Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 25.09.2003, Az.: L 6 U 571/02

Anerkennung einer Berufskrankheit und Gewährung von Entschädigungsleistungen; Beschäftigung als Altenpfleger; Gesundheitsstörungen im Bereich der Lendenwirbelsäule; Voraussetzungen der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV); Kausalzusammenhang zwischen der langjährigen wirbelsäulenbelastenden Tätigkeit als Pfleger und der Erkrankung; Anlagebedingte Veränderungen der Lenden-Wirbelsäule

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
25.09.2003
Aktenzeichen
L 6 U 571/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 21159
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0925.L6U571.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Aurich - AZ: S 3 U 165/00

Redaktioneller Leitsatz

Allein das Vorliegen einer Krankheit der Berufskrankheiten-Liste sowie einer beruflichen Exposition, die geeignet ist, diese Krankheit zu verursachen, begründen keinen Anscheinsbeweis und damit auch nicht die Wahrscheinlichkeit der beruflichen Verursachung, denn es gibt keinen gesicherten Erfahrungssatz, dass bei Vorliegen der sog. arbeitstechnischen Voraussetzungen die bandscheibenbedingte Erkrankung beruflich verursacht ist. Der Grund dafür liegt darin, dass bandscheibenbedingte Erkrankungen auf einem Bündel von Ursachen ("multifaktorielles Geschehen") beruhen.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aurich vom 8. November 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Anerkennung von Gesundheitsstörungen im Bereich der Lendenwirbelsäule (LWS) als Berufskrankheit (BK) und die Gewährung von Ent-schädigungsleistungen.

2

Der 1948 geborene Kläger absolvierte von April 1964 bis Mai 1966 eine Berufsausbildung zum Friseur, anschließend war er in verschiedenen Betrieben als Arbeiter beschäftigt. Nach einer Ausbildung zum Altenpfleger (April 1971 bis März 1974) war er von Januar 1978 bis April 1997 bei der Sozialstation des Landkreises C. als Altenpfleger tätig. Seit Beginn der 80er-Jahre war der Kläger wegen Rückenschmerzen in ärztlicher Behandlung (Bericht der Fachärztin für Allgemeinmedizin D. vom 26. Februar 1998), 1987 wurde computertomographisch eine Bandscheibenvorwölbung im Segment L4/5 und geringergradig L5/S1 festgestellt (Bericht Dr. E. vom 6. April 1986), eine weitere computertomographische Untersuchung ergab 1990 einen Bandscheibenvorfall L4/5 mit Operationsindikation (Bericht des Prof. Dr. F. vom 27. September 1990). 1997 verstärkte sich das Beschwerdebild, computertomographisch wurde neben dem Bandscheibenvorfall L4/5 eine Spinalkanalstenose in Höhe des Segments L4/5 und Bandscheibenvorwölbungen in Höhe der Segmente L3/4 und L5/S1 festgestellt (Bericht Dr. G. vom 21. April 1997). Vom 23. Juli bis 13. August 1997 absolvierte der Kläger ein Heilverfahren in der Klinik H ... Seine Tätigkeit als Altenpfleger konnte er anschließend nicht mehr aufnehmen.

3

Am 12. Dezember 1997 zeigte die Krankenkasse des Klägers eine BK an. Die Beklagte zog Berichte der den Kläger behandelnden Ärzte sowie Unterlagen der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) und des Versorgungsamtes I. bei. Der Technische Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten kam in seiner Stellungnahme vom 9. August 1999 zu dem Ergebnis, dass die Tätigkeit des Klägers als Altenpfleger als wirbelsäulengefährdend anzusehen sei, auch die Bedingung der Langjährigkeit sei erfüllt. Außerdem holte die Beklagte das Gutachten von Dr. J. vom 6. Dezember 1999 ein. Nach dessen Beurteilung liegt eine BK Nr. 2108 nicht vor. Zum einen sei keine eindeutige belastungsadaptive Reaktion mit der Altersnorm vorauseilender mehrsegmentaler Schädigung der LWS erkennbar. Zum anderen zeigten sich schicksalhafte Ursachen für die Veränderungen der Wirbelsäule in Form einer skoliotischen Fehlhaltung des Achsenorgans und einer knöchernen spinalen Stenose.

4

Mit Bescheid vom 21. Februar 2000 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer BK Nr. 2108 und die Durchführung von Maßnahmen gemäß § 3 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) ab (bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 18. September 2000).

5

Die dagegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) Aurich mit Gerichtsbescheid vom 8. November 2002 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Anerkennung des bei dem Kläger vorliegenden Wirbelsäulenschadens und die Gewährung einer Entschädigung kämen nicht in Betracht, weil sich kein Kausalzusammenhang zwischen der langjährigen wirbelsäulenbelastenden Tätigkeit als Pfleger und der Erkrankung wahrscheinlich machen lasse. Nach den überzeugenden Ausführungen des Gutachters Dr. J. bestehe im Bereich der LWS des Klägers kein belastungskonformes Schadensbild, außerdem lägen anlagebedingte Veränderungen der LWS vor, die das Entstehen einer degenerativen Bandscheibenerkrankung begünstigten.

