Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 03.09.2003, Az.: L 10 RI 105/03

Rente wegen Erwerbsunfähigkeit/ -minderung oder Berufsunfähigkeit; Durchführung einer vollschichtigen Tätigkeit; Verringerung des Leistungsvermögens; Verrichtung von Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt; Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen; Vorliegen einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung; Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit; Berufsschutz im Sinne des Mehrstufenschemas

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
03.09.2003
Aktenzeichen
L 10 RI 105/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 19935
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2003:0903.L10RI105.03.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Braunschweig - 17.02.2003 - AZ: S 5 RI 286/01

Redaktioneller Leitsatz

Nur die "Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen" oder eine "schwere spezifische Leistungsbehinderung" machen ausnahmsweise die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit erforderlich.

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Braunschweig vom 17. Februar 2003 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) oder Berufsunfähigkeit (BU) zusteht.

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Die 1946 geborene Klägerin beantragte am 27. Januar 2000 die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Sie gab an, sie habe in der Zeit von 1962 bis 1964 eine Berufsausbildung zur Köchin mit Erfolg durchlaufen. Bis 1977 habe sie als Köchin und danach bis 1993 als Raumpflegerin gearbeitet. Seit 1993 sei sie arbeitslos. Sie meinte, bereits seit 1993 wegen Schmerzen in beiden Beinen auf Grund von Thrombosen erwerbsunfähig zu sein.

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Die Beklagte zog verschiedene Befundberichte und Arztbriefe der behandelnden Ärzte bei. Sie ließ die Klägerin von der Ärztin für Radiologie Dipl.-Med. I. und von der Internistin und Sozialmedizinerin Dr. J. begutachten, die in ihren Gutachten vom 23. Mai und 18. August 2000 Veränderungen der Wirbelsäule und der Kniegelenke, Krampfadern in beiden Beinen, eine arterielle Hypertonie, einen Diabetes mellitus, eine ausgeprägtes Übergewicht und eine depressive Verstimmung feststellten. Die Gutachterinnen hielten die Klägerin übereinstimmend noch für in der Lage, vollschichtig körperlich leichte Arbeiten mit bestimmten qualitativen Einschränkungen zu verrichten. Darauf gestützt lehnte die Beklagte den Rentenantrag mit Bescheid vom 8. Juni 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Mai 2001 ab. Zur Begründung führte sie aus, die Klägerin sei nicht berufs- oder erwerbsunfähig, da sie noch in der Lage sei, vollschichtig körperlich leichte Arbeiten zu verrichten, und nach ihrem Berufsbild auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden könne.

4

Dagegen hat die Klägerin bei dem Sozialgericht (SG) Braunschweig Klage erhoben. Zur Begründung hat sie insbesondere ausgeführt, bei ihr bestünden erhebliche Beschwerden im Rückenbereich mit Ausstrahlung in das rechte Bein, Beschwerden im linken Kniegelenk, Schlafprobleme und Stimmungsschwankungen. Das SG hat Befundberichte und Arztbriefe der behandelnden Ärzte beigezogen und die Klägerin von der Ärztin für Chirurgie Dr. K. begutachten lassen. Diese hat in ihrem Gutachten vom 30. August 2002 ausgeführt, dass die Klägerin noch in der Lage sei, vollschichtig körperlich leichte Arbeiten überwiegend im Sitzen in geschlossenen Räumen mit bestimmten weiteren qualitativen Einschränkungen auszuüben. Das SG hat die Klage daraufhin mit Gerichtsbescheid vom 17. Februar 2003 als unbegründet abgewiesen. Die Klägerin sei weder erwerbs- noch berufsunfähig. Sie sei noch in der Lage, leichte körperliche Arbeiten - z.B. leichte Sortier- und Verpackungsarbeiten - mit den üblichen Ruhepausen vollschichtig zu verrichten. Sie sei auf alle ungelernten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar, da sie im Hinblick auf ihre zuletzt ausgeübte Beschäftigung der Gruppe der ungelernten Arbeitnehmerinnen zuzuordnen sei.

