Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 25.09.2003, Az.: L 1 RA 283/01
Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente; Beschäftigung als Bauschlossermeister; Degenerative Veränderungen im Bereich des Körperhaltungsapparates, Funktionsminderung der rechten Hand und des rechten Daumens, Darmerkrankung; Voraussetzungen der Erwerbsunfähigkeit, der teilweisen Erwerbsminderung und der vollen Erwerbsminderung; Möglichkeit der vollschichtigen Leistungserbringung
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 25.09.2003
- Aktenzeichen
- L 1 RA 283/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 20016
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0925.L1RA283.01.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Lüneburg - AZ: S 14 RA 218/99
Rechtsgrundlagen
- § 44 SGB VI a.F.
- § 43 SGB VI
Redaktioneller Leitsatz
Die Notwendigkeit des kurzfristigen Aufsuchens einer Toilette ist keine atypische Leistungseinschränkung, weil sie - ähnlich der notwendigen (Selbst-)Versorgung von Diabetes-kranken Versicherten mit Insulin oder Zwischenmahlzeiten - durch arbeitsrechtliche sog. persönliche Verteilzeiten sichergestellt ist.
Eine Einschränkung der Wegefähigkeit liegt nicht vor, wenn der Versicherte nach eigenen Angaben noch ca. 30-45 Minuten ohne Pause Autofahren kann.
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente hat.
Der 1948 geborene Kläger erlernte den Beruf des Schlossers und legte 1975 die Prüfung zum Bauschlossermeister ab. In diesem Beruf arbeitete er versicherungspflichtig, war aber auch selbstständig tätig.
Im April 1998 stellte der Kläger einen Rentenantrag und begründete sein Begehren mit dem Vorliegen einer Colitis ulzerosa und Veränderungen im Bereich des Stütz- und Bewegungsapparates. Die Beklagte zog einen Entlassungsbericht der Reha-Klinik G. vom 15. April 1998 bei und veranlasste dann eine Untersuchung durch den Internisten Dr. H ... Nachdem dieser Sachverständige in seinem Gutachten vom 5. Juni 1998 (bei Auswertung auch zahlreich vorliegender früherer Arztberichte) zu dem Ergebnis gekommen war, dass der Kläger bei bestehender chronischer Colitis ulzerosa und einer Kniegelenksschädigung links noch leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten vollschichtig unter Schutz vor Kälte und Nässe sowie ohne Wechselschicht oder Akkordarbeit verrichten könne, wenn außerdem sichergestellt sei, dass er in der Nähe eine Toilette aufsuchen könne, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 5. August 1998 den Rentenantrag ab. Hiergegen erhob der Kläger unter Vorlage weiterer Arztberichte Widerspruch. Die Beklagte holte daraufhin einen Befundbericht des Orthopäden Dr. I. vom 3. Februar 1999 ein und wies den Widerspruch mit Bescheid vom 14. September 1999 zurück.
Gegen diese Entscheidung hat der Kläger Klage erhoben mit der Begründung, dass das ihm verbliebene Leistungsvermögen von der Beklagten nicht zutreffend festgestellt worden sei. Außerdem genieße er Berufsschutz. Zumutbare Verweisungstätigkeiten gebe es für ihn nicht. Das Sozialgericht (SG) Lüneburg hat Befundberichte des Arztes für Chirurgie J. vom 10. Dezember 1999 und des Internisten Dr. K. vom 21. Dezember 1999, denen weitere Arztberichte beigefügt waren, eingeholt. Nachdem der behandelnde Chirurg J. mitgeteilt hatte, dass eine weitere Operation an der rechten Hand des Klägers erforderlich geworden sei, ließ das SG den Kläger durch den Arzt für Chirurgie Dr. L. untersuchen und begutachten. Dieser kam in seinem Gutachten vom 2. März 2001 zu dem Ergebnis, dass bei dem Kläger erhebliche degenerative Veränderungen im Bereich des Stütz- und Bewegungsapparates bestünden, daneben eine Funktionsminderung der rechten Hand und des rechten Daumens. Außerdem leide der Kläger an der bekannten Colitis ulzerosa, und es bestünden depressive Verstimmungszustände. Bei diesen Gesundheitsstörungen sei der Kläger noch in der Lage, vollschichtig leichte, allenfalls gelegentlich mittelschwere Arbeiten in Wechsel von Gehen, Stehen und Sitzen unter Schutz vor Nässe und Kälte auszuüben. Nicht möglich seien Arbeiten über Kopf sowie das Heben von schweren Lasten über 15 kg. Außerdem sei eine Tätigkeit im Akkord oder in Wechselschicht nicht zumutbar. Ferner sei darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand eingeschränkt sei, und es müsse wegen der bestehenden Darmerkrankung das Aufsuchen einer Toilette möglich sein. Nachdem der Kläger weitere Berichte der ihn behandelnden Ärzte vorgelegt hatte, hat das SG eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Dr. L. vom 4. Juli 2001 veranlasst, in der dieser Sachverständige seine Leistungsbeurteilung bestätigt hat. Der Kläger hat weitere Arztberichte zu den Akten gereicht. Das SG hat in der mündlichen Verhandlung vom 23. Oktober 2001 den berufskundlichen Sachverständigen M. zur Frage der Verweisbarkeit des Klägers gehört und sodann mit Urteil vom selben Tage die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit zu bewilligen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. In den Gründen hat es im Einzelnen ausgeführt, dass bei dem Kläger von einem vollschichtigen Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung auszugehen sei. Ferner bestehe die Notwendigkeit, kurzfristig Sanitäreinrichtungen zu erreichen. Da auch die Hebe- und Tragefähigkeit sowie die Einsatzfähigkeit der rechten Hand und des rechten Armes eingeschränkt seien, sei es überzeugend, wenn der Sachverständige ausgeführt habe, dass es für den Kläger eine zumutbare Verweisungstätigkeit nicht gebe. Der Kläger sei daher berufsunfähig. Erwerbsunfähigkeit bestehe dagegen nicht, weil noch ein vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte Arbeiten bestehe.
Gegen das ihm am 15. November 2001 zugestellte Urteil richtet sich die am 29. November 2001 eingelegte Berufung des Klägers, mit der er seinen Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente weiterverfolgt. Unter Vorlage von Bescheinigungen des Chirurgen J. vom 13. Dezember 2001 und 10. September 2003, des Internisten Dr. K. vom 11. Dezember 2001 sowie von Dr. I. vom 7. Mai 2003 vertritt er die Auffassung, dass das ihm verbliebene Restleistungsvermögen eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht zulasse. Insbesondere sei er nicht auf die Berufe des Registrators oder Verwalters von Büromaterialien zu verweisen. Gerade diese Tätigkeiten könne er nicht mehr verrichten, da dabei Leistungen anfielen, die er nicht mehr erbringen könne. Hinzu komme, dass sich die Beeinträchtigungen an seiner rechten Hand ständig verschlimmerten. Auch könne er wegen seines linken Knies kaum noch gehen und nur noch 30-45 Minuten ohne Pausen Auto fahren. Der ihm zuerkannte Grad der Behinderung (GdB) betrage inzwischen 70.
Der Kläger beantragt,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 23. Oktober 2001 zu ändern und den Bescheid der Beklagten vom 5. August 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. September 1999 (vollständig) aufzuheben,
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Mai 1998 an Stelle der gewährten Berufsunfähigkeitsrente Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hat mit Bescheid vom 20. August 2002 das Urteil des SG Lüneburg ausgeführt und zahlt dem Kläger rückwirkend vom 1. Mai 1998 an Rente wegen Berufsunfähigkeit. Unabhängig davon vertritt sie die Auffassung, dass eine Erwerbsunfähigkeit bei dem Kläger nicht vorliege. Denn eine zeitliche Leistungseinschränkung liege bei ihm nicht vor.
Eine zwischenzeitlich von dem Kläger bei der Beklagten beantragte Leistung zur medizinischen Rehabilitation ist abgelehnt worden (Bescheid vom 28. 0ktober 2002).
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Sachvortrags der Beteiligten wird auf die Prozess- und Beiakten verwiesen. Sie haben vorgelegen und sind Gegenstand von mündlicher Verhandlung, Beratung und Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß §§ 143 ff Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden und somit zulässig. Das Rechtsmittel ist jedoch nicht begründet.
Das angefochtene Urteil ist nicht zu beanstanden. Denn der Kläger hat weder Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach dem bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Recht (§ 44 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VI - a.F.) noch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach dem seit dem 1. Januar 2001 geltenden Recht (§ 43 SGB VI n.F.). Das SG hat in seinem Urteil altes und neues Recht rechtsfehlerfrei angewendet und auch den medizinischen und berufskundlichen Sachverhalt aufgeklärt und überzeugend gewürdigt. Nach allem ist es zu der richtigen Entscheidung gekommen, dass dem Kläger eine Erwerbsunfähigkeitsrente oder Rente wegen Erwerbsminderung nicht zugesprochen werden kann. Es wird deshalb zur Vermeidung von Wiederholungen insoweit auf die Entscheidungsgründe des Urteils vom 23. Oktober 2001 Bezug genommen (§ 153 Abs. 2 SGG).