6

Gegen diesen am 22. November 2002 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 23. Dezember 2002, einem Montag, Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.

7

Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,

  1. 1.

    den Gerichtsbescheid des SG Aurich vom 8. November 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 21. Februar 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. September 2000 aufzuheben,

  2. 2.

    festzustellen, dass seine LWS-Beschwerden Folgen einer BK Nr. 2108 der Anlage zur BKV sind,

  3. 3.

    die Beklagte zu verurteilen, ihm Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.

8

Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,

die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG Aurich vom 8. November 2002 zurückzuweisen.

9

Mit Verfügung vom 2. September 2003 ist dem Kläger eine Kopie des Aufsatzes von Schröter, Begutachtung bei Berufskrankheiten, Der Orthopäde 01, S. 100, 109 bis 111 übersandt worden. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung durch die Berichterstatterin einverstanden erklärt.

10

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte Bezug genommen. Der Entscheidungsfindung haben die Verwaltungsakten der Beklagten zu Grunde gelegen.

Entscheidungsgründe

11

Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig, sie ist jedoch unbegründet. Das SG und die Beklagte haben zu Recht Entschädigungsansprüche wegen einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS als BK Nr. 2108 der Anlage zur BKV verneint, denn diese BK lässt sich nicht feststellen.

12

Nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV gelten als BKen "bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können". Im vorliegenden Fall war nicht aufzuklären, ob die berufliche Tätigkeit des Klägers als Altenpfleger geeignet war, bandscheibenbedingte LWS-Schäden zu verursachen. Eine Prüfung dieser sog. arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr. 2108 der Anlage zur BKV im Einzelnen ist nicht erforderlich, wenn aus medizinischer Sicht die berufliche (Mit)Verursachung einer bandscheibenbedingten Erkrankung nicht wahrscheinlich ist (Urteil des Senats vom 6. April 2000 - L 6 U 163/99 ZVW) und damit schon aus diesem Grund ein Anspruch auf Anerkennung der BK verneint werden muss. Dies ist hier der Fall, denn die medizinischen Voraussetzungen sind nicht erfüllt.

13

Der Kläger leidet zwar an einer "bandscheibenbedingten Erkrankung" im Sinne der BK Nr. 2108 (1). Es lässt sich jedoch nicht wahrscheinlich machen, dass diese Erkrankung durch seine berufliche Tätigkeit wesentlich (mit)verursacht worden ist (2).

14

1.

Beim Kläger liegt im Segment L4/5 eine Bandscheibenerkrankung in Form eines Bandscheibenvorfalls vor. Dagegen können die computertomographisch festgestellten Bandscheibenvorwölbungen in den Segmenten L3/4 und L5/S1 nicht als Erkrankungen angesehen werden. Denn allein die bildgebenden Befunde stellen keine Krankheit dar, und zwar bisweilen selbst dann nicht, wenn ein Bandscheibenvorfall vorliegt. Erforderlich ist vielmehr eine Schmerzsymptomatik, die dem Bildbefund entsprechen muss. Für bandscheibenbedingte Erkrankungen sprechen z.B. Wurzelreizsyndrome oder neurologische Ausfälle, die exakt einer Nervenwurzel entsprechen (vgl. zum Stand der Wissenschaft auch Schröter, a.a.O., Mehrtens/Perlebach, BKV Kommentar, Stand 1999 M 2108, S. 21 f.). Eine Wurzelkompression in Höhe dieser Segmente - und damit eine Krankheit - ist jedoch nicht festgestellt worden (vgl. dazu Gutachten Dr. J.).

15

2.

Es lässt sich jedoch nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit feststellen, dass die bandscheibenbedingte Erkrankung durch die berufliche Tätigkeit des Klägers wesentlich (mit)verursacht worden ist.

16

Allein das Vorliegen einer Krankheit der BK-Liste sowie einer beruflichen Exposition, die geeignet ist, diese Krankheit zu verursachen, begründen keinen Anscheinsbeweis und damit auch nicht die Wahrscheinlichkeit der beruflichen Verursachung, denn es gibt keinen gesicherten Erfahrungssatz, dass bei Vorliegen der sog. arbeitstechnischen Voraussetzungen die bandscheibenbedingte Erkrankung beruflich verursacht ist (BSG, Urteil vom 18. November 1997 - 2 RU 48/96 - , SGb 1999, 39). Der Grund dafür liegt darin, dass bandscheibenbedingte Erkrankungen auf einem Bündel von Ursachen ("multifaktorielles Geschehen") beruhen.

