Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 05.02.1998, Az.: L 6 U 178/97

Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung; Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für die Tätigkeit der vollziehenden Gewalt für die "Eingriffsverwaltung" und für die "Leistungsverwaltung" im Bereich des Sozialrechts; Anwendbarkeit einer nichtigen Rechtsverordnung durch Gerichte; Vorliegen der "Berufskrankheitenreife" als Voraussetzung für Aufnahme einer Krankheit in die Liste der Berufskrankheiten; Beurteilungsspielraum der Verordnungsgeberin für Vorliegen der Gruppentypik und des Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse ; Aufnahme einer Volkskrankheit in die Liste der Berufskrankheiten ; Zweck der Ermächtigung der Bundesregierung zur Bezeichnung von Berufskrankheiten ; Verhältnis einer erheblich höheren Gefährdung zum allgemeinen Auftreten der betreffenden Krankheit gemäß Reichsversicherungsordnung (RVO); Bestimmung der Wahrscheinlichkeit der Kausalbeziehung durch Höhe des relativen Erkrankungsrisikos; Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine lange zeitliche Überwachung derartiger Krankheitsbilder für Vorliegen einer Gruppentypik; Festlegung auf die Epidemiologie als wissenschaftliche Erkenntnismethode; Beurteilungsspielraum der Verordnungsgeberin; Röntgenologische Befunde - insbesondere Osteochondrose, Spondylose und Spondylarthrose als Krankheit; Vorliegen einer hinreichend gefestigten (herrschenden) Auffassung der Fachwissenschaftler über die Gruppentypik als Voraussetzung für die Aufnahme einer Krankheit in die Berufskrankheitenliste; Dosis-Wirkung-Beziehung für eine Beschädigung der Bandscheibe ; Definition der Vergleichsgruppen als Voraussetzungen für Überprüfung des definierten generellen Krankheitsrisikos

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen
Datum
05.02.1998
Aktenzeichen
L 6 U 178/97
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1998, 31085
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:1998:0205.L6U178.97.0A

Fundstellen

  • AuA 1999, 187
  • BB 1998, 2531 (amtl. Leitsatz)
  • Breith. 1998, 894-918

Der 6. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle
hat auf die mündliche Verhandlung
vom 5. Februar 1998
durch
den Vizepräsidenten des Landessozialgerichts Dr. W.,
den Richter am Landessozialgericht Sch.,
den Richter am Sozialgericht G. sowie
die ehrenamtlichen Richter Dr. N. und W.
für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts H. vom 25. Februar 1997 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt von der Beklagten Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob er an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule (LWS) durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten sowie durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung (Berufskrankheit - BK - Nr. 2108 der Anl. 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung - BKVO) leidet.

2

Der 1940 geborene Kläger verrichtete seit Beginn seiner Ausbildung im Jahr 1955 bis 1993 als Maurer schwere Hebe- und Tragetätigkeiten sowie Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung (Bericht des Technischen Aufsichtsbeamten der Beklagten vom 17. Juli 1995, "Dokumentation des Belastungsumfangs Maurer" der Beklagten). Im März 1993 beantragte er die Feststellung einer BK und gab an, seit Anfang der 80er Jahre Schwierigkeiten mit dem Rücken zu haben. Die Beklagte zog medizinische Unterlagen sowie Röntgenaufnahmen bei und legte diese ihrem beratenden Arzt Dr. ... vor. Dieser führte in seiner Stellungnahme vom 7. Dezember 1993 aus, an der LWS des Klägers finde sich bei L 4/5 eine mäßiggradige osteochondrotische, spondylotische und spondylarthrotische Veränderung mit Degeneration der zugehörigen Bandscheibe. An den übrigen Segmenten der LWS bestünden dagegen nur gering- bis leichtgradige Verschleißerscheinungen. Die isoliert bei L 4/5 verstärkt vorliegende degenerative Veränderung einschließlich des computertomographisch nachgewiesenen Bandscheibenvorfalls in dieser Höhe könne nicht ursächlich auf berufsbedingte Einflüsse zurückgeführt werden. Vielmehr seien individuelle Faktoren als Ursache anzunehmen. Das Vorliegen einer BK müsse verneint werden. Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 16. März 1994 Entschädigungsleistungen ab. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 23. August 1994).

3

Dagegen hat der Kläger am 14. September 1994 vor dem Sozialgericht (SG) H. Klage erhoben. Das SG hat das orthopädische Gutachten des Dr. A. vom 29. August 1995 eingeholt. Dieser hat die Auffassung vertreten, daß die bandscheibenbedingte Erkrankung des Klägers wahrscheinlich durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten entstanden sei. Es gehöre zu den Eigentümlichkeiten der LWS, daß generell Bandscheibenschäden und deren Folgezustände in mehr als 95 vom Hundert (v.H.) der Fälle in den beiden unteren Bewegungssegmenten jeweils zu gleichen Teilen isoliert oder auch kombiniert aufträten. Die Forderung, daß mehrere oder alle LWS-Segmente bandscheibenbedingt erkrankt sein müßten, sei wissenschaftlich nicht zu belegen. Vielmehr gehe aus epidemiologischen Studien hervor, daß bei Arbeitern, die beruflich einer erheblichen Belastung durch Heben und Tragen schwerer Lasten ausgesetzt gewesen seien, im Vergleich zur unbelasteten Wohnbevölkerung um mehr als den Faktor 2 häufiger höhergradige degenerative Veränderungen der LWS im Segment L5/S1 aufträten. Demgegenüber wies die Ärztin für Chirurgie und Unfallchirurgie Dr. H. in ihrer für die Beklagte erstatteten gutachtlichen Stellungnahme vom 12. Dezember 1995 darauf hin, daß das sogenannte monosegmentale Schadensbild im Fall des Klägers deshalb gegen eine berufliche Verursachung spreche, weil bei ihm neben der LWS auch die Halswirbelsäule (HWS) degenerativ verändert sei. Diese Veränderungen gingen auch mit einer klinischen Symptomatik einher. Da auch der nicht belastete Wirbelsäulenabschnitt von der Degeneration erfaßt sei, könne die Anerkennung einer BK nicht empfohlen werden. Daraufhin hat der Kläger die Bescheinigung seiner letzten Arbeitgeberin vom 29. Februar 1996 vorgelegt, nach der er seit 1985 auch Stahlträger auf den Schultern getragen habe.

4

Das SG ist Dr. A.s Wertung gefolgt und hat durch Urteil vom 25. Februar 1997 ein belastungsabhängiges, chronisch-rezidivierendes Lumbal-Syndrom bei fortgeschrittenem Verschleiß des Bandscheibenraumes L4/L5 und leichtgradigem Verschleiß des Bandscheibenraumes L5/S1 als Folge einer BK der Nr. 2108 der Anl. 1 zur BKVO festgestellt und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Verletztenrente in Höhe von 20 v.H. der Vollrente zu zahlen: Aufgrund der fast 40jährigen stark wirbelsäulenbelastenden Berufstätigkeit des Klägers spreche mehr für als gegen einen Ursachenzusammenhang zwischen Erkrankung und Berufstätigkeit. Dem stehe nicht entgegen, daß sich die degenerative Veränderung auf den unteren LWS-Bereich konzentriere. Denn selbst bei einer monosegmentalen Bandscheibenveränderung könne das Krankheitsbild berufsbedingt sein. Eine abweichende Beurteilung ergebe sich auch nicht aufgrund der Stellungnahme der Frau Dr. H. Zum einen bestünden Zweifel, ob die HWS-Veränderungen in ihrer Ausprägung wirklich das Maß der LWS-Veränderungen überträfen. Zum anderen sei beim Kläger eine HWS-schädigende Exposition nach der Bescheinigung seiner letzten Arbeitgeberin nicht von vornherein zu verneinen. Im übrigen komme dem Nachweis sonstiger Erkrankungen im Bereich der Wirbelsäule als einem Argument gegen das Vorliegen einer BK nur relativ geringfügige Bedeutung zu.

5

Gegen das ihr am 11. April 1997 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 7. Mai 1997 Berufung eingelegt. Sie hält daran fest, daß die nach den bildgebenden Verfahren über den Schaden an der LWS hinausgehende Veränderung der HWS einer Anerkennung der LWS-Veränderungen als BK entgegenstehe. Es könne nicht festgestellt werden, daß beim Kläger ein über den altersentsprechenden Bevölkerungsquerschnitt hinausgehender Verschleiß der LWS, also ein durch seine wirbelsäulenbelastende Tätigkeit abgrenzbarer beschleunigter Verschleißprozeß vorliege.

6

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des SG H. vom 25. Februar 1997 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

7

Der Kläger beantragt,

die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG H. vom 25. Februar 1997 zurückzuweisen.

8

Der Kläger hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Die Schäden im Bereich seiner LWS stünden eindeutig im Vordergrund. Denn die HWS-Beschwerden seien nach Aufgabe der Tätigkeit im Baubereich abgeklungen, während die Schmerzen und die Funktionseinschränkungen im Bereich der LWS konstant geblieben seien. Des weiteren habe Dr. A. im Gutachten vom 29. August 1995 eine deutliche Chondrose mit begleitender Spondylarthrose im Bereich des Lendenwirbelkörpers 4/5 beschrieben, die mit Sicherheit nicht mehr als altersentsprechend einzustufen sei.

9

Der Senat hat wegen der Zweifel an der Übereinstimmung der BK Nr. 2108 mit der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage (§ 551 Abs. 1 S. 3 Reichsversicherungsordnung - RVO -) Ermittlungen zu der Frage durchgeführt, ob für die durch körperlich schwere Arbeiten belasteten Berufsgruppen das Risiko einer bandscheibenbedingten Erkrankung im Vergleich zur übrigen Bevölkerung erheblich erhöht ist. Er hat insbesondere das in einem anderen Rechtsstreit eingeholte orthopädische Sachverständigengutachten des Prof. Dr. Weber vom 22. Mai 1997 beigezogen sowie die - auf dieses Verfahren bezogene - ergänzende gutachtliche Stellungnahme dieses Sachverständigen vom 5. November 1997 eingeholt. Er hat außerdem die in einem anderen Rechtsstreit eingeholte Auskunft des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (BMA) zu der Frage beigezogen, welche Unterlagen dem BMA als Grundlage für die Aufnahme der BK Nr. 2108 in die Liste der BKen vorgelegen haben. Mit seiner Auskunft vom 23. Juli 1996 hat das BMA dem Senat den Übersichtsaufsatz von Bolm-Audorff (Berufskrankheiten der Wirbelsäule durch Heben oder Tragen schwerer Lasten, in: Konietzko/Dupuis - Hrsg. -, Handbuch der Arbeitsmedizin, 1993, IV - 7.8.3, im folgenden zitiert: Handbuch) zur Verfügung gestellt. Außerdem hat Priv.Doz. Dr. Bolm-Audorff dem Senat sein Manuskript über den Einfluß arbeitsmedizinisch-epidemiologischer Erkenntnisse auf die Kodifizierung der berufsbedingten Bandscheibenerkrankung (Beitrag, zur Veröffentlichung vorgesehen in: Kügelgen u.a. - Hrsg. -, Neuroorthopädie 7) überlassen. Darauf sind die Beteiligten mit Verfügungen vom 20. August und 10. November 1997 sowie mit der Ladungsverfügung zur mündlichen Verhandlung hingewiesen worden. Mit den Verfügungen des Senats vom 20. August und 10. November 1997 sind den Beteiligten weitere vom Senat beigezogene Unterlagen übersandt worden. Ferner sind den Beteiligten mit der Ladungsverfügung Fotokopien von Fachaufsätzen übermittelt worden.

10

Dem Senat haben neben den Prozeßakten die Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung gewesen. Wegen der Ergebnisse der Beweisaufnahme, der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

11

Die statthafte Berufung der Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt und damit zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg. Denn die gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Feststellungsklage ist nicht begründet. Daraus folgt, daß auch die auf Zahlung einer Verletztenrente gerichtete Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) nicht begründet ist.

12

I.

1.