Nach altem Recht war das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit dann zu bejahen, wenn der Nachweis eines nicht mehr vollschichtigen Leistungsvermögens auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erbracht war. Denn nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung war der Teilzeitarbeitsmarkt als verschlossen anzusehen (vgl. im Einzelnen BSG SozR 2200 § 1246 RVO Nr. 79). Nach neuem Recht kommt es darauf an, ob das zeitliche Leistungsvermögen auf zumindest unter 6 Stunden täglich gesunken ist (teilweise Erwerbsminderung; volle Erwerbsminderung bei einem Herabsinken unter 3 Stunden pro Tag). Ein solches zeitlich begrenztes Leistungsvermögen lässt sich auch unter Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers im Berufungsverfahren nicht feststellen. Auch soweit der Kläger darauf verweist, dass die Beeinträchtigungen an der rechten Hand nach drei Operationen ständig zunähmen, rechtfertigt dies keine andere Beurteilung. Denn die hier festgestellten Gesundheitsstörungen wirken sich nicht auf die zeitliche Dauer einer Erwerbstätigkeit aus. Das Vorliegen derartiger Befunde kann allein zu der Annahme führen - wie im Falle des Klägers auch geschehen -, dass im Rahmen des festgestellten vollschichtigen Leistungsvermögens zusätzliche qualitative Einschränkungen zu beachten sind.
Für noch weiter gehende Einschränkungen ist die Ausprägung der Beschwerden des Klägers namentlich nach dem chirurgischen Gutachten des Dr. L. nicht ausreichend (Beugedefizit rechter Daumen und endgradig eingeschränkter Spitzgriff, bei komplett erhaltenem Faustschluss). Es ist deshalb für den Senat überzeugend, wenn der vom SG gehörte berufskundliche Sachverständige bei diesen Einschränkungen ausübbare Berufe benennen konnte (vgl. zu ähnlicher Konstellation: LSG Niedersachsen, Urteil vom 24.10.2001, L 2 RJ 310/00). Die Notwendigkeit des kurzfristigen Aufsuchens einer Toilette ist bereits deshalb keine atypische Leistungseinschränkung, weil sie - ähnlich der notwendigen (Selbst-)Versorgung von Diabetes-kranken Versicherten mit Insulin oder Zwischenmahlzeiten - durch arbeitsrechtliche sog. persönliche Verteilzeiten sichergestellt ist (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 28.07.1998, L 2 RJ 2683/97; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10.07.2000, L 3 RJ 53/98; zuletzt wieder: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 25.06.2003, L 1 RA 269/01; jeweils m.w.N.). Und eine Einschränkung der Wegefähigkeit liegt bereits deshalb nicht vor, weil der Kläger nach eigenen Angaben noch ca. 30-45 Minuten ohne Pause Autofahren kann (BSG, Urteil vom 30.01.2002, B 5 RJ 36/01 R).
Auch der vom Kläger zu den Akten gereichte Bescheid des Versorgungsamtes Hannover vom 28. Juli 2001, nachdem der Grad der Behinderung nunmehr 70 beträgt, zwingt nicht zu einem anderen Schluss. Die dort getroffenen Feststellungen folgen anderen rechtlichen Beurteilungsmaßstäben und können für die Feststellungen im Rentenrecht nicht von Bedeutung sein.
Der Senat sah sich auch nicht gedrängt, von Amts wegen den Sachverhalt weiter aufzuklären. Das SG hat insoweit alles Erforderliche veranlasst, in dem es ein Gutachten des Chirurgen Dr. L. mit ergänzender Stellungnahme sowie ein berufskundliches Gutachten, das auch zum allgemeinen Arbeitsmarkt Stellung genommen hat, eingeholt hat. Die dortigen Schlussfolgerungen hält der Senat für in sich schlüssig und in seinen Folgen für nachvollziehbar und überzeugend. Dies umso mehr, als sich auch aus den von dem Kläger im Berufungsverfahren vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen keine Befunde ergeben, die zu einer weiter gehenden Einschränkung des Leistungsvermögens führen könnten (Zunahme der Beschwerden erst bei langem Stehen, Gehen, schwerem Heben und Tragen sowie beim Arbeiten in gebeugter Haltung, keine Muskelatrophien oder motorische Ausfälle - Dr. I. vom 7. Mai 2003; Gehstrecken von mehr als 500 m anamnestisch schmerzhaft, Patient benutzt aber keine Gehstützen - Chirurg J. vom 10. September 2003).
Die Berufung konnte nach allem keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Es bestand kein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen.