Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 19.11.1998, Az.: 10 Sa 1116/98
- siehe dazu Urteil des BAG vom 20.07.2000 - 6 AZR 13/99
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 19.11.1998
- Aktenzeichen
- 10 Sa 1116/98
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1998, 33105
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:1998:1119.10SA1116.98.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Verden - 16.04.1998 - AZ: 2 Ca 253/97
- nachfolgend
- BAG - 20.07.2000 - AZ: 6 AZR 13/99
Fundstelle
- ZTR 1999, 73
In dem Rechtsstreit
hat die 10. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen auf die mündliche Verhandlung vom 19.11.98 durch den Vizepräsidenten des Landesarbeitsgerichts Dudzus und die ehrenamtlichen Richter Schlaugk und Schäfftlein
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Verden (Aller) vom 16. April 1998 - 2 Ca 253/97 - wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die am 30. Mai 1947 geborene Klägerin gehört keiner Gewerkschaft an und wurde seit dem 01. Januar 1980 von der Beklagten im öffentlichen Schlachthof ... zunächst als vollbeschäftigte Tierärztin nach den Vorschriften des Bundesangestelltentarifvertrages und den diesen ergänzenden und ablösenden Tarifverträgen - BAT - beschäftigt.
Wegen der Geburt ihres Kindes oder wegen der in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht von der Beklagten erstmals behaupteten Arbeit der Klägerin an einer Dissertation schlossen die Parteien am 27. April 1984 mit Wirkung ab 01. Mai 1984 einen neuen Arbeitsvertrag, nach welchem sich nunmehr die Tätigkeit der Klägerin nach dem Tarifvertrag über die Regelung der Rechtsverhältnisse der nicht vollbeschäftigten amtlichen Tierärzte und Fleischkontrolleure in öffentlichen Schlachthöfen und in Einfuhruntersuchungsstellen - TV Ang iöS (künftig: TV) - richtete (Bl. 8 d. A.). Zusätzlich sicherte die Beklagte der Klägerin eine Mindestbeschäftigung von 25 Stunden je Woche zu (Bl. 9 d. A.).
Der Wunsch der Klägerin auf schlichte Reduzierung ihrer Arbeitszeit bei Weitergeltung des BAT war zuvor von der Beklagten abgelehnt worden, weil der den Schlachthof betreibende Zweckverband der hierzu notwendigen Einrichtung einer vierten Planstelle einer hauptamtlichen Tierärztin nicht zugestimmt hatte. Ab 01. April 1998 wurde die Klägerin wegen der Privatisierung des in ... betriebenen Schlachthofes aufgrund des Wechsels in der gesetzlichen Zuständigkeit vom Landkreis ... weiterbeschäftigt, wobei sich das Arbeitsverhältnis aufgrund eines zwischen dem Landkreis ... und der Gewerkschaft ... abgeschlossenen Tarifvertrages weiter nach dem TV und nicht nach dem Tarifvertrag für die Angestellten außerhalb öffentlicher Schlachthöfe richten sollte.
In den elf Jahren vom 01. Mai 1984 bis zum September 1995 betrug die regelmäßige durchschnittliche Wochenarbeitszeit der Klägerin weniger als 38,5 Stunden je Woche (140 bis 150 Stunden je Monat). Seit dem Monat Oktober 1995 wurde die Klägerin dagegen regelmäßig durchschnittlich mit mindestens 170,92 Stunden je Monat eingesetzt. U. a. aus diesen tatsächlichen Einsätzen leitete die Klägerin ihren vermeintlichen Anspruch ab, in Wirklichkeit von der Beklagten nach den Vorschriften des BAT angestellt gewesen zu sein. Im Schlachthof ... wurden in den letzten Jahren nur der Direktor und sein Stellvertreter gemäß den Vorschriften des BAT beschäftigt. Die übrigen etwa 16 Tierärztinnen und Tierärzte wurde sämtlich ohne Rücksicht auf die tatsächliche durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit nach dem TV behandelt. Den nach BAT angestellten Tierärztinnen wurden keine Überstunden bezahlt, etwaige Mehrarbeit wurde durch Freizeit ausgeglichen. Den weiteren Tierärztinnen und Tierärzten wurden sämtliche Stunden nach den tariflichen Stundensätzen bezahlt. Dies führte schon auf der Basis von 38,5 Wochenstunden zumindest für jüngere Tierärztinnen und Tierärzte zu Einkommen, die deutlich höher lagen, als es bei Angestellten nach BAT der Fall gewesen wäre. Die Klägerin erzielte ein Durchschnittseinkommen von zuletzt ca. DM 9.500,- pro Monat.