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Gegen den ihr am 6. März 2003 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich die Klägerin mit ihrer am 3. April 2003 bei dem Landessozialgericht eingegangenen Berufung. Sie meint weiterhin, wegen ihrer Beeinträchtigungen auf orthopädischem und internistischem Gebiet eine vollschichtige Tätigkeit nicht mehr verrichten zu können. Ergänzend führt sie aus, nach der Implantation einer Totalendoprothese (TEP) der rechten Hüfte im Februar 2002 unter schweren Schmerzzuständen zu leiden. Darüber hinaus bestehe ein schweres, therapeutisch nur schwer beeinflussbares metabolisches Syndrom.

6

Die Klägerin beantragt,

  1. 1.

    den Gerichtsbescheid des SG Braunschweig vom 17. Februar 2003 und den Bescheid der Beklagten vom 8. Juni 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Mai 2001 aufzuheben,

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, ihr Rente wegen EU, hilfsweise wegen BU, zu gewähren.

7

Die Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des SG Braunschweig vom 17. Februar 2003 zurückzuweisen.

8

Sie hält den angegriffenen Gerichtsbescheid und die mit ihm überprüften Bescheide für zutreffend.

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Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gem. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.

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Wegen der weiteren Einzelheiten das Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Rentenakten der Beklagten Bezug genommen. Die genannten Unterlagen waren Gegenstand der Beratung.

Entscheidungsgründe

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Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet. Das SG hat zu Recht festgestellt, dass der Klägerin eine Rente wegen EU oder BU nach altem Recht oder wegen Erwerbsminderung nach neuen Recht nicht zusteht.

12

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente wegen EU aus § 44 Sozialgesetzbuch - Sechstes Buch (SGB VI) in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung (a.F.). Die genannte Vorschrift ist gem. § 300 Abs. 2 SGB VI weiter anwendbar, soweit der Eintritt eines Leistungsfalles vor dem 1. Januar 2001 zu prüfen ist. Erwerbsunfähig sind nach § 44 Abs. 2 Satz 1 1. Halbsatz SGB VI a.F. Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das 630,00 DM (entspricht 322,11 EUR) übersteigt. Erwerbsunfähig ist nach § 44 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB VI a.F. nicht, wer eine Tätigkeit vollschichtig ausüben kann.

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Die Klägerin ist nicht erwerbsunfähig, da sie nach dem Gesamtergebnis der Ermittlungen noch in der Lage ist, vollschichtig körperlich leichte Arbeiten mit bestimmten, nicht atypischen qualitativen Einschränkungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Der Senat schließt sich insoweit zunächst der Einschätzung der beiden von der Beklagten beauftragten Gutachterinnen Dipl.-Med. I. und Dr. J. an. Die Ergebnisse ihrer Gutachten sind in sich schlüssig und für den Senat insbesondere hinsichtlich der geäußerten Einschätzung des Restleistungsvermögens nachvollziehbar. Nach den genannten Gutachten stehen bei der Klägerin die orthopädischen Beeinträchtigungen im Vordergrund. Die bestehenden Beeinträchtigungen schließen zwar ein vollschichtiges Leistungsvermögen für körperlich schwere und mittelschwere Arbeiten aus. Sie sind jedoch nicht so gravierend, dass hieraus auch ein zeitlich eingeschränktes Leistungsvermögen für körperlich leichte Arbeiten resultiert. Nach dem Gutachten von Dipl.-Med. I. vom 23. Mai 2000 war die Beweglichkeit der Wirbelsäule insgesamt nur leicht- bis mittelgradig eingeschränkt. Die Seitneigung und die Rotation des Kopfes war mit Messwerten nach der Neutral-0-Methode mit 35-0-35 bzw. 55-0-55 gegenüber den Normalwerten von 45-0-45 bzw. 60-0-60 nur leichtgradig eingeschränkt. Der Messwert nach Schober für die Lendenwirbelsäule war mit 10:13 cm gegenüber dem Normalwert mittelgradig und der Messwert nach Ott für den Bereich der Brustwirbelsäule war mit 30:32 cm ebenfalls mittelgradig eingeschränkt. Die Reflexe waren zwar schwach aber auslösbar. Sensible und motorische Störungen bestanden nicht. Die Nervendehnungstests nach Babinski, Lasègue und Bragard waren negativ. Die Beweglichkeit der Hüftgelenk war altersentsprechend und die Beweglichkeit der Kniegelenke kaum geringgradig eingeschränkt. Nach dem Gutachten von Dr. J. vom 18. August 2000 waren sowohl der bestehende Diabetes mellitus als auch die arterielle Hypertonie medikamentös gut eingestellt. Hinsichtlich der peripheren Durchblutungsstörungen im Bereich der Beine war eine Versorgung mit Kompressionsstrümpfen angezeigt. Insgesamt rechtfertigen diese Beschwerden nicht die Annahme eines zeitlich eingeschränkten Leistungsvermögens für körperlich leichte Arbeiten.

