorgelegen.