Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 04.09.2003, Az.: L 6/3 U 562/02

Anspruch des Erben auf Feststellung, dass der Erblasser an einer Berufskrankheit oder an einer Krankheit verstorben ist, die "wie" eine Berufskrankheit zu entschädigen ist; Feststellung von Lungenkrebs als Berufskrankheit (BK) nach Nr. 4101 der Anlage zur berufskrankenheiten-Verordnung (BKVO); Erhöhtes Lungenkrebsrisiko bei Exposition gegenüber Lösemitteln und aliphatischen Kohlenwasserstoffen ; Kausalzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der Gesundheitsstörung; Fehlen gesicherter Daten über Kombinationseffekte bei der Verursachung von Lungenkrebs

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
04.09.2003
Aktenzeichen
L 6/3 U 562/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 20991
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0904.L6.3U562.02.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 14.11.2002 - AZ: S 36 U 395/98

Redaktioneller Leitsatz

Beweismaßstab für den ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und einer Gesundheitsstörung ist grundsätzlich die hinreichende Wahrscheinlichkeit. Das Vorliegen der bei der medizinisch-wissenschaftlichen Beurteilung des Kausalzusammenhangs zu Grunde zu legenden Tatsachen muss dagegen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (Gewissheit) erwiesen sein.

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 14. November 2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

1

I.

Die Klägerin ist Rechtsnachfolgerin ihres am 2. Mai 1946 geborenen und am 9. Dezember 1998 an einem Lungenkarzinom verstorbenen Ehemannes C. (Versicherter). Als Rechtsnachfolgerin des Versicherten erstrebt sie die Feststellung, dass dieser an einer Berufskrankheit - BK - oder an einer Krankheit verstorben ist, die "wie" eine BK zu entschädigen ist. Demgemäß begehrt sie auch die Verurteilung der Beklagten zur Erbringung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung.

2

Der Versicherte verrichtete ab 1971 verschiedene Tätigkeiten und arbeitete vom 8. März 1977 bis 8. September 1978 als Schweißer. Vom 7. Mai 1979 bis 3. Februar 1995 war er bei der Firma D., als Maschinenführer tätig und führte parallel hierzu so genannte Dublier-Arbeiten aus. Anschließend war er bis zum Beginn seiner Erkrankung im Januar 1996 ausschließlich mit Dublier-Arbeiten beschäftigt (Bericht des Technischen Aufsichtsdienstes - TAD - der Beklagten vom 20. März 1997, Verwaltungsakten Bl. 75).

3

Die Beklagte zog ärztliche Unterlagen des behandelnden Lungenarztes Dr. E. bei (Verwaltungsakten Bl. 31 bis 60) und veranlasste den Ermittlungsbericht ihres TAD vom 20. März 1997. Daraus geht hervor, dass unter der Bezeichnung "Maschinenführer" die Tätigkeit an zwei Walzwerken zu verstehen sei, in denen Gummimischungsreste aufgearbeitet und diese anschließend mit einer Zinkstearatwasserlösung "gepudert" werden. Es könne davon ausgegangen werden, dass eine Nitrosamineexposition in sehr geringem Umfang vorgelegen habe, desgleichen von einer Staubbelastung am Arbeitsplatz des Maschinenführers. Weiterhin könne eine Lösemittelexposition angenommen werden, wobei sowohl aliphatische Kohlenwasserstoffe (Benzine teilweise mit Toluolzusatz) als auch gängige Lösungsmittel in Betracht kämen. Insbesondere werde auf das sehr geruchsintensive Produkt Dipenten verwiesen, das für einige Mischungen als Haftvermittler eingesetzt worden sei, jedoch keinen Grenzwert im Sinne von MAK oder TAK besitze. Nach den vorliegenden Messberichten könne davon ausgegangen werden, dass für Stäube, Gase und Dämpfe die Grenzwerte nicht überschritten worden seien. Bezüglich krebserzeugender Gefahrstoffe am Arbeitsplatz des Versicherten seien theoretisch die Nitrosamineexpositionen mit in Betracht zu ziehen. Diese seien jedoch nur in einem Fall messtechnisch und dann auch weit unterhalb des Grenzwertes nachgewiesen worden. Weiterhin sei eine sehr geringe Exposition von aromatischen Kohlenwasserstoffen in Form von Toluol oder auch PAH (polycyclische Kohlenwasserstoffe) als Bestandteil von Weichmacherölen denkbar. Allerdings habe der Versicherte mit diesen Produkten keinen Umgang gehabt. Ebenso könne eine Asbestfaserexposition ausgeschlossen werden. Zusammenfassend sei festzustellen, dass ein Umgang mit krebserzeugenden Stoffen nicht vorgelegen habe und von einer Exposition gegenüber Asbestfaserstäuben mit großer Wahrscheinlichkeit nicht ausgegangen werden könne. - Ferner holte die Beklagte eine arbeitsmedizinische Stellungnahme des Dr. F. (undatiert) ein. Dieser führte aus, er finde keine Anhaltspunkte für eine BK. Die Schweißarbeiten ließen nicht den Schluss auf eine Nickelexposition zu; eine Asbestexposition sei nicht nachvollziehbar, ebenso keine andere relevante Exposition.

4

Daraufhin lehnte es die Beklagte ab, eine Tumorerkrankung des Versicherten als Versicherungsfall nach § 9 Sozialgesetzbuch - SGB - VII (inhaltlich übereinstimmend: der bis zum 31. Dezember 1996 geltende § 551 RVO) anzuerkennen und Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu erbringen (Bescheid vom 11. September 1997). Dagegen legte der Versicherte Widerspruch ein und machte geltend, die Beklagte habe keine konkrete Feststellung zur Exposition gegenüber Nitrosaminen und zur Exposition als Schutzgasschweißer getroffen. Auch die medizinische Sachaufklärung sei unzureichend. Während des Widerspruchsverfahrens veranlasste die Beklagte hinsichtlich der Tätigkeit des Versicherten als Schweißer (8. März 1977 bis 8. September 1978) sowie hinsichtlich seiner Tätigkeit als Hilfsarbeiter im Schlossereibereich (28. Juni 1971 bis 10. Dezember 1972) Stellungnahmen des TAD der Süddeutschen Metall-BG vom 13. August 1998 und 2. September 1998. Den Widerspruch des Versicherten wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 10. November 1998 zurück.

5

Dagegen hat dieser am 25. November 1998 beim Sozialgericht - SG - Hannover Klage erhoben. Das SG hat von Amts wegen das lungenärztliche Gutachten des Dr. G., Chefarzt der Klinik für Pneumologie des Krankenhauses H., vom 28. Mai 2000 eingeholt. Darin heißt es zusammenfassend, die beruflichen Einwirkungen während der Tätigkeit des Versicherten bei der Firma I. und während früherer Tätigkeiten seien mit großer Wahrscheinlichkeit nicht wesentliche Ursache für die Entstehung des Lungenkarzinoms gewesen. Insbesondere habe sich kein Hinweis auf eine Nitrosaminbelastung und ein erhöhtes Lungenkrebsrisiko ergeben. Das SG hat das in einem anderen Rechtsstreit erstattete arbeitsmedizinische Gutachten des Prof. Dr. J. vom 28. August 2001, das sich mit den Krebsrisiken in der Gummiindustrie befasst, in den Rechtsstreit eingeführt. Das SG hat außerdem in der mündlichen Verhandlung am 14. November 2002 den Arzt für Arbeitsmedizin Dr. K. als ärztlichen Sachverständigen gehört, der zuvor das schriftliche arbeitsmedizinische Gutachten vom 3. November 2002 erstattet hatte. Die Beklagte hat eine arbeitsmedizinische gutachtliche Stellungnahme des Prof. Dr. L. vom 5. März 2002 vorgelegt.

6

Mit Urteil vom 14. November 2002 hat das SG die Klage abgewiesen: Es könne nicht festgestellt werden, dass die Lungenkrebserkrankung des Versicherten eine BK nach § 551 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung - RVO - sei. Eine derartige Listenerkrankung enthalte die Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) jedenfalls hinsichtlich des hier benannten Expositionsstoffes Nitrosamin nicht. Die Anerkennung als BK nach den Ziffern 4101 bis 4110 und 1301 bis 1304 der BKV scheitere daran, dass entweder der ermittelte Arbeitsstoff keine krebserregende Wirkung habe oder dass dessen krebserzeugende Wirkung lediglich hinsichtlich bestimmter Zielorgane erwiesen sei. Auch könne die Lungentumorerkrankung des Versicherten nicht "wie" eine BK nach § 551 Abs. 2 RVO anerkannt werden. Zur Überzeugung der Kammer stehe nämlich fest, dass diese Erkrankung nach dem derzeit herrschenden medizinischen Kenntnisstand nicht auf die beruflichen Tätigkeiten des Versicherten, insbesondere als Maschinenführer bei der Firma I. und auf den beruflichen Umgang mit dem hinsichtlich seiner Wirkung umstrittenen Arbeitsstoff Nitrosamin zurückzuführen sei. Dabei stütze sich die Kammer auf die von M. und Dr. K. erstatteten Gutachten sowie auf die von der Beklagten zur Gerichtsakte gereichte medizinische Stellungnahme des Prof. Dr. N./Dr. O ... Daraus gehe schlüssig hervor, dass nach dem derzeitigen arbeitsmedizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstand keine Hinweise auf ein erheblich erhöhtes Risiko für Lungenkrebserkrankungen bei der Exposition gegenüber Nitrosaminen bestünden. Im Übrigen habe der Sachverständige Dr. K. keinen Zweifel daran gelassen, dass der nahezu dreißigjährige Tabakkonsum des Versicherten - bei einem täglichen Zigarettenkonsum von 10 Zigaretten - für sich allein eine erhöhte Erkrankungswahrscheinlichkeit für die Entstehung eines Plattenepithelkarzinoms darstelle. Wegen weiterer Einzelheiten der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

7

Gegen dieses ihr am 20. November 2002 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 20. Dezember 2002 Berufung eingelegt. Sie hat die Berufung nicht begründet. Die Klägerin beantragt,

  1. 1.

    das Urteil des SG Hannover vom 14. November 2002 und den Bescheid der Beklagten vom 11. September 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 1998 aufzuheben,

  2. 2.

    festzustellen, dass die Lungenkrebserkrankung des Versicherten Folge einer BK oder einer Erkrankung ist, die nach § 551 Abs. 2 RVO wie eine BK zu entschädigen ist,

  3. 3.

    die Beklagte zu verurteilen, ihr Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu erbringen.

8

Die Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Hannover vom 14. November 2002 zurückzuweisen.

9

Der Senat hat die Beteiligten durch Verfügung vom 14. Juli 2003 darauf hingewiesen, dass er beabsichtige, die Berufung durch Beschluss zurückzuweisen. Ihnen ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.

10

Dem Senat haben außer den Prozessakten die Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen. Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

11

II.

Die statthafte Berufung der Klägerin ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Der Senat hält die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Entscheidung konnte deshalb durch Beschluss ergehen (§ 153 Abs. 4 SGG).

12

Die Klägerin ist zwar als Sonderrechtsnachfolgerin des Versicherten gemäß § 56 Abs. 1 SGB I berechtigt, den Rechtsstreit des Versicherten fortzuführen. Die nach § 55 Abs. 3 Nr. 3 SGG zulässige Klage auf Feststellung, dass der - auf ein Lungenkarzinom zurückzuführende - Tod des Versicherten Folge einer BK i.S. des § 9 SGB VII ist, ist jedoch nicht begründet. Daraus folgt zugleich, dass der Versicherte zu Lebzeiten wegen seiner Lungenerkrankung keinen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung hatte.

13

Dies hat das SG bereits in jeder Hinsicht zutreffend begründet, sodass zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 142 Ab. 2 S. 3 SGG in vollem Umfang auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen wird. Dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin ist im Übrigen mehrfach Gelegenheit gegeben worden, die Berufung zu begründen, ohne dass er dieser Aufforderung nachgekommen ist.

14

Entscheidend ist, dass das Lungenkarzinom keiner der in Betracht zu ziehenden, in der Liste zur BKV aufgeführten BKen zuzuordnen ist. Die Feststellung des Lungenkrebses als BK nach Nr. 4101, die den asbestinduzierten Lungenkrebs erfasst, scheitert daran, dass der Versicherte nicht gegenüber Asbest exponiert war. Die Exposition gegenüber Lösemitteln und aliphatischen Kohlenwasserstoffen (vgl. hierzu die BKen Nrn. 1301 bis 1304), denen der Versicherte nach den Ermittlungen des TAD der Beklagten in geringem Ausmaß ausgesetzt war, ist nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft nicht mit einem erhöhten Lungenkrebsrisiko verbunden, sondern betrifft andere Zielorgane. Dies hat das SG unter Hinweis auf das arbeitsmedizinische Gutachten des Dr. K. dargelegt.

15

Schließlich ist der Lungenkrebs des Versicherten auch nicht als Krankheit aufzufassen, die gemäß § 551 Abs. 2 RVO bzw. § 9 Abs. 2 SGB VII (so genannte "Öffnungsklausel") zu entschädigen ist. Voraussetzung hierfür wäre, dass nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft ein erheblich erhöhtes Erkrankungsrisiko einer bestimmten Berufsgruppe im Vergleich zur übrigen Bevölkerung nachgewiesen ist. Das SG hat diese Vorschrift hinsichtlich des Berufsstoffs "Nitrosamine" geprüft, denen der Versicherte allenfalls in geringem Ausmaß ausgesetzt war. Es ist im Anschluss an die übereinstimmende Beurteilung aller in diesem Rechtsstreit gutachtlich herangezogenen Lungenärzte und Arbeitsmediziner (Dr. F., Dr. G., Prof. Dr. N./Dr. O. und insbesondere Dr. K.) zu dem nachvollziehbaren Ergebnis gekommen, dass es solche gesicherten neuen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft nicht gibt. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass sich Dr. K. auf überzeugende Weise mit dem in diesem Rechtsstreit eingeführten arbeitsmedizinischen Gutachten des Prof. Dr. J. auseinander gesetzt hat. Er hat - bezogen auf Arbeiten in der Gummiindustrie - herausgearbeitet, dass gesicherte Daten über Kombinationseffekte bei der Verursachung von Lungenkrebs (Synkanzerogenese) - hier: durch Nitrosamine in Verbindung mit Asbest und/oder anderen Inhaltsstoffen - nicht existieren. Außerdem hat er darauf hingewiesen, dass nach den Ausführungen von Prof. Dr. J. Lungenkrebs in der Gummiindustrie vorwiegend in der Chemikalien-Vorbereitung und beim Mischen und Mahlen und damit in Bereichen auftritt, in denen der Versicherte nicht tätig war.

16

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

17

Ein Grund für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) ist nicht gegeben.