17

Ganz wesentlich ist der natürliche Alterungs- und Degenerationsprozess, dem die Bandscheiben eines jeden Menschen ab dem 30. Lebensjahr ausgesetzt sind und der nicht zu verhindern ist. Aus epidemiologischen Studien gehen eine Reihe weiterer Ursachenfaktoren hervor. Von Bedeutung ist auch die Genetik. Aus der Vielfalt dieser Verursachungsmöglichkeiten folgt, dass sich ein ursächlicher Zusammenhang zwischen bandscheibenbedingter Erkrankung und beruflicher Belastung nicht im Wege des Anscheinsbeweises, sondern nur anhand zusätzlicher Merkmale begründen lässt (vgl. dazu Schröter, a.a.O.; Urteil des Senats vom 20. Juli 2000 - L 6 U 342/99 ZVW). Entscheidend ist danach, dass dem Lebensalter vorauseilende osteochondrotische Veränderungen (sklerosierende Verdichtungen an der Deck- und Trag-platte) bevorzugt an der unteren LWS und spondylotische Veränderungen (knöcherne Ausziehungen an den Deck- und Tragplatten) an der unteren BWS mit Ausdehnung auf die obere LWS auftreten. Diese Veränderungen signalisieren, dass eine körperliche Belastung die Grenze der individuellen Belastbarkeit an den Bewegungssegmenten überschritten hat und erlauben somit einen Rückschluss auf die berufliche Verursachung der bandscheibenbedingten Erkrankung, die allein aus sich heraus nicht auf ihre Verursachung weist.

18

Dr. J. hat die vorstehend dargestellten orthopädischen Erkenntnisse bestätigt. Nach seiner Beurteilung lassen sich im vorliegenden Fall dem Lebensalter vorauseilende belastungsadaptive Reaktionen an der gesamten LWS nicht feststellen, denn es zeigen sich allenfalls mäßiggradige reaktive Veränderungen über den Grund- und Deckplatten der Zwischenwirbelräume L3/4 und L4/5. Diese geringgradigen Veränderungen allein reichen aber nicht aus, um einen Zusammenhang zwischen der beruflichen Tätigkeit des Klägers und seiner Erkrankung wahrscheinlich zu machen. Gegen einen solchen Zusammenhang spricht entgegen der Ansicht des Klägers außerdem, dass der Befund an seiner LWS nach den Feststellungen von Dr. J. altersentsprechend ist. Denn das Heben und Tragen schwerer Lasten führt in der Regel zu einer "Linksverschiebung" der altersbezogenen Verteilung der Befundhäufigkeit, d.h. zu einer erheblichen Vorverlagerung der im Röntgenbild nachweisbaren degenerativen Veränderungen in die jüngeren Altersgruppen (vgl. Mehrtens/Perlebach, a.a.O., M 2108 S. 13).

19

Davon abgesehen hat Dr. J. Gesichtspunkte aufgezeigt, die für eine schicksalhafte Ursache der LWS-Beschwerden des Klägers sprechen. Zum einen findet sich eine skoliotische Fehlhaltung des Achsenorgans mit Zunahme im Zeitverlauf unter Betonung des auch degenerativ betroffenen Segmentes L3/4, zum anderen zeigt sich computertomographisch eine Einengung des Spinalkanals in Höhe des Segmentes L4/5 und geringergradig L3/4, d.h. dort, wo auch die bandscheibenbedingten Veränderungen computertomographisch nachweisbar sind.

20

Da sich eine BK nicht feststellen lässt, hat der Kläger keinen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Dies gilt auch für Ansprüche gemäß § 3 BKV. Nach Absatz 1 Satz 1 dieser Vorschrift haben die Unfallversicherungsträger, wenn für Versicherte die Gefahr besteht, dass eine BK entsteht oder sich verschlimmert, dieser Gefahr mit allen geeigneten Mitteln entgegen zu wirken. Voraussetzung für ein Tätigwerden nach dieser Vorschrift ist eine konkrete individuelle Gefahr hinsichtlich der Entstehung oder Verschlimmerung der BK. Diese ist gegeben, wenn bei einem Verbleiben des Versicherten in der gefährdenden Tätigkeit oder im fortbestehenden Einwirken unter den vorliegenden Verhältnissen in absehbarer Zeit mit Wahrscheinlichkeit eine Erkrankung i.S.d. Liste zur BKV entstehen wird, deren rechtlich wesentliche Ursache oder Mitursache in der beruflichen Tätigkeit liegt (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl, S. 117). Diese Voraussetzungen sind hier jedoch nicht erfüllt:

21

Beim Kläger hat sich eine bandscheibenbedingte Erkrankung entwickelt, ohne dass den beruflichen Einwirkungen bis 1997 ein wesentlicher Ursachenanteil zukam. Zwar besteht beim Kläger wie bei jedem Menschen, der an einer degenerativen Erkrankung leidet, die Möglichkeit des negativen Verlaufs der Erkrankung. Die eigentliche Ursache für das Fortschreiten der Erkrankung wären allerdings nach wie vor die schicksalhaften Faktoren, während den beruflichen Belastungen nicht der Charakter einer wesentlichen Teilursache zukäme. Folgerichtig hat demgemäß Dr. J. die Ergreifung von präventiven Maßnahmen nicht für erforderlich gehalten.

22

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG; Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.