Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 30.09.2003, Az.: L 10 RI 112/03
Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit; Anspruch auf Anhörung vor Erlass eines Gerichtsbescheides; Entscheidung in der Sache selbst trotz wesentlicher Mängel hinsichtlich der Verfahrensweise aus Gründen der Prozessökonomie; Erwerbsminderung wegen Einschränkung der Leistungsfäghigkeit auf weniger als drei Stunden Erwerbstätigkeit täglich; Unbefristete Gewährung bei Unwahrscheinlichkeit einer Behebung der Minderung der Erwerbstätigkeit (MdE)
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 30.09.2003
- Aktenzeichen
- L 10 RI 112/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 20041
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0930.L10RI112.03.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Stade - 06.03.2003 - AZ: S 9 RI 70/02
Rechtsgrundlagen
- § 43 Abs. 2 SGB VI
- § 105 Abs. 1 S. 2 SGG
- § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG
- § 102 Abs. 2 S. 2. SGB X
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Die Anhörungsmitteilung vor Erlass eines Gerichtsbescheides muss jedenfalls den Hinweis enthalten, dass sich die Beteiligten vor einer Entscheidung des Gerichts noch äußern können.
- 2.
Versicherte sind voll erwerbsgemindert, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stade vom 6. März 2003 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor zur Klarstellung wie folgt neugefasst wird: Der Bescheid der Beklagten vom 10. Dezember 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 2002 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger auf Grund eines am 30. Juni 2001 eingetretenen Leistungsfalls unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Klageverfahrens einschließlich des Vorverfahrens zu erstatten. Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten zweiter Instanz zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zusteht.
Der Kläger ist 1951 geboren. Seit 1973 hält er sich in der Bundesrepublik Deutschland auf. Von 1979 an war er als Kranfahrer beschäftigt. Für diese Tätigkeit ist er seit August 1996 arbeitsunfähig, das Arbeitsverhältnis wurde im Juli 1999 gekündigt. Nachdem der Kläger zunächst Krankengeld bezogen hatte, ist er inzwischen arbeitslos. Ein erster Rentenantrag von April 1997 wurde im Ergebnis bestandskräftig abgelehnt. In diesem Zusammenhang hatte die Beklagte sich verpflichtet, dem Kläger eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme zu gewähren. Diese wurde im Januar 2001 durchgeführt. Ausweislich des Entlassungsberichtes wurde der Kläger wegen ausgeprägter depressiver und somatisierter Beschwerden nur noch für drei Stunden täglich leistungsfähig befunden.
Im Juni 2001 beantragte der Kläger auf Aufforderung des Arbeitsamtes erneut die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Zur Begründung nahm er auf die vorliegenden medizinischen Unterlagen Bezug. Die Beklagte ließ den Kläger im Widerspruchsverfahren von dem Neurologen und Psychiater I. begutachten, der im Januar 2002 eine hypochondrische Fixierung diagnostizierte, eine anhaltende Depression aber nicht feststellen konnte. Er hielt den Kläger noch für in der Lage, vollschichtig bis zu körperlich mittelschwere Arbeiten ohne Wechselschicht und ohne besondere Risiken durch etwa auftretende Schwindelzustände zu verrichten. Mit Bescheid vom 10. September 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 2002 lehnte die Beklagte die Gewährung von Rente ab. Der Kläger sei weder vollständig noch teilweise erwerbsgemindert noch berufsunfähig. Er könne mindestens sechs Stunden täglich körperlich bis zu mittelschwere Tätigkeiten verrichten.
Dagegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht (SG) Stade erhoben und die Gewährung von Rente begehrt. Unter Hinweis auf die bei ihm vorliegende Depression hat er zur Begründung vorgetragen, er könne nicht mehr in nennenswertem Umfang Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verrichten. Das SG hat zunächst Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers beigezogen und ihn dann von der Psychiaterin J. begutachten lassen. Diese hat in dem unter dem 8. Juni 2002 erstatteten Gutachten eine somatisierte Depression mit angstneurotischer Komponente diagnostiziert sowie den Verdacht auf ein leichtes hirnorganisches Psychosyndrom bei Cerebralsklerose geäußert. Das Leistungsvermögen des Klägers sei seit dem Frühjahr 1997 völlig aufgehoben. Dem hat die Beklagte mehrere Stellungnahmen der Psychiaterin Dr. K. entgegengehalten, wozu das SG ergänzende Stellungnahmen der Sachverständigen vom 18. August und 18. November 2002 eingeholt hat.