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Demgegenüber kann auch eine Verringerung des Leistungsvermögens während des gerichtlichen Verfahrens nicht festgestellt werden. Insbesondere ergibt sich aus den vom SG beigezogenen weiteren Befundberichten und Arztbriefen keine relevante Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin gegenüber den früheren Begutachtungen. Eine wesentliche Änderung, die die Annahme eines zeitlich eingeschränkten Leistungsvermögens auf untervollschichtig rechtfertigen könnte, ist nicht eingetreten. Sie wird insbesondere nicht durch die im Februar 2002 durchgeführten Hüft-TEP rechts bewirkt. Der Senat schließt sich insoweit der Einschätzung der vom SG bestellten Sachverständigen, der Ärztin für Chirurgie Dr. K., in deren Gutachten vom 30. August 2002 an. Auch dieses Gutachten ist in sich schlüssig und für den Senat insbesondere hinsichtlich der von der Sachverständigen geäußerten Einschätzung des Leistungsvermögens nachvollziehbar. Nach dem Gutachten bestand am rechten Hüftgelenk eine reizlose Narbe nach Implantation einer TEP. Zwar war die Beweglichkeit noch teilweise schmerzhaft eingeschränkt. Es bestanden jedoch keine Lockerungszeichen und keine Hinweise auf einen nicht erfolgten Einbau der TEP. Die Beweglichkeit der linken Hüfte war lediglich geringgradig eingeschränkt.

15

Nach den vorliegenden Erkenntnissen liegt bei der Klägerin auch keine "Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen" oder eine "schwere spezifische Leistungsbehinderung" im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) (Urteil vom 11. Mai 1999 - B 13 RJ 71/97 R = Breith. 1999, 1038) vor, die ausnahmsweise die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit erforderlich gemacht hätten.

16

Darüber hinaus hat die Klägerin auch keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen BU. Versicherte haben nach § 43 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI a.F. bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit, wenn sie berufsunfähig sind. Berufsunfähig sind nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI a.F. Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Berufsunfähig ist nach § 43 Abs. 2 Satz 3 1. Halbsatz SGB VI a.F. nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann. Dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen. Die Klägerin kann mit dem ihr verbliebenen vollschichtigen Leistungsvermögen auf Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden, ohne dass die konkrete Benennung einer Verweisungstätigkeit erforderlich wäre. Denn sie genießt keinen Berufsschutz im Sinne des vom BSG entwickelten Mehrstufenschemas für die Arbeitertätigkeiten, da es sich bei der zuletzt von ihr ausgeübten Beschäftigung als Raumpflegerin um eine ungelernte Tätigkeit gehandelt hat.

17

Die Klägerin ist auch nicht voll oder teilweise erwerbsgemindert i. S. des § 43 SGB VI in der seit dem 1. Januar 2001 geltenden Fassung (n.F.). Nach § 43 Abs. 3 SGB VI n.F. ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Da hier nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme von einem vollschichtigen Leistungsvermögen auszugehend ist, fehlen bereits aus diesem Grunde die Voraussetzungen für die Annahme einer im Rahmen von § 43 SGB VI n.F. relevanten Erwerbsminderung. Im Hinblick auf die fehlende BU kommt für die Klägerin auch nicht die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei BU gem. § 240 SGB VI n.F. in Betracht.

18

Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung der §§ 183, 193 SGG.

19

Anlass für die Zulassung der Revision besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.