Der Kläger, der an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS leidet und als Maurer langjährig schwere Lasten hob und trug sowie in extremer Rumpfbeugehaltung arbeitete, hat keinen Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung (UV). Denn für die von ihm geltend gemachten Ansprüche (Feststellung der BK Nr. 2108 und Verletztenrente wegen dieser BK) gibt es keine wirksame Rechtsgrundlage. Die Bundesregierung hat zwar mit Zustimmung des Bundesrates durch die Zweite Verordnung zur Änderung der BKVO vom 18. Dezember 1992 (BGBl. I S. 2343) bandscheibenbedingte Erkrankungen durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung als BK Nr. 2108 bezeichnet. Die Aufnahme dieser BK in die Anlage 1 zur BKVO ist aber unwirksam, weil sich die Bundesregierung als Verordnungsgeber in nicht in den Grenzen der gesetzlichen Ermächtigung (§ 551 Abs. 1 Satz 3 RVO) gehalten und damit den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der vollziehenden Gewalt (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz - GG -) verletzt hat (so auch SG Landshut, Urteil vom 17. Oktober 1997 = HVGB RdSchr. VG 22/89). Die Bundesregierung gehört als Verordnungsgeberin zur vollziehenden Gewalt. Sie ist an die - formellgesetzliche - Ermächtigung des § 551 Abs. 1 S. 3 RVO gebunden, der - auf eine Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG genügende Weise (BSG SozR 2200 § 551 Nr. 10) - "Inhalt, Zweck und Ausmaß" der gesetzlichen Ermächtigung bestimmt. Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für die Tätigkeit der vollziehenden Gewalt gilt nicht nur für die "Eingriffsverwaltung", sondern auch für die "Leistungsverwaltung" im Bereich des Sozialrechts (vgl. auch § 31 Sozialgesetzbuch - SGB - I) und somit für die Normierung von BKen. Eine Rechtsverordnung, die sich nicht im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung hält, ist nichtig (Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Kommentar, 4. Auflage 1997, Art. 80 Rdn. 20). Daraus folgt weiterhin, daß die Gerichte eine Rechtsverordnung nicht schlechthin als geltendes Recht anzuwenden haben (so aber für die BK Nr. 2108 LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 18. September 1996 - L 8 U 95/95 - S. 11 = BAGUV RdSchr. 30/97, aufgehoben durch Urteil des BSG vom 18. November 1997 - 2 RU 48/96 -; SG Gießen, Breithaupt 1997, 771; Schlegel, Orthopädische Praxis 1995, 729: "Legibus obsequimur"; Erlenkämper, Die Berufsgenossenschaft - BG - 1996, 846, 847). Vielmehr haben die Gerichte alle entscheidungserheblichen Rechtsnormen auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht zu prüfen und dürfen eine mit diesem unvereinbare Rechtsnorm nicht anwenden (so für die BKVO BSG, Beschluß vom 13. Januar 1978 = RdSchr. HVBG VB 38/78; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl., Bd. II S. 490 b I; Koch in: Schulin, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. 2 Unfallversicherung, § 35 Rdn. 13; Pöhl u.a., Die BG 1997, 670, 671), so daß es - im Hinblick auf die BK Nr. 2108 - auf die Prüfung der Kausalität im Einzelfall nicht ankommt. Das Bundessozialgericht - BSG - ist in seinem die BK Nr. 2108 betreffenden Urteil vom 18. November 1997 - 2 RU 48/96 - (S. 8) ebenfalls davon ausgegangen, daß die Aufnahme oder Nichtaufnahme von Krankheiten in die Liste der BKen als Rechtssetzungsakt der gerichtlichen Nachprüfung unterliegt, allerdings "nur in begrenztem Rahmen dahingehend, ob das Ermessen pflichtgemäß dem Zweck der Ermächtigung entsprechend ausgeübt worden ist". Die Beantwortung der - hier entscheidungserheblichen - Frage, ob gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse über die in § 551 Abs. 1 S. 3 RVO bestimmten Voraussetzungen vorliegen, ist indessen nicht in das Ermessen der Verordnungsgeberin gestellt. Denn eine Krankheit "darf" nur dann in die Liste der BKen aufgenommen werden, wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, d.h. wenn die sogenannte "Berufskrankheitenreife" vorliegt (vgl. BSG, a.a.O., S. 7 f.; BSGE 44, 90, 92). Davon ist die Frage zu unterscheiden, ob die Verordnungsgeberin im Hinblick auf das Vorliegen der Gruppentypik und des Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse einen Beurteilungsspielraum hat (s. dazu unter I. 3.).

13

Im Regelfall werden die Gerichte allerdings nicht vor die Notwendigkeit gestellt, zu prüfen, ob sich eine BKVO in den Grenzen der gesetzlichen Ermächtigung hält (vgl. insbesondere Brackmann, a.a.O.). Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn die Verordnungsgeberin - wie bei der BK Nr. 2108 - eine sogenannte Volkskrankheit in die Liste der BKeh aufnimmt, d.h. eine Krankheit, die unabhängig von bestimmten Berufstätigkeiten weit verbreitet ist. Denn bei solchen Krankheiten ist von vornherein wegen der Häufigkeit und Gleichartigkeit der in der übrigen Bevölkerung verbreiteten Krankheitsbilder ein erheblich erhöhtes Erkrankungsrisiko sowie die Möglichkeit einer Abgrenzung von allgemeinen Alters- und Verschleißerscheinungen zweifelhaft (vgl. Kasseler Kommentar - Ricke, § 9 SGB VII, Rdn. 10; Verron, SGb 1992, 585, 589: "... systemimmanente Grenzen einer kausal ausgerichteten Ordnung der Berufskrankheiten"). Verstärkt werden diese Zweifel aufgrund der in der Praxis hervorgetretenen und immer noch bestehenden unterschiedlichen Ansätze zur Beurteilung der Kausalität im Einzelfall (vgl. Pöhl u.a., a.a.O., 672 ff.; s. auch BSG, SozR 3-5680 Art. 2 Nr. 1 - S. 4 -: "... daß im Zusammenhang mit Nr. 2108 ... zahlreiche Zweifelsfragen entstanden und auch in der medizinischen Literatur - noch - keine "herrschende Meinung" vorhanden ist"; näher dazu unter II. 1.).

14

2.

Im Hinblick auf die hiernach erforderliche Prüfung der Gesetzeskonformität der BK Nr. 2108 war die Bundesregierung als Verordnungsgeberin nicht beizuladen, da weder die Voraussetzungen einer notwendigen Beiladung (§ 75 Abs. 2 SGG) noch auch nur die Voraussetzungen einer einfachen Beiladung (§ 75 Abs. 1 SGG) vorlagen (Benkel, NZS 1997, 254, 256 ff. m.w.N.). Denn das Urteil hat über den Einzelfall hinaus keine Gestaltungswirkung, und nur seine Entscheidungsgründe können für die Verordnungsgeberin von Interesse sein. Überdies steht aufgrund der vom Senat eingeholten Auskunft des BMA vom 23. Juli 1996 fest, wegen welcher wissenschaftlichen Arbeiten die Bundesregierung die BK Nr. 2108 in die Liste der Berufskrankheiten aufgenommen hat.

15

3.

§ 551 Abs. 1 Satz 3 RVO, auf den die BK Nr. 2108 gestützt worden ist, ermächtigt die Bundesregierung - ebenso wie nunmehr § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII -, solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind. Zweck dieser gesetzlichen Ermächtigung ist es, diejenigen Krankheiten in das Recht der gesetzlichen UV einzubeziehen, die wesentlich durch die versicherte Tätigkeit verursacht oder mitverursacht worden sind (vgl. BSG, SozR 2200 § 551 Nr. 10 - S. 18 -; SozR 5677 Anl. 1 Nr. 46 Nr. 8 - S. 14 -). Der das gesamte Recht der gesetzlichen UV beherrschende Kausalitätsgedanke bleibt damit gewahrt (vgl. Gitter/Nunius in: Schulin, a.a.O., § 6 Rdn. 43). Dabei verwirklicht das dem deutschen Berufskrankheitenrecht zugrundeliegende Listenprinzip den Kausalitätsgrundsatz nicht lückenlos. Denn die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges zwischen einer Krankheit und einer gefährdenden Tätigkeit führt aufgrund des Listenprinzips nur dann zur Entschädigung, wenn die Gruppentypik (häufigeres Auftreten einer Erkrankung innerhalb einer berufsschädigenden Einwirkungen ausgesetzten Personengruppe) und damit regelmäßig die generelle Eignung der Einwirkungen für die Verursachung einer bestimmten Erkrankung aufgrund der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft nachgewiesen ist (vgl. dazu Koch, a.a.O., § 35 Rdn. 6 und § 37, Rdn. 4 ff. und 9 f.).

16

Die Voraussetzung einer erheblich höheren Gefährdung i.S.d. § 551 Abs. 1 S. 3 RVO bezieht sich auf das allgemeine Auftreten der betreffenden Krankheit (BSGE 59, 295, 298). Die erheblich höhere Gefährdung wiederum erfordert den Nachweis eines im Vergleich zur übrigen Bevölkerung mehr als verdoppelten Erkrankungsrisikos in der gefährdeten (exponierten) Berufsgruppe. Der Senat hält diesen von der arbeitsmedizinischen Wissenschaft befürworteten Beurteilungsmaßstab (vgl. Woitowitz, Die BG 1994, 156, 159 f.; Bolm-Audorff, MedSach 1993, 57, 58; Triebig, MedSach 1996, 97, 99) für überzeugend (Urteil des Senats vom 20. Juni 1996 - L 6 U 230/91 = HVBG RdSchr. VB 3/97; offen gelassen in dem diese Entscheidung im Ergebnis bestätigenden Urteil des BSG vom 27. Mai 1997 - 2 RU 33/96 = HVBG RdSchr. VB 70/97). Denn die Höhe des relativen Erkrankungsrisikos bestimmt die Wahrscheinlichkeit der Kausalbeziehung: Treten in der exponierten Gruppe im Vergleich zur übrigen Bevölkerung mehr als doppelt so viele Erkrankungen auf, so ist die Gesundheitsstörung mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 v.H. beruflich bedingt. Das entspricht dem Beweismaßstab der gesetzlichen UV für die Kausalität. Deshalb hat auch die Verordnungsgeberin bei der Einführung der Asbestfaserjahre als Maßstab für die Anerkennung von Lungenkrebs als BK (3. Alternative der BK Nr. 4104 der Anl. 1 zur BKVO) zu Recht diesen Grad der Risikoerhöhung zugrunde gelegt (BR-Drucks. 773/92, Begründung B zu Art. 1 Nr. 5, S. 13). Außerdem trägt dieser Maßstab dem Gesetzeswortlaut Rechnung, der nicht jede, sondern nur eine "erhebliche" Risikoerhöhung ausreichen läßt.

17

Ob eine Krankheit in einer bestimmten, beruflich exponierten Personengruppe erheblich häufiger als in der übrigen Bevölkerung auftritt - Gruppentypik -, erfordert nach der ständigen Rechtsprechung des BSG, der sich der erkennende Senat anschließt, in der Regel den Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine lange zeitliche Überwachung derartiger Krankheitsbilder, um mit Sicherheit daraus schließen zu können, daß die Ursache für die Krankheit in einem schädigenden Arbeitsleben liegt (vgl. z.B. BSGE 59, 295, 298; BSG, Urteil vom 27. Mai 1997 - 2 RU 33/96 - a.a.O.; ebenso BVerfG, SozR 2200 § 551 Nr. 11). Damit ist die statistische Evidenz das erstrangige Anzeichen für die erhöhte generelle Eintrittswahrscheinlichkeit einer Krankheit. Das bedeutet zwar keine ausschließliche Festlegung auf die Epidemiologie als wissenschaftliche Erkenntnismethode, weil sonst in besonders gelagerten Fällen - z.B. bei kleinen Kollektiven und langen Latenzzeiten - zu hohe Hürden für die Aufnahme einer Krankheit in die Berufskrankheitenliste errichtet würden. Deshalb kann ausnahmsweise bei fehlender epidemiologischer Evidenz einerseits und bei biologischer bzw. toxikologischer Evidenz andererseits zur Vermeidung unbilliger Ergebnisse der Verzicht auf eine statistisch nachgewiesene Gruppentypik in Betracht kommen (vgl. dazu BSGE 52, 272, 275; BSG, Beschluß vom 27. Mai 1997 - 2 BU 43/97 = BAGUV RdSchr. 72/97; ausführlich Koch, a.a.O., § 35 Rdn. 8 und § 37 Rdn. 6 ff.; Woitowitz, a.a.O., 159). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier aber nicht vor. Vielmehr kommt der Epidemiologie für die Beurteilung des generellen Zusammenhanges von berufsbedingter körperlicher Belastung und Erkrankungen der LWS die entscheidende Bedeutung zu, weil dieses Krankheitsbild ("Kreuzschmerzen") in der Bevölkerung weit verbreitet und Gegenstand zahlreicher epidemiologischer Untersuchungen ist.