Mit Gerichtsbescheid vom 6. März 2003 hat das SG die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufgehoben und sie verurteilt, dem Kläger Rente wegen völliger Erwerbsminderung zu gewähren. Zur Begründung hat das SG darauf hingewiesen, dass entgegen der Auffassung der beratenden Ärzte der Beklagten eine Vielzahl von Ärzten unabhängig voneinander bei dem Kläger eine anhaltende Depression festgestellt hätten. Von besonderem Gewicht seien in diesem Zusammenhang die Feststellungen im Zusammenhang mit dem Rehabilitationsverfahren von Januar 2001 sowie der gerichtlichen Sachverständigen J ... Es könne dahingestellt bleiben, ob noch ein Leistungsvermögen für bis zu 3 Stunden täglich bestehe. Auch unter dieser Annahme liege völlige Erwerbsminderung vor.
Gegen den ihr am 11. März 2003 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich die am 8. April 2003 bei dem Landessozialgericht eingegangene Berufung der Beklagten. Sie hält daran fest, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen einer Rentengewährung nicht vorlägen. Zur Begründung verweist sie darauf, dass im Aufnahmebefund der Rehabilitationsmaßnahme von Januar 2001 gravierende Auffälligkeiten im psychiatrischen Bereich nicht festzustellen gewesen seien. Zu der von der Sachverständigen J. angenommenen Entwurzelungsproblematik passe nicht die tatsächlich gute Integration des Klägers in Deutschland. Das abweichende Ergebnis der Begutachtung gegenüber derjenigen im Widerspruchsverfahren könne auch nicht durch sprachliche Probleme begründet werden. Die Verständigung bei dem Neurologen und Psychiater I. sei auch ohne Dolmetscher gut möglich gewesen. Der von dem Kläger geschilderte Tagesablauf belege eine depressionstypische Antriebsschwäche nicht. Auch seien bei dem Kläger Rückzugstendenzen nicht festzustellen. Insgesamt sei das Gutachten der Sachverständigen J. nicht plausibel. Zur weiteren Begründung beruft die Beklagte sich auf eine von ihr vorgelegte Stellungnahme der Nervenärztin Dr. L ...
Die Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stade vom 6. März 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stade vom 6. März 2003 mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass die Beklagte verurteilt wird, ihm auf Grund eines im Juni 2001 eingetretenen Leistungsfalls unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.
Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend. Die Sachverständige J. sei auf Grund sorgfältiger und ausführlicher Untersuchung zu zutreffenden Ergebnissen gekommen. Sein Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei aufgehoben.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Rentenakte der Beklagten Bezug genommen. Die genannten Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist jedoch nicht begründet. Das SG hat im Ergebnis zu Recht festgestellt, dass dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung gemäß § 43 Abs. 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der seit dem 1. Januar 2001 geltenden Fassung zusteht. Der Rentenanspruch besteht auf Grund eines am 30. Juni 2001 eingetretenen Leistungsfalls und ist nicht befristet. Zur Klarstellung hat der Senat den erstinstanzlichen Tenor entsprechend neugefasst.
