Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 12.09.2003, Az.: L 9 U 167/03

Voraussetzungen für die Zurückweisung einer Rechtssache an das Sozialgericht durch das Landessozialgericht bei Verfahrensmängel; Rechtmäßigkeit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid ohne vorherige Anhörung der Beteiligten bei vorherigem Hinweis auf den beabsichtigten Verfahrensgang und bei Nichtabwarten der Frist zur Stellungnahme; Prüfung eines Verstoßes gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs im Hinblick auf eine nicht erfolgte Anhörung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
12.09.2003
Aktenzeichen
L 9 U 167/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 20170
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0912.L9U167.03.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Stade - 24.04.2003 - AZ: S 7 U 8/02

Tenor:

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stade vom 24. April 2003 wird aufgehoben. Das Verfahren wird an das Sozialgericht Stade zurückverwiesen.

Tatbestand

1

In dem auf Anerkennung einer Berufkrankheit nach Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung gerichteten Klageverfahren erster Instanz hat das Sozialgericht den Berufungskläger mit Verfügung vom 22. April 2003 davon unterrichtet, dass beabsichtigt sei, über die Klage durch Gerichtsbescheid nach § 105 SGG zu entscheiden. Der Berufungskläger erhalte Gelegenheit zu einer abschließenden Stellungnahme binnen zwei Wochen. Ohne den Eingang einer Stellungnahme des Berufungsklägers oder den Ablauf der Frist abzuwarten, hat das Sozialgericht sodann mit Gerichtsbescheid vom 24. April 2003 die Klage abgewiesen. Mit seiner am 26. Mai eingelegten Berufung rügt der Berufungskläger die Versagung rechtlichen Gehörs und beantragt, das Verfahren an das Sozialgericht zurückzuverweisen. Die Berufungsbeklagte hat Bedenken hiergegen nicht erhoben. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Unfallakten der Berufungsbeklagten Bezug genommen, die beigezogen worden sind.

Entscheidungsgründe

2

Der Senat entscheidet im erklärten Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter (§§ 124 Abs. 2, 155 Abs. 3 und 4 SGG). Dabei wird die Sache antragsgemäß an das Sozialgericht - SG - zurückverwiesen (§ 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG).

3

Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht die angefochtene Entscheidung durch Urteil aufheben und die Sache an das SG zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Um einen Verfahrensmangel handelt es sich auch bei einem Verstoß gegen das Mündlichkeitsprinzip, der stets mit einem Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs einhergeht (vgl. BSG NJW 1962, 656). Ein solcher Verstoß liegt hier vor; denn das SG hat in erster Instanz ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden, ohne zuvor die nach § 105 Absatz 1 Satz 2 SGG vorgeschriebene Anhörung der Beteiligten wirksam durchzuführen. Zwar hat es den Berufungskläger (und die Berufungsbeklagte) mit Verfügung vom 22. April 2003 auf die beabsichtigte Verfahrensweise hingewiesen und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen eingeräumt. Indem es weder den Eingang von Stellungnahmen beider Beteiligter noch den Ablauf dieser von ihm gesetzten Frist abgewartet, sondern bereits am 24. April den in Aussicht genommenen Gerichtsbescheid erlassen hat, hat es dann jedoch beiden Beteiligten, insbesondere auch dem unterlegenen Kläger, das vorgeschriebene Gehör zu dem beabsichtigten Verfahren verweigert. Ob ein zusätzlicher Verstoß gegen den Grundsatz rechtlichen Gehörs auch darin liegt, dass der Berufungskläger keine Gelegenheit mehr erhalten hat, sich vor Erlass des Gerichtsbescheides noch abschließend zur Sache zu äußern, kann vor diesem Hintergrund dahinstehen.

4

Der hiernach gegebene Verstoß gegen das Mündlichkeitsprinzip stellt keinen absoluten Revisionsgrund (§ 202 SGG i.V.m. § 551 ZPO) dar, ist jedoch gleichwohl wesentlich, weil er sich auf die Entscheidung des SG ausgewirkt haben kann. Hiervon ist, wie bei Verstößen gegen den Grundsatz rechtlichen Gehörs allgemein, auch vorliegend auszugehen; denn es ist jedenfalls im sozialgerichtlichen Verfahren, das eine Zurückweisung verspäteten Vorbringens nicht kennt, regelmäßig nicht auszuschließen, dass neuer Vortrag eines Beteiligten im Termin zur mündlichen Verhandlung die Entscheidung des Gerichts hätte beeinflussen können (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl. 2002, § 105 Rdn 12 , § 124 Rdn 2a, § 159 Rdn 3a und § 160 Rdn 23; BSG NJW 1962, 656, wo ebenfalls von einem wesentlichen Verfahrensmangel ausgegangen wird, sowie zur gleichartigen Bedeutung der unterbliebenen Anhörung im Beschlussverfahren nach § 153 Abs. 4 SGG auch BSG, Beschl. v. 07.11.2000 - B 2 U 14/00 R, Beschl. v. 25.11.1999 - B 13 RJ 25/99 R und Beschl. v. 22.04.198 - B 9 SB 19/97 R).

5

Bei seiner Entscheidung berücksichtigt der Senat, dass der dargelegte Verfahrensmangel ihn lediglich berechtigt, nicht aber verpflichtet, die Sache an das SG zurückzuverweisen (Meyer-Ladewig, a.a.O., § 159 Rdn 5). Die diesbezügliche Ermessenentscheidung hat darauf Rücksicht zu nehmen, dass eine Zurückverweisung die Ausnahme bilden soll, weil sie die Erledigung des Rechtsstreits verzögern kann (vgl. Meyer - Ladewig, a.a.O., Rdnr. 5). Dem widerstreitenden Gesichtspunkt, den faktischen Verlust einer Instanz zu vermeiden, kommt jedoch vorliegend vorrangige Bedeutung zu; denn der Senat kann den erstinstanzlich verletzten Verfahrenspflichten im Berufungsverfahren nicht mehr wirkungsgleich nachkommen. Nachdem der Berufungskläger sein Interesse an der Zurückverweisung ausdrücklich geltend gemacht und die Berufungsbeklagte keine gegenteiligen Interessen geäußert hat, muss demgemäß der Gesichtpunkt der Verfahrensbeschleunigung zurücktreten. Er kann ohnedies nur eingeschränkte Bedeutung beanspruchen, wenn, wie im vorliegenden Fall, der Verfahrensfehler bereits mit der Berufungsschrift gerügt wird und die Zurückverweisung vor Herstellung der materiellen Spruchreife des Berufungsverfahrens zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem eine Sachentscheidung des Berufungsgerichts noch nicht absehbar wäre.

6

Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht vorbehalten (Meyer-Ladewig, a.a.O., § 159 Rdnr. 5 d).

7

Ein Grund, gem. § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, besteht nicht.