18

Zudem muß die generelle Eignung der beruflichen Exposition als wesentliche Ursache für eine Krankheit in der medizinischen Wissenschaft allgemein anerkannt, d.h. durch die herrschende Auffassung der Fachwissenschaftler hinreichend gefestigt sein (BSG, Urteil vom 31. Januar 1984 - 2 RU 67/82 = HVBG RdSchr. VB 53/84; BSGE 44, 90, 92 [BSG 23.06.1977 - 2 RU 53/76]: "... Vorliegen gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse ..."). Darauf wird auch in der Begründung zum Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz nochmals ausdrücklich hingewiesen (BT-Drucks. 13/2204, B I zu Art. 1, zu § 9 Abs. 2; Pöhl u.a., a.a.O.). Bei der Prüfung, ob eine hinreichend gefestigte herrschende Auffassung der Fachwissenschaftler vorliegt, steht der Verordnungsgeberin nach Auffassung des Senats ein Beurteilungsspielraum zu. Denn die Frage, ob einer ernstzunehmenden Mindermeinung kein Gewicht (mehr) beizulegen ist oder nicht, kann im Einzelfall durchaus vertretbar in dem einen oder anderen Sinn beantwortet werden (vgl. zu dieser Problematik Mehrtens/Perlebach, Die Berufskrankheitenverordnung, Komm., E § 9 SGB VII Anm. 8.3, S. 15 f.; Elster, Berufskrankheitenrecht, § 551 Anm. 4; vgl. auch Koch, a.a.O., § 35 Rdn. 14). Das bedeutet jedoch nicht, daß die Verordnungsgeberin schlechthin einen - gerichtlich nicht überprüfbaren - Beurteilungsspielraum hat und eine Krankheit in die Liste der BKen aufnehmen darf, wenn hierfür eine gesicherte wissenschaftliche Grundlage fehlt. Letzteres ist jedoch, wie noch im einzelnen (unter II.) ausgeführt werden wird, bei der BK Nr. 2108 der Fall. Dabei hat der Senat durchaus berücksichtigt, daß die gegenteilige Einschätzung der Verordnungsgeberin auf einer Empfehlung ihres ärztlichen Sachverständigenbeirats und damit eines sachkundigen Gremiums beruht. Gleichwohl ist die Frage, ob sich eine gefestigte wissenschaftliche Auffassung gebildet hat, rechtlicher Überprüfung zugänglich - falls erforderlich, unter Hinzuziehung von Sachverständigen - und läuft nicht auf eine Überforderung der Gerichte hinaus. Geboten ist sie im vorliegenden Fall insbesondere deshalb, weil die wissenschaftliche Begründung des Sachverständigenbeirates für die BK Nr. 2108 im wesentlichen auf einem Übersichtsaufsatz von Bolm-Audorff (s. dazu unter II.) beruht, gegen den erhebliche Bedenken bestehen. Denn der Sachverständige Prof. Dr. Weber hat darauf hingewiesen, daß gerade die in diesem Übersichtsaufsatz zur Begründung eines generellen Zusammenhanges von häufigem Heben und Tragen schwerer Lasten und degenerativen Erkrankungen der LWS herangezogenen Arbeiten "unvollständig, sinnentstellend und sogar falsch wiedergegeben worden sind" (Gutachten S. 16; Weber, Die literarische Basis der zweiten Erweiterung der BKVO mit Einführung der BKen 2108, 2109 und 2110 in: Weber/Valentin, Begutachtung der neuen BKen der Wirbelsäule, Fischer-Verlag, 1997, 101).

19

II.

Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens, insbesondere aufgrund des Gutachtens des Prof. Dr. Weber und dessen ergänzender gutachtlicher Stellungnahme sowie aufgrund des beigezogenen Fachschrifttums steht zur Überzeugung des Senats fest, daß die vorgenannten gesetzlichen Voraussetzungen für die Normierung der BK Nr. 2108 nicht erfüllt sind. Dabei kommt dem - eine Vielzahl epidemiologischer Studien referierenden - Übersichtsaufsatz von Bolm-Audorff (a.a.O.) eine besondere Bedeutung zu, weil er der Bundesregierung nach Auskunft des BMA als Grundlage für die Aufnahme der BK Nr. 2108 in die Liste der BKen gedient hat. Darüber hinaus hat der Senat das zur Veröffentlichung bestimmte Manuskript "Einfluß arbeitsmedizinisch-epidemiologischer Erkenntnisse auf die Kodifizierung der berufsbedingten Bandscheibenerkrankung" (nachfolgend zitiert: Manuskript) berücksichtigt, das Dr. Bolm-Audorff dem Senat zur Verfügung gestellt hat und in dem er herausgestellt hat, daß die wesentlichen Argumente für die Aufnahme der BK Nr. 2108 seinem Übersichtsaufsatz zu entnehmen seien. Der in der Auskunft des BMA außerdem erwähnten "Sonderschrift 3" aus der Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin ("Erkrankungen der Wirbelsäule bei körperlicher Schwerarbeit und Ganzkörperschwingungen") vermochte der Senat keine - über die vorgenannten Abhandlungen hinausgehenden - epidemiologischen Erkenntnisse zu entnehmen. Zusammenfassend ergibt sich hiernach:

  • Unter den Fachwissenschaftlern gibt es im Hinblick auf bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS keine Übereinstimmung und nicht einmal eine herrschende Meinung, daß eine erhebliche Erhöhung des generellen Erkrankungsrisikos aufgrund der in der BK Nr. 2108 umschriebenen körperlichen Belastungen epidemiologisch belegt ist. Das Fehlen einer gesicherten wissenschaftlichen Lehrmeinung ist auch plausibel (vgl. dazu unter II. 1.).

  • Eine erhebliche Erhöhung der Gefährdung im Sinne einer Verdoppelung des Erkrankungsrisikos in exponierten Berufsgruppen ist schon aus logischen Gründen nicht denkbar (vgl. dazu unter II. 2.).

  • Damit übereinstimmend ergibt eine ins einzelne gehende Würdigung der vorliegenden epidemiologischen Studien - ungeachtet ihrer für die hier interessierende Fragestellung generell unzureichenden Methode - keine Verdoppelung des Erkrankungsrisikos (vgl. dazu unter II. 3.).

20

Unter den zu beurteilenden Erkrankungen i.S. der BK Nr. 2108 sind folgende Gesundheitsstörungen zu verstehen: Bandscheibendegeneration (Diskose), Instabilität im Bewegungssegment, Bandscheibenvorfall (Prolaps), degenerative Veränderungen der Wirbelkörperabschlußplatten (Osteochondrose), knöcherne Ausziehungen an den vorderen und seitlichen Randleisten der Wirbelkörper (Spondylose), degenerative Veränderungen der Wirbelgelenke (Spondylarthrose) und die dadurch bedingten Beschwerden und Funktionseinschränkungen der LWS (Begründung der Bundesregierung zur 2. Verordnung zur Änderung der BKVO, BR-Drucks. 773/92, Begründung B, zu Art. 4 a - S. 8 -). Im Merkblatt zur BK Nr. 2108 (BABl. 3/1993, 50, 51) werden die maßgebenden bandscheibenbedingten Erkrankungen als "lokales Lumbalsyndrom", "Wurzelsyndrom" und "Kaudasyndrom" bezeichnet und näher umschrieben. Diese Krankheitsbilder tragen der orthopädischen Erfahrung Rechnung, daß bei "Bandscheibenpatienten" begleitende funktioneile Einschränkungen (Bewegungseinschränkung der Lendenwirbelsäule, Muskelhartspann) im Vergleich zur Schmerzsymptomatik - als Ausdruck der eingeschränkten Stützfunktion - in den Hintergrund treten (Seehausen, Die BG 1996, 444). Daraus folgt zugleich, daß röntgenologische Befunde - insbesondere Osteochondrose, Spondylose und Spondylarthrose - allein noch keine Krankheit sind (so zutreffend das Merkblatt zur BK Nr. 2108; Gutachten des Prof. Dr. Weber, S. 9; vgl. auch Kristen, Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Präventivmedizin 1993, 83, 85). Das beruht auf der ärztlichen Erfahrung, daß bildtechnisch sichtbare Veränderungen und ihre Auswirkungen nur ganz unzureichend miteinander korrelieren (ergänzende Stellungnahme des Prof. Dr. Weber, S. 3; Ludolph/Schröter in: Weber/Valentin, a.a.O., 79, 81; Seehausen, a.a.O.: "symptomlose Degeneration"). Auch können allein Beschwerden ebenfalls nicht mit einer Erkrankung i.S.d. BK Nr. 2108 gleichgesetzt werden, sondern nur dann, wenn sie sich aufgrund röntgenologischer Befunde und klinischer Diagnostik ("harte Daten") den im Merkblatt zur BK Nr. 2108 genannten Syndromen zuordnen lassen (vgl. dazu im einzelnen Schmidt, Das Lumbalsyndrom als BK - Diagnostische Probleme, in: Weber/Valentin, a.a.O., 75). Dafür ist weniger die Möglichkeit von Aggravation und Simulation von Bedeutung (vgl. dazu Rompe, Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Präventivmedizin 1993, 86, 87), als vielmehr der Umstand, daß "Kreuzschmerzen" vielfach nicht bandscheibenbedingt sind, sondern - dies ist wissenschaftlich gesichert - auf mentalen, psychosozialen und sozioökonomischen Faktoren beruhen (Gutachten des Prof. Dr. Weber, S. 9 unter Hinweis auf einschlägige epidemiologische Untersuchungen; Seehausen, MedSach 1995, 203; Schmidt, a.a.O., 76; Appell, DOK 1997, 752) und sich auch bei "gesunden Bandscheiben" nicht immer Schmerzfreiheit nachweisen läßt (Schmidt/a.a.O.).

21

1.

Die für die Aufnahme einer Krankheit in die Berufskrankheitenliste erforderliche hinreichend gefestigte (herrschende) Auffassung der Fachwissenschaftlerüber die Gruppentypik und damit die generelle Geeignetheit körperlich schwerer Arbeiten für die Verursachung der vorgenannten bandscheibenbedingten Erkrankungen der LWS fehlt.

22

a)

Wie Prof. Dr. Weber mitgeteilt hat, ist lediglich die biologische Plausibilität unstreitig, daß mechanische Einwirkungen - durch Druck und Zug - die Bandscheiben schädigen können (Gutachten S. 52). Dies leuchtet insbesondere aufgrund der Berechnungen von Jäger/Luttmann (MedSach 1994, 160) ein. Ferner deutet die von Weber/Krämer (Orthopädische Praxis 1995, 731, 733) mitgeteilte Beobachtung von Hult, daß Gewichtheber geringer ausgeprägte degenerative Veränderungen der Wirbelsäule aufweisen als Schwerarbeiter, auf die besondere Bedeutung der richtigen Hebetechnik hin. Es ist nachvollziehbar, daß eine untrainierte Muskulatur, unphysiologisches Heben und eine plötzliche Kraftanstrengung zu einer Wirbelsäulenverletzung und zu einer Entschädigung als Arbeitsunfall führen können. Diese Gefährdungen unterstreichen die Erforderlichkeit und große Bedeutung von Präventionsmaßnahmen, hier in Gestalt von ergonomischer Beratung und regelmäßiger Ausgleichsgymnastik (vgl. § 1 Nr. 1 SGB VII).

23

Davon zu unterscheiden ist aber die Entschädigung als BK im Rahmen des Listenprinzips. Ihr steht bereits der Mangel einer gefestigten Auffassung der medizinischen Wissenschaft entgegen, daß bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS bei bestimmten Berufsgruppen erheblich häufiger als in der übrigen Bevölkerung auftreten. Der in den Abhandlungen von Bolm-Audorff enthaltenen Wiedergabe der epidemiologischen Studien ist nicht zu entnehmen, daß die einzelnen Autoren die Frage, ob eine erheblich höhere Gefährdung im bereits umschriebenen Sinn vorliegt, zusammenfassend und wertend beurteilen. Allerdings ist dem Gutachten des Prof. Dr. Weber zu entnehmen, daß jedenfalls Hult und Frau Riihimäkigenerell einen wesentlichen Einfluß von schwerer körperlicher Arbeit auf krankhafte Veränderungen der Wirbelsäule verneinen. Entscheidendes Gewicht kommt somit der Frage zu, ob sich aufgrund der vorliegenden epidemiologischen Untersuchungen in der medizinischen Fachwissenschaft eine gesicherte Auffassung hinsichtlich eines gruppentypisch erheblich erhöhten Erkrankungsrisikos gebildet hat. Das ist nicht der Fall (ebenso Urteil des SG Landshut, a.a.O., S. 11 f.).

24

Die Frage nach der schädigenden Einwirkung körperlich belastender Berufstätigkeiten auf die Wirbelsäule wird seit Jahrzehnten insbesondere zwischen Orthopäden und Arbeitsmedizinern kontrovers diskutiert (näher dazu Valentin, in: Weber/Valentin, a.a.O., S. 3 ff.). So war die Fortentwicklung der BKVO aufgrund des Einigungsvertrages - danach war zu prüfen, inwiefern die bisherigen Regelungen der DDR berücksichtigt werden sollten (vgl. Art. 30 Abs. 6 des Einigungsvertrages vom 31. August 1990, BGBl. II S. 889, 900) - bis zuletzt umstritten (Ludolph/Schröter, Die BG 1993, 738). Schlegel bezeichnet sie als politische Entscheidung und weist darauf hin, daß beweiskräftige Erkenntnisse für die Wirbelsäulen-Berufskrankheiten nicht vorlägen (Orthopädische Praxis 1995, 729, 730; vgl. auch Becker, SozSich 1995, 100, 105; Erlenkämper, a.a.O.; LSG Schleswig-Holstein, a.a.O.). Nach den. Untersuchungen von Stößel, Hofmann und Mlangeni (Zur Belastung und Beanspruchung der Wirbelsäule bei Beschäftigten im Gesundheitsdienst, 1990) gibt es in keinem anderen europäischen Land eine gesetzliche Regelung über die Anerkennung berufsbedingter Wirbelsäulenkrankheiten. Lediglich die frühere DDR hatte ein Anerkennungsverfahren entwickelt (Stößel u.a., a.a.O., 118). Insoweit fehlten jedoch epidemiologische Erkenntnisse. So weisen Konetzke (zitiert nach Valentin, a.a.O., 6) und Krüger (Verschleißkrankheiten der Wirbelsäule als BK, in: Stößel u.a., a.a.O., 139) darauf hin, daß die BK Nr. 70 der Liste der Berufskrankheiten der DDR (Verschleißkrankheiten der Wirbelsäule durch langjährige mechanische Überlastungen) wissenschaftlich nicht begründet gewesen sei und epidemiologisch gesicherte Erkenntnisse in der DDR nicht publiziert worden seien. Auch Rompe (a.a.O.) verneint die wissenschaftliche Absicherung der statistischen Häufung bandscheibenbedingter Erkrankungen durch berufliche Einwirkung. Den Monographien von Junghanns und Krämer (1980 und 1986) ist zu entnehmen, daß sich eine berufsspezifische Betroffenheit bandscheibenbedingter Erkrankungen nicht ableiten läßt (zitiert nach Valentin, a.a.O.,3 f.). Nach Halm/Liljenquist (in: Jerosch/Witting/Brunsmann, Berufsbedingte Erkrankungen der Wirbelsäule, Enke Verlag, 1996, 3) ist die berufliche Verursachung bandscheibenbedingter Erkrankungen der Wirbeisäule - entgegen der Begründung der Bundesregierung zur BK Nr. 2108 - durch die Grundlagenforschung nur wenig belegt (so auch Castro, Gutachtenrelevante bildgebende Diagnostik in: Jerosch/Witting/Brunsmann, a.a.O., 79; Schmidt, a.a.O., 77). Ludolph und Schröter (in: Weber/Valentin, a.a.O., 82) sind der Ansicht, vergleichende Untersuchungen belasteter und nicht belasteter Kollektive hätten weder im Verteilungsmuster noch in der Schwere noch im Entstehungszeitpunkt in Abhängigkeit vom Lebensalter signifikante Unterschiede ergeben. Weber und Krämer (a.a.O., 734) schließlich benennen 12 weitere Autoren, die keinen Zusammenhang zwischen Wirbelsäulendegeneration und körperlicher Belastung zu erkennen vermögen. Trotz einzelner anderer Einschätzungen (insbesondere von Bolm-Audorff, Handbuch, S. 18, allerdings ohne die Behauptung eines verdoppelten Erkrankungsrisikos; Seide/Grosser/Wolter, Berufsbedingte Lendenwirbelsäulenerkrankungen im Pflegebereich, in: Weber/Valentin, a.a.O., 97 f.) kann deshalb nicht davon gesprochen werden, daß es eine hinreichend gefestigte bejahende Auffassung der medizinischen Wissenschaft über die berufsbedingte Verursachung bandscheibenbedingter Erkrankungen gibt. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Im übrigen haben auch die wissenschaftlichen Tagungen der vergangenen Jahre (z.B. die Unfallmedizinische Tagung Baden-Baden 1993, das Neuroorthopädie-Symposium Frankfurt/Main 1997 und das Internationale Symposium "Berufsbedingte Wirbelsäulenerkrankungen", Hamburg 1997) insoweit zu keiner Klärung geführt.

25

Auch die Unsicherheit darüber, welches Ausmaß eine berufliche Exposition haben muß, um die Bandscheiben zu schädigen - die sogenannte Dosis-Wirkung-Beziehung - und welche Tätigkeiten als potentiell schädigend aufzugeben sind, läßt erkennen, daß die BK Nr. 2108 nicht hinreichend fundiert ist. Bolm-Audorff (in: Weber/Valentin, a.a.O., 47, 50) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, "daß epidemiologische Studien, aus denen sich die Verdoppelungsdosis für das Risiko zur Entwicklung einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS durch Heben oder Tragen schwerer Lasten oder Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung ableiten lassen, fehlen".

26

Deshalb ist es verständlich, daß der Verordnungsgeberin eine Konkretisierung der arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr. 2108 - im Gegensatz zu der BK Nr. 4104 (3. Alternative) - nicht gelungen ist (a.A. Mehrtens/Perlebach, a.a.O., § 9 SGB VII Anm. 8.3 S. 16). Einigkeit besteht wohl darüber, daß die im Merkblatt zur BK Nr. 2108 genannten 10 Berufsjahre als untere Grenze der Dauer der belastenden Tätigkeit zu fordern sind (näher dazu Pangert/Hartmann, Zur Frage berufsbedingter Erkrankungen der LWS aus biomechanischer Sicht, in: Hierholzer/Kunze/Peters, Berufsbedingte Wirbelsäulenschäden, Gutachterkolloquium 8, Springer-Verlag, 1993, 25), wobei allerdings Pangert nach neueren Berechnungen (1994) einen Zusammenhang bei einer Expositionszeit von weniger als 20 Jahren für unwahrscheinlich hält (Gutachten des Prof. Dr. Weber, S. 13; Weber/Krämer, a.a.O. 733). Hingegen sind die im Merkblatt zur BK Nr. 2108 weiter angegebenen Lastgewichte für die Beurteilung des Ursachenzusammenhangs schon deshalb nicht aussagekräftig, weil sie unter präventiv-medizinischen Gesichtspunkten entwickelt worden sind (vgl. Mehrtens/Perlebach, a.a.O., M 2108 Anm. 2, S. 15) und weil für die Bestimmung der Kraft auf die LWS der Vorbeugewinkel des Rückens ebenso wichtig ist wie die zu hebende Last selbst (Pangert/Hartmann, a.a.O., 28), auch insoweit jedoch keine aussagefähigen Richtwerte ersichtlich sind.

27

Die von Prof. Dr. Weber im einzelnen dargestellten Unklarheiten hinsichtlich der kritischen Belastungsdosis und der Expositionsdauer (Gutachten S. 12 ff.) haben, wie Bolm-Audorff (a.a.O., S. 47 f.) im einzelnen dargestellt hat, demgemäß bei den einzelnen Unfallversicherungsträgern zu unterschiedlichen, unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung problematischen Konkretisierungen der arbeitstechnischen. Voraussetzungen geführt: Die Bau-Berufsgenossenschaften halten einen Anteil von einem Drittel belastender Arbeiten je Arbeitsschicht für erforderlich. Die Großhandels- und Lagerei-Berufsgenossenschaft fordert mindestens 500 Hebevorgänge bis 25 kg. Mehrere Berufsgenossenschaften verwenden das Belastungsmodell von Pangert und Hartmann (250 Hebevorgänge pro Schicht mit Krafteinwirkung von 4000 Newton - vgl. Koss, MedSach 1995, 29 -), dem eine Querschnittsstudie von Preßwerkern zugrunde liegt. Am meisten verbreitet dürfte die Bewertung der arbeitstechnischen Voraussetzungen nach den Dosisrichtwerten von Hartung und Dupuis sein (vgl. Hartung, Ermittlung und Beurteilung der beruflichen Belastung durch Heben und Tragen schwerer Lasten oder Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, in: Weber/Valentin, a.a.O., 25 ff.). Die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege schließlich folgt der Theorie der kurzfristigen Spitzenbelastungen (vgl. Seide/Grosser/Wolter, a.a.O., 98) und entfernt sich damit, von den im Merkblatt zur BK Nr. 2108 genannten Orientierungswerten am weitesten.

28

b)

Das vorstehend skizzierte Fehlen einer gefestigten medizinischen Lehrmeinungüber die erhebliche Erhöhung des Risikos, durch schwere körperliche Arbeit eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS zu erleiden, ist auch plausibel. Denn diese Erkrankungen der LWS sind weit verbreitet und beruhen auf einem Bündel von Ursachen ("multifaktorielles Geschehen"). Ganz wesentlich ist der natürliche Alterungs- und Degenerationsprozeß (BR-Drucks. 773/92, Begründung B zu Art. 1 Nr. 4 a, S. 8), dem die Bandscheiben eines jeden Menschen ab dem 30. Lebensjahr ausgesetzt sind (vgl. z.B. Seehausen, Die BG 1995, 203) und der nicht zu verhindern ist (Kristen, a.a.O., 84). Daneben gibt es eine Reihe weiterer Ursachenfaktoren wie Rauchen, Autofahren, Schwangerschaft sowie Übergewicht (Gutachten des Prof. Dr. Weber, S. 9 und 22). Von erheblicher Bedeutung ist vor allem die Bewegungsarmut, d.h. die fehlende Belastung der Wirbelsäule, insbesondere in der Jugend (Kristen, a.a.O., 85). Weber und Krämer (a.a.O., 733 f.) heben unter Hinweis auf epidemiologische Untersuchungen darüber hinaus die steigende Inzidenz (Häufigkeit von Neuerkrankungen) von Kreuzschmerzpatienten in den vergangenen 50 Jahren trotz ständig abnehmender arbeitsbedingter körperlicher Belastung hervor. Diese Beobachtung legt die Annahme nahe, daß berufsbedingter körperlicher Belastung keine wesentliche Bedeutung für Erkrankungen der LWS zukommt. Damit stimmt überein, daß die Rückenerkrankungen die mit Abstand führende Ursache für den Ausfall an Arbeitstagen, für eine Frühberentung und für medizinische Maßnahmen der Rehabilitation sind (vgl. im einzelnen Halm/Liljenquist, a.a.O.).

29

Diese Zuordnung der bandscheibenbedingten Erkrankungen der LWS zu den "Volkskrankheiten" macht im übrigen die Einzelfallbeurteilung, ob berufliche Schwerarbeit eine wesentliche Krankheitsursache darstellt, schwierig bis unmöglich (Halm/Liljenquist, a.a.O., 10). Denn die einzelnen röntgenologisch nachweisbaren degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule sind nicht "belastungsspezifisch" mit der Folge, daß es kein sicheres Abgrenzungskriterium der altersentsprechenden Befunde von den - auf den Einfluß schwerer körperlicher Arbeit hindeutenden - dem Alter vorauseilenden Befunden gibt (Ludolph/Schröter, a.a.O., 81; Koss, a.a.O.; Seide/Wolter, 1995, 183, zitiert nach Bolra-Audorff, in: Weber/Valentin, a.a.O., 52: "... Es ist gegenwärtig davon auszugehen, daß beruflich bedingte und natürliche Bandscheibendegenerationen gleichartige Verteilungsmuster zeigen und sich gegenseitig überlagern"). Auch wenn man - im Anschluß an die sogenannte "Hamburger Formel" (Hansis/Heinz/Bruns/Rinke, Die BG 1995, 433) - aus dem "Verteilungsmuster" der radiologischen Befunde Rückschlüsse zieht und aufgrund des Gutachtens des Prof. Dr. Weber nunmehr davon ausgeht, daß bei körperlicher Schwerarbeit typischerweise in allen Wirbelsäulenabschnitten Veränderungen auftreten, nicht hingegen nur mono- oder bisegmentale Veränderungen der LWS, kann eine überzeugende Abgrenzung von dem natürlichen, belastungsunabhängig ablaufenden Verschleißprozeß der Wirbelsäule im Einzelfall kaum gelingen. Dies gilt um so mehr, als es selbst beim Nachweis der dargestellten unbestimmten arbeitstechnischen Voraussetzungen keinen Beweis des ersten Anscheins für eine berufsbedingte Verursachung oder Mitverursachung einer bandschbeibenbedingten Erkrankung der LWS gibt (BSG, Urteil vom 18. November 1997 - 2 RU 48/96 - S. 8). Schließlich wird die Beurteilung noch dadurch erschwert, daß andere Erkrankungen im Bereich der LWS (z.B. Morbus Forestier, Bechterew'sche Erkrankung, Spondylolisthesis) die BK Nr. 2108 nicht von vornherein ausschließen, sondern in ihren Auswirkungen von der bandscheibenbedingten Funktionseinschränkung und Schmerzsymptomatik abzugrenzen sind. Angesichts dieser Problematik spricht Schmidt (a.a.O.) nachvollziehbar davon, daß die Beurteilung des kausalen Zusammenhanges einer bandscheibenbedingten Erkrankung mit körperlicher Belastung noch immer ohne gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse gelöst werden müsse (gleichsinnig Castro, a.a.O.), sich also das Fehlen gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse über ein erheblich erhöhtes Risiko bandscheibenbedingter Erkrankungen aufgrund körperlicher Schwerarbeit auch in der Beurteilung des Einzelfalls niederschlägt.

30

2.

Unabhängig von dem vorstehend geschilderten Mangel gefestigter wissenschaftlicher Erkenntnisse steht die weite Verbreitung der Erkrankungen der LWS in der Bevölkerung schon aus Gründen der Logik der Annahme einer erheblichen Risikoerhöhung (§ 551 Abs. 1 S. 3 RVO) i.S. eines mehr als verdoppelten Erkrankungsrisikos der Angehörigen exponierter Berufsgruppen entgegen. Das ist darauf zurückzuführen, daß die Häufigkeit degenerativer Wirbelsäulenerkrankungen in der allgemeinen Bevölkerung mit steigendem Alter deutlich zunimmt (Bolm-Audorff, Handbuch, S. 18; vgl. auch Seehausen, a.a.O., wonach die überwiegende Mehrzahl der Menschen jenseits des 30. Lebensjahres Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule aufweist). Deshalb sieht es der Senat aufgrund des Gutachtens des Prof. Dr. Weber als gesicherte medizinische (orthopädische) Erfahrung an, daß jedenfalls bis zum 60. Lebensjahr bei mehr als der Hälfte der Bevölkerung das Krankheitsbild der BK Nr. 2108 auftritt. Der Sachverständige zieht daraus den einleuchtenden Schluß, daß ein mehr als verdoppeltes Erkrankungsrisiko nicht denkbar sei (Gutachten, S. 52, s. auch Weber/Morgenthaler, Zeitschrift für Orthopädie 135 - 1997 -, 8; ähnlich Ludolph/Schröter, a.a.O., 82: "Eine Volkskrankheit in einer von Bewegungsarmut geprägten Gesellschaft kann nicht in einer großen Fallzahl belastungsbedingt sein."). Die weitere Differenzierung danach, in welchem Lebensabschnitt, wie oft, wie lange und mit welcher Intensität das Krankheitsbild der BK Nr. 2108 in der Normalbevölkerung einerseits und in den zu vergleichenden exponierten Berufsgruppen andererseits auftritt, ist weder möglich noch erforderlich, da allein die erhebliche Erhöhung des allgemeinen Krankheitsrisikos maßgebend ist (BSGE 59, 295, 298). Damit wird dem Grundgedanken des Berufskrankheitenrechts Rechnung getragen, daß als BKen solche Krankheiten ausgeschlossen sind, die in der Bevölkerung weit verbreitet sind und deshalb nicht als berufliches Schicksal angesehen und anerkannt werden können (vgl. KassKomm. - Ricke, § 9 SGB VII Rdn. 8).

31

In diesem Zusammenhang fällt auf, daß die Begründung zur 2. Verordnung zur Änderung der BKVO zwar für die BK Nr. 4104 (Lungenkrebs ohne Asbestose) auf die epidemiologisch nachgewiesene Verdoppelung der Krebstodesrate nach 20 und 24 Asbestfaserjahren hinweist, für die BK Nr. 2108 aber nur eine Linksverschiebung erwähnt und zur erheblichen Erhöhung des Erkrankungsrisikos keine konkrete Aussage enthält. Diese Linksverschiebung ist mit der aus logischen Gründen ausgeschlossenen Verdoppelung des Erkrankungsrisikos durchaus vereinbar. Unter Linksverschiebung ist, wie sich aus dem Gutachten des Prof. Dr. Weber ergibt, die durch wissenschaftliche Untersuchungen hinreichend gestützte Beobachtung zu verstehen, daß körperliche Schwerarbeiten das Auftreten degenerativer Wirbelsäulenveränderungen um etwa 10 Jahre beschleunigen. Prof. Dr. Weber spricht zusammenfassend von einer zeitlich begrenzten Inzidenzsteigerung und Häufung von - radiologisch nachgewiesenen - leichten und schweren Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule (chondrotische und spondylotische Veränderungen der gesamten Wirbelsäule) und von der "vorübergehenden Verschlimmerung" eines Prozesses, der in allen Bevölkerungsgruppen anzutreffen ist (vgl. im einzelnen S. 44 ff. des Gutachtens und die ergänzende Stellungnahme, insbesondere S. 1-5; ausführlich auch Morgenthaler/Weber, in: Weber/Valentin, a.a.O., 61, 70 f.; Weber, in: Weber/Valentin, a.a.O., 105 ff.). Diese Vorverlagerung des Wirbelsäulenverschleißes steht im übrigen im Einklang mit der Beobachtung, daß - jedenfalls unter den Arbeitsbedingungen der Vergangenheit - körperlich schwer arbeitende Menschen früher als andere Bevölkerungsgruppen die Arbeit aufnehmen (Weber, Die 4 Stadien der neuen Berufskrankheiten der Wirbelsäule, Manuskript des Vertrages anläßlich der Fortbildungstagung der Berufsrichter/innen der Sozialgerichtsbarkeit des Landes Baden-Württemberg vom 8. bis 10. Oktober 1997, S. 14 f., im folgenden zitiert: Vortrag). Entscheidend ist indessen, daß die Linksverschiebung den Anforderungen des § 551 Abs. 1 Satz 3 RVO nicht genügt, weil sie - wie bereits ausgeführt - keine wesentliche Erhöhung des Erkrankungsrisikos i.S. einer Verdoppelung beweisen kann. Dies gilt um so mehr, als die Wissenschaftler, welche die Befundentwicklung in Kollektiven von über 60 Jahre alten Menschen untersucht haben, festgestellt haben, daß sich die Prävalenzkurven überschneiden: Im höheren Lebensalter weisen körperlich nicht schwer arbeitende Menschen häufiger und nicht etwa seltener Verschleißerscheinungen an der Wirbelsäule auf (Gutachten des Prof. Dr. Weber, S. 46; Vortrag S. 15; Morgenthaler/Weber, a.a.O., 62; Weber, in: Weber/Valentin, a.a.O., 105 ff.). Zusammenfassend ergibt sich, daß die auf einen bestimmten Lebensabschnitt beschränkte Beschleunigung eines allgemeinen Verschleißprozesses der LWS bei körperlich schwer arbeitenden Menschen keine BK darstellt (s. die zusammenfassende Schlußbemerkung von Weber, in: Weber/Valentin, a.a.O., 115: "Daß diese zeitlich befristete Modifikation des ohnehin ablaufenden Wirbelsäulenverschleißes als krankhaft einzustufen ist, ist in Anbetracht der vorrangigen Bedeutung psychosozialer Faktoren von Rückenschmerzen eher unwahrscheinlich ..."; vgl. auch LSG Rheinland-Pfalz, Breithaupt 1985, 917, 919).

32

3.

Eine Würdigung der von Bolm-Audorff referierten epidemiologischen Studien stellt, wie sich insbesondere aus dem Gutachten des Prof. Dr. Weber ergibt, die Beurteilung des Senats nicht in Frage, sondern bestätigt sie. Diese epidemiologischen Studien beweisen weder, daß langjähriges schweres Heben und Tragen sowie Arbeiten in ständig gebückter Haltung das Risiko einer bandscheibenbedingten Erkrankung generell in erheblichem Maß - d.h. im Vergleich zur übrigen Bevölkerung um mehr als das Doppelte - erhöhen, noch auch nur, daß diese Erkrankungen bei Schwerarbeitern im Vergleich zu unbelasteten gleichaltrigen Arbeitnehmern mehr als doppelt so häufig auftreten (ergänzende Stellungnahme des Prof. Dr. Weber, S. 4).

33

Bei der Prüfung der Studien hat sich der Senat an den Voraussetzungen orientiert, die erfüllt sein müssen, um das in der BK Nr. 2108 definierte generelle Krankheitsrisiko überprüfen zu können. Dazu gehören zunächst außer einer einschlägigen Fragestellung die hinreichend klare Definition der Vergleichsgruppen, d.h. eines geeigneten exponierten Kollektivs einerseits und eines geeigneten Kollektivs der übrigen (nicht exponierten) Bevölkerung andererseits, eine Altersstandardisierung, ferner eine geschlechtsspezifische Unterscheidung sowie möglichst eine statistische Signifikanz, d.h. eine Irrtumswahrscheinlichkeit von höchstens 5 % (vgl. Bortz, Lehrbuch der Statistik, 2. Auflage 1985, 146 ff., 149). Wegen Nichterfüllung dieser Voraussetzungen hat Bolm-Audorff (Handbuch, S. 3 f.) bereits eine Vielzahl von Studien mit nachvollziehbaren Argumenten (fehlende Kontrollgruppe, fehlende Altersstandardisierung, Berufe der "Volkszählung" entnommen, pathologische Untersuchungen als Basis) ausgeschlossen. Verwirrend ist allerdings, daß er im Anschluß hieran die die einzelnen exponierten Berufsgruppen betreffenden Studien im Sinne einer Erhöhung des Erkrankungsrisikos interpretiert, obwohl er auch im Hinblick auf einen erheblichen Teil dieser Studien nachvollziehbare methodische Bedenken (fehlende Altersstandardisierung, ungeeignete Kontrollgruppe, zu geringe Fallzahl, keine Angabe über Lokalisierung der Befunde und Beschwerden) äußert (vgl. Handbuch S. 7, 11 f., 15 und 17). Es handelt sich insoweit um die Studien von HAAS (1979), PORTER (1987), BERGENUDD/NILSSON (1988), CAI (1992), OWEN/DAMERON (1984), HARBER (1985), PREZANT (1987) und KELSEY (1975).

34

Brauchbar sind darüber hinaus, wie Prof. Dr. Weber (Gutachten S. 11) einleuchtend ausgeführt hat, nur solche Studien, die auch die bildtechnischen Befunde der Wirbelsäule (zumindest konventionell gefertigte Röntgenaufnahmen) berücksichtigen. Wie bereits ausgeführt (s. eingangs zu II.), beruht dies darauf, daß Rückenbeschwerden ("Kreuzschmerzen") oft psychosoziale Ursachen haben, also keineswegs bandscheibenbedingt sein müssen. Die Feststellung, daß sie auf einer bandscheibenbedingten Erkrankung beruhen, ist nur aufgrund einer klinischen und röntgenologischen Untersuchung möglich (eingehend dazu, insbesondere zur Schwierigkeit der Diagnose des "lokalen Lumbalsyndroms" Schmidt, a.a.O., 75 f.). Deshalb sind auch Feststellungen über Zeiten der Arbeitsunfähigkeit wegen Wirbelsäulenbeschwerden nicht aussagekräftig, zumal es einleuchtet, daß Wirbelsäulenbeschwerden körperlich schwere Arbeit weit eher unmöglich machen als körperlich leichte (Gutachten des Prof. Dr. Weber, S. 10 f.) und deshalb häufigere und längere Zeiten der Arbeitsunfähigkeit körperlich schwer arbeitender Menschen plausibel erscheinen. Vor allem sind die röntgenologischen Befunde unerläßlich, weil sich ohne Feststellung von das altersübliche Ausmaß übersteigenden degenerativen Veränderungen der LWS keine Korrelation von Funktionseinschränkungen und Beschwerden mit pathologischen bandscheibenbedingten Veränderungen der LWS und damit auch kein erhöhtes Krankheitsrisiko plausibel machen läßt (s. zu dieser Korrelation die ergänzende Stellungnahme des Prof. Dr. Weber, S. 3). Andererseits genügen ausschließlich radiologisch nachgewiesene Veränderungen nicht, um ein erhöhtes Erkrankungsrisiko zu beweisen, weil sie, wie bereits ausgeführt (s. eingangs zu II.), lediglich Befunde darstellen und für sich genommen keinen Krankheitswert haben. Daraus ist zu folgern, daß nur solche epidemiologischen Studien Aussagen zur Frage des erhöhten Krankheitsrisikos i.S.d. BK Nr. 2108 erlauben, die sowohl röntgenologische Befunde beurteilen als auch eine eindeutige klinische Diagnostik der bandscheibenbedingten Erkrankungen enthalten. Insoweit fällt auf, daß die Studien eine für die verläßliche Prüfung der Gruppentypik erforderliche Diagnostik der bandscheibenbedingten Erkrankungen durchweg vermissen lassen. Selbst wenn man dieses zentral bedeutsame Kriterium vernachlässigt, sind jedenfalls nur solche epidemiologischen Studien verwertbar, die für die Fragestellung relevant sind, eine einschlägige Beschwerdesymptomatik beschreiben, röntgenologische Befunde der Wirbelsäule (speziell der LWS) auch in den Vergleichskollektiven auswerten und keine statistischen Mängel aufweisen.

35

Aufgrund dieser Kriterien ergibt sich für die von Bolm-Audorff referierten Studien im wesentlichen folgendes Bild (a-d):

36

a)

Einige Untersuchungen sind wegen ihres Untersuchungsgegenstandes nicht aussagekräftig: Die Untersuchung von SCHRÖTER und RADEMACHER (1971) betrifft die Häufigkeit röntgenologischer Veränderungen der HWS bei Transportarbeitern in Schlachthöfen ("Fleischträgern") und enthält keine für die BK Nr. 2108 relevanten Aussagen (Handbuch, S. 5). Dieses trifft gleichermaßen für die Arbeit von KELSEY (1984 a) zu, die lediglich Angaben über cervikale Bandscheibenvorfälle enthält. Die Studien von VENNING (1987), VIDEMANN (1989), BALDASSARONI (1991) und ENGKVIST (1992) sind für die Beurteilung der BK Nr. 2108 unergiebig, weil ihnen Verhebetraumata u.a., also Unfälle, zugrunde liegen (Handbuch, S. 12 ff.). Solche Wirbelsäulenverletzungen, die im übrigen auch von der Hebetechnik abhängig sind (VIDEMANN), können unter bestimmten Voraussetzungen (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 5. Auflage 1993, 8.3, S. 432 ff.) systemgerecht als Arbeitsunfälle entschädigt werden. Bemerkenswert erscheint außerdem, daß sich in der Interventions Studie von VIDEMANN hinsichtlich der verletzungsunabhängigen chronischen Wirbelsäulenbeschwerden keine Gruppenunterschiede fanden (Handbuch, S. 13). Auch der Studie von KAPLAN/DEYO (1988) liegen Wirbelsäulenverletzungen ("Verhebetraumata" und "Verrenkungen") zugrunde. Zudem ist ihrer Arbeit nicht zu entnehmen, ob die Angaben altersstandardisiert wurden (Bolm-Audorff, Handbuch, S. 12). Aus ähnlichen Gründen ist die Studie von DAMLUND (1982) ohne Aussagewert. In ihr wird die Inzidenz von Frühberentungen wegen Gelenk- und Wirbelsäulenerkrankungen von Bauarbeitern und Beschäftigten in Warenhäusern sowie von angelernten Arbeitern verglichen. Eine Aussage über die Häufigkeit bandscheibenbedingter Erkrankungen der LWS in den untersuchten Gruppen und einen diesbezüglichen Vergleich läßt diese Studie nicht zu. Im übrigen erreicht das relative Risiko der Frühberentungen bei den Bauarbeitern im Vergleich zu den Beschäftigten in Warenhäusern mit 2,5 bei einem 95 %igen Konfidenzintervall von 0,96 bis 6,42 streng genommen keine statistische Signifikanz (Bolm-Audorff, Handbuch, S. 7).

37

b)

Schon wegen fehlender Altersstandardisierung und weiterer von Bolm-Audorff (Handbuch, S. 7, 9, 11 f. und 17) genannter Mängel sind die Studien von HAAS (1979), PORTER (1987), BERGENUDD/NILSSON (1988), PREZANT (1987) und CAI (1992) nicht verwertbar. Überdies geben diese Studien - ungeachtet der methodischen Mängel - überwiegend keine Hinweise auf ein mehr als verdoppeltes Erkrankungsrisiko (z.B. HAAS: erhöhtes relatives Risiko von WS-Beschwerden und "Hexenschuß" verschiedener Bauarbeiterberufe im Vergleich zu allen Bauarbeitern zwischen 1,16 und 1,54; PORTER: relatives Risiko der Behandlung wegen LWS-Beschwerden bei Bergleuten um 1,4 erhöht, seltenere Hinweise auf Diskusprolaps bei Bergleuten als bei sonstigen Beschäftigten).

38

Die Studie von KELSEY - 1975 - (Fall-Kontrollstudie bei Patienten mit Diskusprolaps) ist methodisch insbesondere deshalb unbrauchbar, weil es an einer geeigneten Kontrollgruppe fehlt (Bolm-Audorff, Handbuch, S. 15 f.). Schließlich ist die Mitteilung Von STÜRMER (1994) eine vorläufige, die keine definitiven Rückschlüsse zuläßt (ergänzende Stellungnahme des Prof. Dr. Weber, S. 10).

39

c)

Ein großer Teil der verbleibenden Studien ist für die maßgebende Fragestellung nicht beweiskräftig, weil ihnen keine röntgenologischen Befunde, sondern ausschließlich Beschwerdeangaben und Arbeitsunfähigkeitszeiten zugrunde liegen. Denn Beschwerden allein sind, wie bereits ausführlich dargestellt (s. eingangs zu II.), ein ungeeignetes Kriterium für den Nachweis eines erhöhten Risikos bandscheibenbedingter Erkrankungen, ein Gesichtspunkt, der in den zu dieser Gruppe von Studien gehörenden Arbeiten von Frau HULTMANN und HOLMSTRÖM verdeutlicht wird (besondere Bedeutung psychosozialer Faktoren für die Entstehung von Kreuzschmerzen, vgl. die ergänzende Stellungnahme des Prof. Dr. Weber, S. 8). Es handelt sich insoweit um die Studien von PARTRIDGE/DUTHIE (1968), CHAFFIN/PARK, (1971), CUST (1972), FRYMOYER (1980), SVENSSON (1983), OWEN/DAMRON (1984), VIDEMANN (1984), HARBER (1985), DE GAUDEMARES (1986), LLOYD (1986), BARTHOLOMYZIK (1988), BURGMEIER (1988), LUTTMANN (1985 und 1988), ESTRYN-BEHAR (1990), HIKMET (1990), KUMAR (1990), STÖSSEL (1990), UYTTENDAELE (1991), HOLMSTRÖM (1992), SCHÜTTE/LINKE-KAISER (1992), SUADICANI (1994), YANG LEI (1994), HOFMANN (1995) und HULTMANN (1995).

40

Selbst wenn man entgegen der bereits begründeten Auffassung des Senats aus Beschwerdeangaben Rückschlüsse auf die Gruppentypik ziehen will, ergeben sich aus den vorgenannten Studien keine zuverlässigen Indizien für eine erheblich erhöhte Erkrankungshäufigkeit in exponierten Berufsgruppen. Denn sie weisen weder übereinstimmend noch auch nur mehrheitlich ein mehr als doppelt so häufiges Beschwerdebild in den exponierten Berufsgruppen aus. Vielmehr sind 16 dieser Studien statistisch signifikant um den Faktor 2 erhöhte Beschwerden nicht zu entnehmen. So wird in einzelnen Studien für exponierte Berufsgruppen ein weit geringeres Beschwerderisiko genannt, z.B. in der Arbeit von CUST für Krankenschwestern (35 % zu 30 %), von LLOYD für Bergleute (83 % zu 64 %) und von LUTTMANN für Transportarbeiter (relatives Risiko 1,2 für "LWS-Syndrom", Handbuch, S. 6, 9, 11). Mehr als doppelt so häufige Beschwerden belegen nach der Darstellung von Bolm-Audorff die Studien von FRYMOYER, SVENSSON, VIDEMANN (1984), HARBER, DE GAUDEMARES, BURGMEIER, ESTRYN-BEHAR, STÖSSEL, SUADICANI und HOFMANN. Gegen fast alle dieser Studien ergeben sich jedoch gravierende methodische Bedenken:

41

(1)

Die Arbeit von FRYMOYER wird von Prof. Dr. Weber (Gutachten, S. 25) nachvollziehbar als methodisch unbrauchbar gekennzeichnet, da sie nicht verdeutlicht, was belastende Tätigkeiten sind, und nur ein Teil der Probanden den Fragebogen zurückschickte. Überdies wird für "ausgeprägte" LWS-Beschwerden der Patienten mit belastenden Tätigkeiten nur ein relatives Risiko von 1,5 mitgeteilt (Handbuch, S. 16).

42

(2)

Die Studie von HARBER (Vergleich von 550 Krankenschwestern mit 37 Verwaltungsangestellten) ist aus den von Bolm-Audorff (Handbuch, S. 12) mitgeteilten Gründen (extrem kleine Kontrollgruppe, keine Ermittlung zur Lokalisation und Schwere der Beschwerden) unbrauchbar.

43

(3)

Die Studie von SVENSSON (Handbuch, S. 16) hat deshalb keine verläßliche Grundlage, weil die Schwere der Arbeit nur auf der Selbsteinschätzung der Probanden beruht und die Lastgewichte nicht ermittelt wurden.

44

(4)

Die Studie von ESTRYN-BEHAR wird von Bolm-Audorff (Handbuch, S. 14) zwar als Beleg für eine deutliche Dosis-Wirkung-Beziehung zwischen Höhe der beruflichen Belastung und Wirbelsäulenbeschwerden angesehen. Der Senat bezweifelt diese pointierte Einschätzung aber deshalb, weil die Literaturrecherche von Stößel u.a. (a.a.O., 36) das Ergebnis dieser Studie dahingehend zusammenfaßt, daß sich behandlungsbedürftige Rückenbeschwerden häufiger bei älteren Frauen, bei Frauen mit Übergewicht, mit langer Anfahrt zur Arbeit und bei Frauen fanden, die keinen Sport treiben.

45

(5)

Die Aussage von STÖSSEL (Handbuch, S. 13 f.), daß Krankenpflegeschüler im Vergleich zu allen anderen Gruppen am häufigsten - gegenüber kaufmännischen Auszubildenden mehr als doppelt so häufig - über LWS-Beschwerden klagten, ist nicht beweiskräftig. Denn diese Beobachtung läßt sich zwanglos mit einer fehlenden funktionellen Anpassung an die ungewohnte körperliche Belastung erklären. Dies steht im Einklang mit der - auch im Merkblatt zur BK Nr. 2108 erwähnten und wohl unbestrittenen - Auffassung, daß erst schweres Heben und Tragen von mindestens 10jähriger Dauer geeignet ist, die Bandscheiben der LWS zu schädigen (näher dazu unter II. 1. a), es also unwahrscheinlich ist, daß früh auftretende Beschwerden durch mechanisch induzierte Bandscheibenschäden verursacht sind, da deren Entwicklung viele Jahre beansprucht (ergänzende Stellungnahme des Prof. Dr. Weber, S. 10; Ludolph/Schröter, a.a.O., 83). Überdies weisen länger anhaltende Kreuzschmerzepisoden in den ersten Jahren nach Beginn der körperlich belastenden Arbeit auf einen Vorschaden hin (Weber/Krämer, a.a.O., 735). Deshalb ist im übrigen Bolm-Audorffs Schlußfolgerung aus den Studien von LUTTMANN fragwürdig, das Absinken des relativen Risikos für Wirbelsäulenerkrankungen bei 25jährigen Transportarbeitern von ca. 2,0 auf ca. 1,1 bei den 56 bis 65jährigen Transportarbeitern deute auf ausgeprägte Selektionseffekte ("healthy-worker-effect") hin (Handbuch, S. 6). Andererseits stimmt die Beobachtung von LUTTMANN mit der - bereits näher dargestellten (s. unter. II.2.) - aus anderen Studien gewonnenen Erkenntnis überein, daß sich die Prävalenzkurven belasteter und nicht belasteter Personengruppen zum Ende des 6. Lebensjahrzehntes einander annähern.

46

(6)

Die Studie von VIDEMANN (Handbuch, S. 11) begegnet den gleichen Bedenken. Denn hiernach lag der Beschwerdegipfel bei der Gruppe der Krankenhelferinnen, bei der die Prävalenzrate größer war als in der Gruppe der examinierten Krankenschwestern, im Alter zwischen 20 und 24 Jahren. Überdies hatten beide Gruppen für die Vergangenheit fast gleich häufig (79 % zu 85 %) mindestens eine Rückenschmerzepisode (vgl. die Literaturrecherche von Stößel u.a., a.a.O., 110).

47

(7)

SUADICANI (Manuskript, S. 14) berichtet zwar über eine erhöhte Prävalenz für Wirbelsäulenbeschwerden von Stahlarbeitern im Vergleich zu einem nicht belasteten Kollektiv (relatives Risiko 2,4 bis 2,5). Der Wert der Studie wird aber dadurch gemindert, daß nur 40jährige Probanden untersucht worden sind und zu vermuten ist, daß sich die Gruppenunterschiede mit zunehmendem Alter verlieren. Überdies ergibt sich aus der Studie ein Zusammenhang von Rückenbeschwerden mit anderen Belastungen wie Arbeitstempo und Freizeitarbeit (ergänzende Stellungnahme des Prof. Dr. Weber, S. 9).

48

(8)

Aus der Untersuchung von HOFMANN (1995) leitet Bolm-Audorff ab, daß Pflegekräfte mehr als doppelt so häufig unter Lumboischialgien leiden wie Büroangestellte (Manuskript, S. 14 f.). Diese Studie ist aber, wie Prof. Dr. Weber in seiner ergänzenden Stellungnahme (S. 6 f.) ausgeführt hat, wegen der Ungenauigkeit der überprüften Kriterien orthopädisch und wissenschaftlich ohne Relevanz.

49

(9)

In der Studie von DE GAUDEMARES (Handbuch, S. 12) wird ein um den Faktor 2,2 signifikant erhöhtes Risiko für Wirbelsäulenbeschwerden während des letzten Jahres gegenüber der Kontrollgruppe (Verwaltungsangestellte) mitgeteilt. Die Aussagekraft dieser Studie leidet darunter, daß nicht ersichtlich ist, ob frühere Wirbelsäulenbeschwerden oder -erkrankungen bei der Auswertung berücksichtigt wurden.

50

(10)

51

Die Studie von BURGMEIER (Handbuch, S. 12 f.), die das Ergebnis von Vorsorgeuntersuchungen von Krankenhaus- und Verwaltungsbeschäftigten auswertet, teilt für Beschäftigte im Krankentransport und für Pflegehelferinnen eine erhöhte Beschwerdehäufigkeit (mit 3,9 und 3,7) mit. Sie vermag aber am Gesamtbild der Studien, aus denen sich keine erhebliche Erhöhung des Beschwerderisikos ergibt, nichts zu ändern.

52

d)

Auch die verbleibenden epidemiologischen Studien, die zusätzlich auf der unerläßlichen Auswertung röntgenologischer Befunde beruhen, belegen kein erheblich erhöhtes Erkrankungsrisiko exponierter Berufsgruppen im Vergleich zur übrigen Bevölkerung. Sechs dieser Studien ist schon deshalb keine Aussage über eine erhebliche Erhöhung des Erkrankungsrisikos zu entnehmen, weil sie sich auf die Auswertung röntgenologischer Befunde beschränken und keine Zuordnung zu bandscheibenbedingten Erkrankungen der LWS und kein "Häufigkeitsvergleich" der belasteten und nicht belasteten Kollektive vorgenommen wird, nicht einmal ein Vergleich der Beschwerdeangaben. Insoweit handelt es sich um die Arbeiten von SCHRÖTER/SCHLOMKA (1954), LAWRENCE (1955), SCHLOMKA (1955), BILLENKAMP (1972) und YOKE/ANN (1979). Im übrigen wird nur in den Studien von LAWRENCE, SCHLOMKA und BILLENKAMP ein um mindestens den Faktor 2 erhöhtes Auftreten degenerativer Veränderungen der LWS im Röntgenbild mitgeteilt, während andererseits auffällt, daß YOKE/ANN bei einer "Blindbeurteilung" der Röntgenbilder von altersvergleichbaren Hafenarbeitern und Bürobeschäftigten bei den Hafenarbeitern lediglich ein um 1,22 erhöhtes relatives Risiko für röntgenologische Veränderungen der LWS gefunden haben (Handbuch, S. 5). Darüber hinaus sind die Ergebnisse der Studie von SCHLOMKA mangels Altersstandardisierung nicht zu verwerten (Bolm-Audorff, Handbuch, S. 8). Hinsichtlich der Studie von BILLENKAMP schließlich ist nicht allein die von Bolm-Audorff mitgeteilte, um den Faktor 2,4 erhöhte Prävalenz von Spondylosen in der Altersgruppe von 49 bis 58 Jahren bei Bergleuten gegenüber Handwerkern ohne wesentliche Wirbelsäulenbelastungen von Bedeutung. Wichtig ist vielmehr auch, daß sich diese Differenz mit zunehmendem Lebensalter aufhebt und sogar in das Gegenteil verkehrt (Gutachten des Prof. Dr. Weber, S. 27), so daß diese Studie allenfalls als Beleg für die bereits erörterte "Linksverschiebung" degenerativer WS-Veränderungen herangezogen werden kann.

53

Die übrigen - sowohl röntgenologische Befunde als auch Beschwerdeangaben oder Erkrankungen auswertenden - Studien bieten ebenfalls keine Grundlage für die Annahme eines erheblich erhöhten Erkrankungsrisikos exponierter Berufsgruppen.

54

(1)

Die Studie von SAIRANEN (1981), die Waldarbeiter mit Handwerkern und Bürobeschäftigten vergleicht, belegt, daß die bereits erörterte Linksverschiebung (vermehrte röntgenologisch nachweisbare degenerative Wirbelsäulenveränderungen) nicht mit einem entsprechend erhöhten Erkrankungsrisiko einhergeht: Obwohl danach bei Waldarbeitern mehr als doppelt so viele degenerative Wirbelsäulenveränderungen vorlagen, gaben diese nicht wesentlich häufiger als die Angehörigen der nicht belasteten Vergleichsgruppen Beschwerden an (Handbuch, S. 9 f.). Das deckt sich mit dem Hinweis von MACH (1976), daß bei Hafenarbeitern und unbelasteten Personen etwa gleich häufig Rückenschmerzen festgestellt worden seien (Handbuch, S. 5), wobei aber nur im Kontrollkollektiv über Lumbalgien geklagt worden sei (Gutachten des Prof. Dr. Weber, S. 16). Im übrigen bestehen gegen die Studie von MACH die von Prof. Dr. Weber (a.a.O.) im einzelnen aufgezeigten methodischen Bedenken (Ausmaß der WS-Belastung nicht eindeutig ermittelt, inhomogenes Kontrollkollektiv, durchschnittlich nur eine Arbeitszeit von 6,2 Jahren). Ähnlich berichtet die Studie von LAWRENCE (1966) für Gießereiarbeiter zwar über um den Faktor 1,6 erhöhte degenerative Veränderungen der LWS im Röntgenbild. Das mehrheitlich aus unbelasteten Personen zusammengesetzte Kontrollkollektiv klagte aber häufiger über Wirbelsäulenbeschwerden als die Gießereiarbeiter (Handbuch, S. 10).

55

(2)

PANGERT und HARTMANN (1991), die Preßwerker (Arbeiter mit hoher Wirbelsäulenbelastung) mit Reparaturelektrikern verglichen, fanden keine klinischen und röntgenologischen Unterschiede. Die Untersuchung mag zwar im Hinblick auf die Berechnung der kumulativen Gesamtdosis durch schweres Heben und Tragen aus den von Bolm-Audorff genannten Gründen (Handbuch, S. 10 f.) methodisch unzureichend sein (ebenso im Ergebnis Prof. Dr. Weber, Gutachten S. 25), in Beziehung auf das häufigere Auftreten der von der BK Nr. 2108 erfaßten Krankheiten spricht sie aber gegen ein erhöhtes Gruppenrisiko.

56

(3)

Ein mehr als verdoppeltes Erkrankungsrisiko geht auch nicht aus der Studie von NIENHAUS (1992) hervor, die über Patienten einer Orthopädischen Praxis mit klinisch und röntgenologisch gesicherter Osteochondrose oder Spondylose der LWS und Patienten einer Allgemeinarztpraxis sowie einer Orthopädischen Praxis ohne Wirbelsäulenbeschwerden berichtet (Handbuch, S. 17). Im übrigen hat Prof. Dr. Weber (Gutachten S. 27 f.) einleuchtend darauf hingewiesen, daß die Untersuchung methodisch problematisch ist, da fast die Hälfte der Befragten keine Arbeitsanamnese angab, die Angaben zur Wirbelsäulenbelastung ausschließlich von den Patienten stammten, von der Kontrollgruppe keine Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule vorlagen und der Ausschluß einer vorbestehenden Wirbelsäulenerkrankung ebenfalls ausschließlich auf Angaben der Patienten beruhte. Aus der Studie geht - so Prof. Dr. Weber - lediglich hervor, daß für "Wirbelsäulenpatienten" ein erhöhtes Risiko besteht, in einer orthopädischen Praxis behandelt zu werden.

57

(4)

Wie sich aus dem Gutachten des Prof. Dr. Weber (S. 17 f.) ergibt, ist die Arbeit von YOSHIDA (Handbuch, S. 6) methodisch nicht verwertbar, weil sie ohne Ermittlung des Ausmaßes der körperlichen Belastung und der Arbeitsanamnese lediglich verschiedene Berufsgruppen, nicht aber ein (geeignetes) Kontrollkollektiv betrifft und nur den Schluß zuläßt, daß in unterschiedlichen Berufsgruppen Kreuzschmerzen mit zunehmendem Lebensalter häufiger werden und chondrotische und spondylotische Veränderungen häufig sind.

58

(5)

Auch die Studien von Frau RIIHIMÄKI (1985, 1989, 1994) geben keinen Hinweis auf ein mehr als verdoppeltes Erkrankungsrisiko: Frau RIIHIMÄKI berichtet in ihrer ersten Studie über gleich häufige Kreuzschmerzen in beiden Untersuchungskollektiven (Stahlbetonbauer = Schwerarbeiter und Maler). Schwerarbeiter äußerten gleich häufig Kreuzschmerzen und klagten häufiger nur über Ischialgien infolge von Unfällen ("back accidents"), nicht jedoch infolge der Schwerarbeit (Gutachten des Prof. Dr. Weber, S. 18). In ihrer zweiten Studie wird - nach Bolm-Audorff (Handbuch, S. 7) - ein (lediglich) um den Faktor 1,5 bis 1,9 erhöhtes Risiko für röntgenologisch nachgewiesene degenerative Veränderungen der Wirbelsäule für Stahlbetonbauer im Vergleich zur unbelasteten Kontrollgruppe genannt. Die Beschwerden waren jedoch - ohne Mitteilung einer statistischen Signifikanz - nur unwesentlich (bis zum Faktor 1,37) erhöht. Darüber hinaus hat Frau RIIHIMÄKI selbst für die Entwicklung der bei den Schwerarbeitern festgestellten schwergradigen spondylotischen und chondrotischen Veränderungen keine Abhängigkeit von Alter und Beruf gesehen (vgl. das Gutachten des Prof. Dr. Weber, S. 18 f., ausführlich im Originalzitat). Die dritte Arbeit, die unterschiedliche Berufsgruppen untersucht, bestätigt die Ergebnisse der früheren Studien. Vor diesem Hintergrund überzeugt Prof. Dr. Webers Wertung (ergänzende Stellungnahme, S. 6), daß die Untersuchungen von Frau RIIHIMÄKI nicht zum Beweis einer erheblichen Häufung bandscheibenbedingter Erkrankungen der Wirbelsäule in bestimmten Berufsgruppen herangezogen werden können. Eher lassen sie den gegenteiligen Schluß zu.

59

(6)

Bolm-Audorff zufolge (Handbuch, S. 8) sind in der Studie von KELLGREN (1952), die er irrtümlich LAWRENCE und AITKEN-SWAN zuschreibt, bei untertägig tätigen Bergleuten im englischen Steinkohlenbergbau doppelt so viele "bandscheibenbedingte Erkrankungen der Wirbelsäule" (sowie Arthrose der Knie und anderer großer Gelenke) wie in der Kontrollgruppe (Maschinisten und Bürobeschäftigte) festgestellt worden. Schlüsse auf eine Gruppentypik hinsichtlich der BK Nr. 2108 sind indessen schon deshalb nicht erlaubt, weil KELLGREN selbst einen Zusammenhang der vermehrten degenerativen Wirbelsäulenveränderungen auf die Besonderheiten der speziellen untertägigen Minenarbeit und nicht auf die körperliche Schwerarbeit an sich vermutet. Darauf hat, wie schon Frau RIIHIMÄKI, auch Prof. Dr. Weber hingewiesen (näher dazu Gutachten, S. 19, 25 f.). Im übrigen hat die Untersuchung von LOCKSHIN (1969) - bei vermutlich günstigeren ergonomischen Verhältnissen in den amerikanischen Minen - bei Bergleuten (Förderung bituminöser Kohle) und Kontrollgruppen verschiedener Berufe keinen Unterschied in der Häufigkeit klinisch diagnostizierter LWS-Syndrome festgestellt (Handbuch, S. 8 f.).

60

Überraschend ist in diesem Zusammenhang, daß PORTER (1987) in seiner - wenn auch methodisch unzulänglichen - Studie bei Bergleuten seltener Hinweise auf einen Bandscheibenvorfall fand als bei sonstigen Beschäftigten (Handbuch, S. 9).

61

(7)

Auch aus den Studien von HELIÖVAARA (1987), BRAUN (1969), KELSEY (1984 b) und HOFMANN (1995) läßt sich kein wesentlich erhöhtes Risiko für bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS ableiten. Sie befassen sich mit dem Zusammenhang zwischen hoher körperlicher Belastung und der Entstehung von Bandscheibenvorfällen. Dabei ist allgemein zu berücksichtigen, daß Bandscheibenvorfälle nur eine bestimmte Erscheinungsform der bandscheibenbedingten Erkrankungen darstellen und insoweit Häufigkeitsangaben keinen verläßlichen Rückschluß auf ein statistisch erheblich erhöhtes Risiko aller bandscheibenbedingten Erkrankungen zulassen. Außerdem erscheint die Annahme, daß Bandscheibenvorfälle gehäuft aufgrund körperlicher Schwerarbeit auftreten, d.h. durch diese wesentlich verursacht sind, wegen der großen Prävalenz von Bandscheibenvorfällen bei Probanden ohne Wirbelsäulensymptomatik (Gutachten des Prof. Dr. Weber, S. 23) von vornherein nicht zwingend.

62

Bolm-Audorff (Handbuch, S. 8, 10 und 12) leitet zwar aus der Studie von HELIÖVAARA für Bauarbeiter und Waldarbeiter ein um den Faktor 3 erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines Bandscheibenprolapses ab, für Landarbeiter und Landwirte im Vergleich zu Verwaltungsberufen insoweit eine - überdies nicht statistisch signifikante - Erhöhung von 1,8 (Frauen) und von 1,3 (Männer). Für Krankenschwestern war das Risiko ebenfalls erhöht (2,2), jedoch nicht statistisch signifikant. Wie Prof. Dr. Weber (Gutachten, S. 19 f.) mitgeteilt hat, ergibt sich aber aus dieser Studie in Wirklichkeit nur ein erhöhtes Risiko für Schwerarbeiter, wegen Ischias stationär behandelt zu werden. Diese Interpretation stimmt mit der Selbsteinschätzung von HELIÖVAARA überein, seine Studie bestätige nicht die Theorie, daß berufliche Belastungen eine Bandscheibenschädigung bewirkten. Auf diese Mahnung des Autors zur Vorsicht bei der Interpretation seiner Studie weist auch Brinckmann (in: Weber/Valentin, a.a.O., 39, 42) hin und führt in diesem Zusammenhang aus, daß die ermittelten Risikofaktoren durch die unterschiedliche Bereitschaft, sich konservativ oder operativ behandeln zu lassen, beeinflußt sein könnten.

63

Ähnliches gilt für die Studie von BRAUN, nach der für männliche Personen mit übermäßiger körperlicher Belastung der Wirbelsäule ein deutlich erhöhtes Risiko für das Auftreten eines Bandscheibenvorfalls bestehe (Bolm-Audorff, Handbuch, S. 15 und Manuskript, S. 6 f.). Die Studie leidet jedoch an den von Bolm-Audorff aufgezeigten methodischen Mängeln (fragliche Altersstandardisierung der Auswertung und zweifelhafte Zusammensetzung der Kontrollgruppe). So weist auch Brinckmann (a.a.O., 41) darauf hin, daß die Ergebnisse dieser Studie mit Unsicherheiten behaftet seien, die sich aus der Auswahl und Kooperationsbereitschaft der Kontrollkollektive und der wegen Bandscheibenvorfalls behandelten Personen ergeben. Vor allem relativiert BRAUN selbst das von ihm gefundene Ergebnis durch den Hinweis auf das überraschend kleine Risiko bei schwer belasteten Frauen und führt als mögliche Erklärung unbekannte Einflüsse an, die die Wahrscheinlichkeit, wegen eines Bandscheibenvorfalls im Krankenhaus behandelt zu werden, beeinflußt haben könnten (vgl. dazu Brinckmann, a.a.O., 42).

64

Auch die Untersuchung von KELSEY (1984 b), die Bolm-Audorff (Handbuch, S. 16 f.) für ein erheblich erhöhtes Risiko eines lumbalen Bandscheibenvorfalls durch schweres Heben anführt, beweist kein erheblich erhöhtes Risiko für bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS. Insoweit wird auf die Ausführungen von Brinckmann (a.a.O.) und Prof. Dr. Weber (Gutachten, S. 22 f.) Bezug genommen. Danach weisen die Studien erhebliche methodische Mängel auf, weil unter dem Begriff "akuter lumbaler Bandscheibenvorfall" unterschiedliche Stadien der Chondrose mit unterschiedlichen klinischen Symptomen zusammengefaßt werden, in der einen Kontrollgruppe keine radiologischen Befunde der LWS vorliegen und die andere Kontrollgruppe - Kreuzschmerzpatienten mit radiologisch nachgewiesenen Bandscheibenschäden - sich von der Untersuchungsgruppe nur dadurch unterscheidet, daß sie mehr als ein Jahr keine Beschwerden mehr hatte. Vor allem zieht KELSEY selbst keineswegs den Schluß auf ein erheblich erhöhtes Erkrankungsrisiko, wenn er seine Untersuchungen mit der Feststellung abschließt, daß unter den verschiedenen Risikofaktoren die Fahrt mit dem Auto von und zur Arbeit, sitzende Tätigkeiten und frühere Schwangerschaften von erheblicher Bedeutung seien.

65

Die von Bolm-Audorff (Manuskript, S. 15) außerdem mitgeteilte Untersuchung von HOFMANN, wonach das Risiko für einen LWS-Prolaps und eine LWS-Protrusion für Beschäftigte in der Kranken- und Altenpflege erheblich erhöht sei, ist ähnlich wie die vorgenannten Studien zu beurteilen. Insoweit hat Prof. Dr. Weber nachvollziehbar darauf hingewiesen, daß diese Untersuchung, nach der radiologisch und kernspintomographisch untersuchte Beschäftigte in der Krankenpflege bis zu viermal häufiger einen Bandscheibenvorfall aufweisen, wegen der Ungenauigkeit der überprüften Kriterien nicht verwertbar sei (ergänzende gutachtliche Stellungnahme, S. 7 f.): Es sei nicht bekannt, ob die Patienten der Kontrollgruppe vorher Wirbelsäulen-Beschwerden oder eine Wirbelsäulenerkrankung gehabt hätten.

66

(8)

Die Studien, welche die Ergebnisse arbeitsmedizinischer Vorsorgeuntersuchungen in der ehemaligen DDR auswerten, sind methodisch bedenklich und belegen überdies kein erheblich erhöhtes Erkrankungsrisiko. Dabei kann auch offen bleiben, ob und inwieweit ihnen röntgenologische Befunde zugrunde liegen:

67

HÄUBLEIN (1979) hat sich mit den Ergebnissen arbeitsmedizinischer Vorsorgeuntersuchungen von Bauarbeitern befaßt. Wie Prof. Dr. Weber (Gutachten, S. 17) ausgeführt hat, ist seiner Studie jedoch nur zu entnehmen, daß die röntgenologisch feststellbaren Veränderungen, deren Symptomatologie nicht mitgeteilt worden sei, mit der Dauer der körperlichen Belastung zunehmen. Darüber hinaus hat er in Übereinstimmung mit Bolm-Audorff (Handbuch, S. 6 f.) darauf hingewiesen, daß die Studie wegen der inhomogen zusammengesetzten Kontrollgruppe methodischen Bedenken begegnet. Schließlich bleibt - so Bolm-Audorff - unklar, was unter "inkurablen Wirbelsäulenbefunden" zu verstehen ist.

68

Der Studie von HEUCHERT (1989), der die Ergebnisse von 87.000 arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen weiblicher Beschäftigter im Gesundheitswesen verglich, ist ein erhöhtes Risiko für degenerative Wirbelsäulenerkrankungen durch schweres Heben und Tragen nicht zu entnehmen. Vielmehr wird in dieser Studie ein relatives Risiko für degenerative Wirbelsäulenerkrankungen dieser Berufsgruppe im Vergleich zu den Ergebnissen der Vorsorgeuntersuchungen aller weiblichen Beschäftigten zwischen 0,87 und 1,03 mitgeteilt (Handbuch, S. 13).

69

JÜRGENS (1990) leitet in seiner - von Prof. Dr. Weber (Gutachten, S. 25) als methodisch unzureichend bezeichneten - Studie aus arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen lediglich eine um den Faktor 1,3 erhöhte Prävalenz auffälliger Wirbelsäulenbefunde bei Waldarbeitern, Traktoristen und Beschäftigten im Feldbau im Vergleich zur gesamten Erwerbsbevölkerung ab (Handbuch, S. 10).

70

(9)

Bedeutsam sind schließlich die Ergebnisse der epidemiologischen Untersuchungen von HULT (1954 a/b), die nach der Einschätzung des Prof. Dr. Weber zu den zweifellos wichtigsten gehören. Sie beschreiben die röntgenologisch nachgewiesenen Wirbelsäulenveränderungen und Wirbelsäulenbeschwerden von Hafen-, Schlachthaus-, Bau-, Metall- und Waldarbeitern und von unbelasteten Kollektiven. Sie belegen ebenfalls lediglich die bereits erörterte Linksverschiebung von Verschleißerscheinungen der gesamten Wirbelsäule. Ein damit verbundenes mehr als verdoppeltes Risiko einer bandscheibenbedingten Erkrankung beweisen sie jedoch gerade nicht. So gaben z.B. Waldarbeiter im Vergleich zur Kontrollgruppe (Metallarbeiter) bis zu einem Faktor von 1,4 häufiger Beschwerden im Sinne von Lumbago und Ischias an (Bolm-Audorff, Handbuch, S. 4 und 9) und klagten Hafenumschlagsarbeiter und unbelastete Kontrollprobanden (u.a. Bürobeschäftigte und Verkäufer) fast gleich häufig über Wirbelsäulenbeschwerden. Daß ausgeprägte Wirbelsäulenbeschwerden, die zu Arbeitsunfähigkeit oder einem Wechsel des Arbeitsplatzes führten, bei den Hafenarbeitern deutlich häufiger waren, ist, wie bereits dargestellt, ohne Relevanz. Auch bei Bau- und Metallarbeitern lag die größere Häufigkeit von LWS-Beschwerden im Vergleich zur unbelasteten Kontrollgruppe unter dem Faktor 2 (a.a.O., S. 6 und 10).

71

(10)

72

Vor diesem Hintergrund fällt die Studie von BLANKENBURG (1992), aus der sich nach Mitteilung von Bolm-Audorff (Handbuch, S. 10) signifikant häufiger bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS bei Binnenschiffern der Mecklenburger Seen gegenüber Kontrollprobanden (Lehrern) ergeben, auch dann nicht ins Gewicht, wenn das - nicht mitgeteilte - Erkrankungsrisiko erheblich, d.h. um mehr als den Faktor 2 erhöht gewesen sein sollte.

73

Zusammenfassend ergibt sich: Die von Bolm-Audorff referierten epidemiologischen Studien beweisen über die bereits beschriebene befristete Beschleunigung des ohnehin ablaufenden Wirbelsäulenverschleisses ("Linksverschiebung", s. dazu unter II. 2.) hinaus kein gruppentypisch erheblich erhöhtes Risiko für bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS. Vielmehr erscheint die Beurteilung von HULT nach wie vor als zutreffend, angesichts der hohen Verbreitung der Wirbelsäulensymptomatik in allen Gruppen von Beschäftigten und dem mäßigen Unterschied zwischen leichten und schweren Beschäftigungen könne die Schlußfolgerung gezogen werden, daß schwere Arbeit keine wesentliche Ursache für die Veränderungen sei, die diese Symptomatik verursachen (vgl. das ausführliche Zitat im Gutachten des Prof. Dr. Weber, S. 21 f.).

74

III.

Da die BK Nr. 2108 somit nicht von der gesetzlichen Ermächtigung (§ 551 Abs. 1 S. 3 RVO) gedeckt ist, kommt es nicht darauf an, ob die Wirbelsäulenerkrankung des Klägers durch die körperlichen Belastungen verursacht oder mitverursacht worden ist, denen er sein gesamtes Berufsleben als Maurer ausgesetzt war.

75

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

76

Der Senat hat die Revision zugelassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).