Der Gerichtsbescheid vom 6. März 2003 ist verfahrensfehlerhaft ergangen. Gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das SG den Rechtsstreit durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Hierzu sind die Beteiligten vorher zu hören, § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG. Diese gesetzliche Verpflichtung beinhaltet mindestens eine Wiederholung des allgemein geltenden Grundsatzes, dass den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren ist, § 62 SGG. Dadurch sollen die Beteiligten darauf hingewiesen werden, dass das Gericht die Durchführung der grundsätzlich zu erwartenden mündlichen Verhandlung, § 124 Abs. 1 SGG, in diesem Fall nicht beabsichtigt. Sie werden damit in den Stand versetzt, die aus ihrer Sicht für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sprechenden Gesichtspunkte oder etwa sonst noch beabsichtigtes Vorbringen dem Gericht zur Kenntnis zu bringen. Welche Hinweise die Anhörungsmitteilung dabei im Einzelnen enthalten muss, braucht der Senat im vorliegenden Fall nicht abschließend zu entscheiden. Bereits mit Urteil vom 24. Oktober 2002 (Az: L 10 RI 292/02) hat der Senat entschieden, dass die Anhörungsmitteilung jedenfalls den Hinweis enthalten muss, dass sich die Beteiligten vor einer Entscheidung des Gerichts noch äußern können. Darüber hinaus dürften eine diesbezügliche Fristsetzung für die Beteiligten sowie die Wahl eines Mitteilungsweges sinnvoll sein, der dem Gericht ermöglicht, sich vor dem Erlass des Gerichtsbescheides Gewissheit darüber zu verschaffen, dass sein Hinweis den Beteiligten auch zur Kenntnis gelangt ist. Inhalt und Verfahrensgestaltung der Anhörung haben sich dabei in jedem Fall an dem Zweck der gesetzlichen Regelung des § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG zu orientieren, eine für die Beteiligten überraschende Entscheidung zu verhindern. Dieser Zweck, der eindeutige Wortlaut der Vorschrift und der überragende Stellenwert des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs für das gesamte gerichtliche Verfahren gebieten es auch, in jedem Fall alle Beteiligten vor Erlass des Gerichtsbescheides entsprechend anzuhören, unabhängig davon, ob sie von der abschließenden Entscheidung des Gerichts belastet werden oder nicht (in dem bereits genannten Urteil des Senats vom 24. Oktober 2002 noch offen gelassen).
Den vorgenannten Anforderungen genügt die Anhörung im vorliegenden Fall nicht. Aus der Akte ist ersichtlich, dass das auf die Verfügung des Vorsitzenden des SG ohne Datum am 3. März 2003 erstellte Hinweisschreiben am selben Tag an die Beteiligten abgesandt worden ist. Zwar haben die Bevollmächtigten des Klägers darauf mit am 6. März 2003 bei dem SG eingegangenen Schriftsatz reagiert, wegen des Weiteren Postweges zum Sitz der Beklagten und der längeren innerbehördlichen Verfahrensgänge konnte und durfte das SG jedoch insbesondere ohne Fristsetzung nicht damit rechnen, dass die Beklagte überhaupt bei normalem Geschäftsgang in der Lage sein würde, sich rechtzeitig vor der bereits am 6. März 2003 erfolgten Absendung des Gerichtsbescheides gegenüber dem Gericht zu äußern. Zugleich hat das SG der Beklagten damit auch die Möglichkeit abgeschnitten, sich zu dem Inhalt der ihr ebenfalls erst am 3. März 2003 übersandten Durchschrift des Schriftsatzes der Bevollmächtigten des Klägers vom 27. Januar 2003 zu äußern. Die Wahrung des rechtlichen Gehörs gerade im Hinblick auf die Beklagte wäre insbesondere mit Rücksicht darauf geboten gewesen, dass das SG zu Lasten der Beklagten entschieden hat.
Trotz der vorgenannten wesentlichen Mängel hinsichtlich der Verfahrensweise macht der Senat von der ihm gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG eröffneten Möglichkeit der Zurückverweisung an das SG keinen Gebrauch, sondern entscheidet die in materieller Hinsicht entscheidungsreife Streitsache aus Gründen der Prozessökonomie selbst, § 159 SGG.
Der Versicherungsfall der vollen Erwerbsminderung ist bei dem Kläger bis zum 30. Juni 2001 eingetreten. Gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sind Versicherte voll erwerbsgemindert, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Diese Voraussetzung liegt bei dem Kläger jedenfalls seit dem genannten Zeitpunkt vor.
Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass der Kläger an einer somatisierten Depression leidet, die ein für ihn nicht überwindbares Hindernis darstellt, mindestens drei Stunden täglich einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die Überzeugung des Senats beruht insbesondere auf dem Ergebnis der in erster Instanz durchgeführten medizinischen Beweisaufnahme. Der Senat berücksichtigt darüber hinaus die Gesamtheit der in der Gerichtsakte und der Rentenakte der Beklagten enthaltenen medizinischen Unterlagen. Insoweit kann der Senat dahinstehen lassen, ob etwa die vor dem hier allein noch streitigen Zeitraum seit Juni 2001 erstatteten Gutachten und Befundberichte von zutreffenden Befunden ausgehen und daraus die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Deswegen muss ein formaler Nachweis einer Änderung gegenüber dem Zeitpunkt der früheren Begutachtungen auch nicht geführt werden. Der Senat hat lediglich die Feststellung zu treffen, dass die vorgenannte Verminderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers jedenfalls seit Juni 2001 vorliegt.
Seit Juni 2001 sind über den Kläger zwei Gutachten erstattet worden, nämlich dasjenige des Neurologen und Psychiaters I. vom 22. Januar 2002 und dasjenige der Psychiaterin J. vom 8. Juni 2002. Auf Grund der in diesen beiden Gutachten mitgeteilten Schilderungen des Klägers steht zur Überzeugung des Senats fest, dass er an einer Depression leidet.
Allein der Umstand, dass bei dem Kläger mit apparativen Methoden objektivierbare Befunde nicht vorliegen, spricht nicht gegen das Vorliegen einer Depression. Davon geht auch die Beklagte aus, soweit sie sich nämlich zur Begründung ihrer Berufung auf die von ihr vorgelegte Stellungnahme der Nervenärztin Dr. L. vom 8. April 2003 bezieht. Denn typischerweise kann die Depression nur auf Grund der Schilderungen des Patienten sowie auf Grund der wertenden Beobachtung des Arztes diagnostiziert werden.
Im Falle des Klägers ist die weitere Besonderheit zu berücksichtigen, dass er nach den Feststellungen der Sachverständigen J. von seiner Persönlichkeit her eher leistungsorientiert und auf die Erfüllung sozialer Normen bedacht ist. Die mit Normabweichungen verbundene von ihm empfundene ausgeprägte Scham hindert ihn daran, über derartige Konflikte mit einer fremden Person offen zu sprechen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die seelische Erkrankung von dem Kläger entsprechend seinem Herkunftskulturkreis weit gehend somatisiert wird. Der Senat geht daher davon aus, dass der Kläger tendenziell Normabweichungen jeder Art, insbesondere aber seelische Befindlichkeitsstörungen gegenüber einem ihm fremden Sachverständigen oder Gutachter herunterspielt oder gänzlich negiert. Dieses Verhaltensmuster des Klägers wird etwa daran deutlich, dass er ausweislich des Reha-Entlassungsberichtes vom 7. Februar 2001 von finanziellen Problemen nicht berichtet hat, obwohl er diese bei anderer Gelegenheit, nämlich anlässlich der Begutachtungen durch Dr. M. und durch die Sachverständige J. ausdrücklich eingeräumt hat. Als sozial adäquate Färbung seiner Auskünfte sieht der Senat auch die Angaben gegenüber der Sachverständigen J. an, er sei in Achim gut integriert und habe auch viele deutsche Bekannte. Aus den von ihm über die Dauer seiner Rentenverfahren an verschiedenen Stellen geschilderten Tagesabläufe ergeben sich jedoch überhaupt keine nennenswerten Kontaktpunkte zu Personen außerhalb seines Herkunftskulturkreises. Wenn der Kläger darüber hinaus gegenüber der Sachverständigen J. ausführt, "in der Türkei gehöre er auch nicht mehr dazu", so kann der Senat dies nur dahin verstehen, dass eine aus seiner Sicht befriedigende Integration in seinem Wohnumfeld nicht besteht. Die Angaben des Klägers gegenüber dem Gutachter I. sind darüber hinaus deshalb mit besonderer Vorsicht zu bewerten, weil die Untersuchung bei diesem Arzt ohne die Hinzuziehung eines Dolmetschers erfolgte. Die Sachverständige J. hat zu Recht darauf hingewiesen, dass zwar die Verständigung mit dem Kläger über alltägliche Themen auch ohne die Hinzuziehung eines Dolmetschers möglich gewesen sein mag. Im Hinblick auf diffizilere Fragen zu seiner psychischen Befindlichkeit stößt eine unmittelbare Verständigung mit dem Kläger jedoch an Grenzen.
Nach der Definition F 32 der Internationalen Klassifikation der Krankheiten, 10. Revision, (ICD 10) leidet der von einer depressiven Episode betroffene Patient unter einer gedrückten Stimmung und einer Verminderung von Antrieb und Aktivität. Die Fähigkeit zu Freude, das Interesse und die Konzentration sind vermindert. Ausgeprägte Müdigkeit kann nach jeder kleinsten Anstrengung auftreten. Der Schlaf ist meist gestört, der Appetit vermindert. Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sind fast immer beeinträchtigt. Sogar bei der leichten Form kommen Schuldgefühle oder Gedanken über eigene Wertlosigkeit vor. Die gedrückte Stimmung verändert sich von Tag zu Tag wenig, reagiert nicht auf Lebensumstände und kann von so genannten "somatischen" Symptomen begleitet werden, wie Interessenverlust oder Verlust der Freude, Früherwachen, Morgentief, deutliche psychomotorische Hemmung, Agitiertheit, Appetitverlust, Gewichtsverlust und Libidoverlust.
Auf Grund des gesamten Akteninhaltes steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger in einer Vielzahl der vorgenannten Bereiche an Einschränkungen leidet. Dies gilt etwa hinsichtlich von Schlafstörungen, die der Kläger durchgängig bei allen Untersuchungen berichtet hat. Dasselbe gilt auch im Hinblick auf gesteigerte Erregbarkeit. Mit Ausnahme des Gutachters I. haben auch alle Ärzte die Antriebslage des Klägers als gemindert angesehen. Die Einschätzung des Gutachters I. ist in sich aber nicht nachzuvollziehen, wenn der Kläger anlässlich derselben Untersuchung ausführt, seine Tätigkeit tagsüber bestehe in Spazieren gehen oder Hinlegen. Entgegen der Auffassung der Nervenärztin Dr. L. ist bei dem Kläger auch eine deutliche Einengung der Interessenlage festzustellen. Während er gegenüber Dr. M. noch angegeben hatte, er lese viel und interessiert, was den genannten Sachverständigen zu der Bewertung veranlasst hat, der Kläger gehe verstärkt seinen intellektuellen Neigungen nach, hat sich dies inzwischen ausweislich der Erklärung des Klägers gegenüber der Sachverständigen J. darauf reduziert, dass er vormittags türkische Zeitungen liest. Während anlässlich der Untersuchung bei Dr. M. noch von regem Kontakt zu Landsleuten und regelmäßigen Besuchen im Kaffeehaus sowie regelmäßigen Picknick-Wochenenden im Familienkreis die Rede war, bestehen die Außenkontakte nach den gegenüber der Sachverständigen J. gegebenen Schilderung nur noch im Zusammenhang mit Moscheebesuchen oder mit Besuchen insbesondere der Kinder im Haushalt des Klägers. Die früher regelmäßig durchgeführten Urlaubsreisen in die Türkei hat der Kläger trotz des Fortbestandes der Eigentumswohnung inzwischen praktisch eingestellt. Auch die früher wöchentlich durchgeführten Familientreffen finden inzwischen nicht mehr statt.
Hinsichtlich der Ausdauerleistungsfähigkeit des Klägers ist darauf hinzuweisen, dass er bereits anlässlich der Untersuchung bei Dr. M. in den Gesprächspausen einen müden Eindruck machte und sogar einzunicken drohte.
Darüber hinaus ist bei dem Kläger ein sozialer Rückzug festzustellen. Insoweit wird auf die bereits oben gemachten Ausführungen verwiesen. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass der Kläger gegenüber der Sachverständigen J. angegeben hat, den ehemals guten Kontakt zu Kollegen durch die Krankheit verloren zu haben. Dies wertet der Senat dahingehend, dass ein guter Kontakt zu den Kollegen jedenfalls in dem streitbefangenen Zeitraum nicht mehr bestanden hat. Auf die Ursache hierfür kommt es in diesem Zusammenhang nicht an.
Soweit die Nervenärztin Dr. L. bemängelt, die depressionstypischen Tagesschwankungen seien bei dem Kläger nicht festzustellen, ist darauf hinzuweisen, dass die Annahme einer Depression nicht das Vorliegen von Symptomen in allen in Nr. F 32 der ICD 10 beschriebenen Bereiche voraussetzt. Darüber hinaus hat der Kläger aber durchaus plötzliche, inzwischen bis zu mehrmals täglich auftretende Veränderungen seiner Befindlichkeit geschildert. Dies drückt sich nach seiner Schilderung dadurch aus, dass er etwa vermehrt gereizt oder nervös ist, dass er unbeherrscht ist oder unkontrolliert schimpft und dass auch körperliche Symptome wie Schwitzen, Zittern oder häufiges Erbrechen auftreten. Hierfür hat der Kläger Unterzuckerungszustände angeschuldigt. Nach dem gesamten Akteninhalt ist jedoch mehr als zweifelhaft, ob bei dem Kläger tatsächlich regelmäßig Unterzuckerungszustände auftreten. So hält es der Senat durchaus für denkbar, dass die Veränderungen der Befindlichkeit des Klägers nicht auf eine körperliche Ursache zurückzuführen sind, sondern gerade Ausdruck von tagszeitlichen Stimmungsschwankungen darstellen. Das kann jedoch letztlich dahingestellt bleiben.
Dahingestellt bleiben kann auch, ob bereits anlässlich der Rehabilitationsmaßnahme im Januar 2001 eine Schwerbesinnlichkeit des Klägers oder sonstige gravierende psychische Auffälligkeiten festzustellen gewesen sind.
Dahingestellt bleiben kann schließlich auch, ob für die Beschwerden des Klägers ein Entwurzelungstrauma ursächlich geworden ist. Immerhin erscheint dem Senat die Argumentation der Sachverständigen J. nachvollziehbar, dass der Kläger die Folgen des Entwurzelungstraumas zunächst durch die Beibehaltung heimischer Gebräuche und Sitten und durch die berufliche Integration wenigstens teilweise kompensieren konnte. Nach dem Wegfall der traditionellen Familienstruktur und der beruflichen Integration kann es durchaus zu einer Reaktualisierung der Entwurzelungssymptomatik gekommen sein.
Zur Überzeugung des Senats steht auch fest, dass der Kläger selbst bei der gebotenen Willensanstrengung nicht zur Überwindung der durch die Depression bedingten Hemmnisse in der Lage ist. Die Sachverständige J. hat auf das kulturell bedingte im Wesentlichen somatisch bestimmte Krankheitsverständnis des Klägers hingewiesen. Bereits damit sind seine Möglichkeiten ganz erheblich eingeschränkt, der von ihm im Wesentlichen körperlich erlebten Erkrankung entgegenzuwirken.
Die Rente ist dem Kläger unbefristet zu gewähren, weil unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann, § 102 Abs. 2 Satz 2. SGB X. Bereits der Sachverständige Dr. M. hat ganz erhebliche Zweifel daran geäußert, ob rehabilitative Maßnahmen bei dem Kläger zu einer Veränderung des Erkrankungszustandes führen können. Die von ihm geäußerten Zweifel haben sich letztlich durch die Erfolglosigkeit der im Januar 2001 durchgeführten Maßnahme bestätigt. Der Senat hat deshalb keinen Zweifel daran, der Einschätzung der Sachverständigen J. zu folgen, die insbesondere unter Hinweis auf die fehlende Introspektionsfähigkeit des Klägers für eine psychotherapeutische Behandlung keinerlei Ansatz sieht.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der §§ 183, 193 SGG.
Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.