Im September/Oktober 1996 fanden zwischen der Klägerin und der Samtgemeindeamtfrau ... mehrere inhaltlich strittige Gespräche über den Wunsch der Klägerin statt, wieder einen Arbeitsvertrag nach BAT zu erhalten (vgl. Schreiben der Beklagten vom 07. Oktober 1996, Bl. 10 d. A.). Zu Anfang des Jahres 1997 fiel die Planstelle des (der) dritten vollbeschäftigten Tierarztes (Tierärztin) weg, die zuvor jahrelang nicht besetzt worden war.
Wegen des weiteren erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien und seiner Wertung durch das Arbeitsgericht wird auf das bei einem Streitwert von DM 10.050,- ergangene und die Klage abweisende Urteil vom 16. April 1998 Bezug genommen (Bl. 64 bis 73 d. A.). Das Arbeitsgericht hielt dafür, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin nicht unter den Anwendungsbereich des BAT fiel und dass die Klägerin auch keinen Anspruch darauf gehabt habe, mit einer "regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von mindestens 38,5 Stunden bestünde". Auch der Hilfsantrag auf Verpflichtung der Beklagten zum Abschluß eines BAT-Arbeitsvertrages per 01. Oktober 1996 blieb ohne Erfolg.
Gegen dieses ihr am 24. April 1998 zugestellte Urteil legte die Klägerin am 19. Mai 1998 Berufung ein und begründete diese Berufung am 18. Juni 1998.
Die Klägerin vertritt die Ansicht, das Rechtsschutzbedürfnis für die vorliegende Feststellungsklage ergebe sich daraus, dass der Landkreis ... sich an die Vertragslage halten müsse, die im Arbeitsverhältnis der Parteien tatsächlich gegolten habe. Der TV sei durch die tatsächliche Handhabung gegenstandslos geworden, weil er nur bei Beschäftigung mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von weniger als 38,5 Stunden gelten könne. Auch ohne Tarifbindung ihrerseits sei dadurch der BAT anwendbar geworden.
Der Hilfsantrag sei wegen der Zusage der Beklagten, aus dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung mit den beiden nach BAT beschäftigten Tierärzten und nach Treu und Glauben gemäß § 242 BGB begründet.
Die Klägerin und Berufungsklägerin beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Verden (Aller) vom 18.04.1998 - 2 Ca 253/97 - abzuändern und festzustellen, dass zwischen den Parteien bis zum 31. März 1998 ein Arbeitsverhältnis mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden auf der Grundlage des BAT bestanden hat,
hilfsweise,
das genannte Urteil abzuändern und festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet gewesen sei, die Klägerin rückwirkend zum 01. Oktober 1996 als hauptamtlich tätige und beschäftigte Tierärztin nach dem Bundesangestelltentarifvertrag einzustellen.
Die Beklagte und Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil nach Maßgabe ihrer Schriftsätze vom 24. August und 18. November 1998 (Bl. 106 bis 111 und Bl. 140 nebst Anlage Bl. 141 d. A.).
Wegen des weiteren Berufungsvorbringens der Klägerin wird auf ihre Schriftsätze vom 18. Juni, 29. September und 06. November 1998 verwiesen (Bl. 93 bis 99, 125 bis 129 nebst Anlagen Bl. 130 bis 132 und 134 bis 135 d. A.).
Außerdem wird auf die Erklärungen der Parteien zum Protokoll des Berufungsgerichts vom 19. November 1998 Bezug genommen (Bl. 137 bis 138 d. A.).
Gründe
Die Berufung ist nicht begründet.
Das Arbeitsgericht hat den Rechtsstreit zutreffend entschieden. Gemäß § 543 ZPO nimmt das Berufungsgericht auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug und macht sich diese zu eigen. Die Berufung gibt Anlaß zu folgenden ergänzenden Bemerkungen:
I. Zum Hauptantrag
1.
Das Bestehen eines Feststellungsinteresses kann mit dem Arbeitsgericht dahingestellt bleiben, weil die Klage jedenfalls unbegründet ist.
2.
Der BAT wäre selbst bei Tarifbindung der Klägerin gemäß § 3 r) aa BAT nicht anwendbar.
Der im Arbeitsvertrag ausdrücklich als Grundlage des Arbeitsverhältnisses vereinbarte TV konnte gemäß der Protokollerklärung Nr. 1 nicht durch die tatsächliche Beschäftigung als rechtliche Grundlage des Arbeitsverhältnisses abgelöst werden.
Richtig ist lediglich, dass nach § 1 Abs. 1 Satz 1 TV ebenso wie nach § 3 r) aa BAT der TV an sich nur Geltung beanspruchen soll, wenn die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit weniger als die nach § 15 Abs. 1 BAT gültige Arbeitszeit von 38,5 Stunden je Woche beträgt. Diese Beschränkung des Anwendungsbereiches des TV wird durch die ersten Teilsätze der Protokollerklärung Nr. 1 scheinbar noch bekräftigt.
Entscheidend ist aber, dass nach dem letzten Teilsatz der Protokollerklärung Nr. 1 der TV "ohne Rücksicht auf die tatsächliche Dauer ihrer" (der Angestellten) "durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit" anwendbar bleibt. Nach dem Grundsatz der Spezialität geht diese eindeutige Regelung den allgemeinen Regelungen in der Einleitung der Protokollerklärung, im § 1 Abs. 1 Satz 1 TV und insbesondere nach § 3 r) aa BAT vor und verdrängt diese Vorschriften.
Dieses aus dem Wortlaut gewonnene Ergebnis entspricht in aller Regel der beiderseitigen Interessenlage.
Der Arbeitgeber muß die Möglich behalten, auf unterschiedliche Schlachtmengen flexibel reagieren zu können. Nach § 12 TV richtet sich die Arbeitszeit nach dem Arbeitsanfall. Auf den Arbeitsanfall hat der Arbeitgeber hier keinen Einfluß. Der nach dem Gesetz für die Überwachung zuständige öffentliche Arbeitgeber muß sicherstellen, dass die beim Schlachthof durch Dritte verursachte und von diesen allein bestimmte Arbeitsmenge jederzeit und praktisch sofort bewältigt wird. Die bei BAT-Angestellten gegebene Möglichkeit zur Anordnung von Überstunden genügt dem Flexibilisierungsbedürfnis nicht. Dies ergibt sich schon daraus, dass die ebenso mögliche Notwendigkeit zur Anordnung von Kurzarbeit rechtlich und praktisch nicht oder jedenfalls nicht rechtzeitig verwirklicht werden könnte.
Die Angestellten werden durch die Weitergeltung des TV in aller Regel auch nicht benachteiligt. Die Tierärztin kann den dienstplanmäßig vorgesehenen Einsätzen gemäß § 12 TV jederzeit widersprechen, ohne rechtlich irgendwelche Folgen befürchten zu müssen. Die Angestellte kann nach § 9 TV neben der Tätigkeit im Schlachthof jedweder anderen Beschäftigung nachgehen, ohne eine Nebentätigkeitsgenehmigung ihres Arbeitgebers einholen zu müssen. Sie kann eine tierärztliche Praxis betreiben. Für eine derartige Tätigkeit würde eine nach BAT eingestellte Tierärztin eine Genehmigung wohl nicht erhalten. Geht die Arbeitsmenge im Schlachthof dauerhaft zurück, kann der Arbeitgeber nicht wegen dringender betrieblicher Gründe kündigen, sondern muß die verbleibende Arbeit weiterhin gemäß § 12 TV gleichmäßig verteilen.
Die Vergütung pro Zeiteinheit ist bei den nach TV angestellten Tierärztinnen und Tierärzten - jedenfalls bis in mittlere Jahrgänge - deutlich höher als bei Bediensteten nach dem BAT. Will und kann eine Tierärztin oder ein Tierarzt deutlich mehr als durchschnittlich 38,5 Stunden je Woche arbeiten, so erhält sie ein nochmals deutlich erhöhtes Einkommen, welches für eine nach BAT angestellte Tierärztin im Schlachthof ... wegen des dort geübten Abfeierns von Mehrarbeit nicht erreichbar wäre.
Die Tarifvertragsparteien haben also mit der Anordnung der bestehenbleibenden Anwendung des TV in Fällen der vorliegenden Art eine den Interessen beider Seiten dienende Regelung geschaffen, an deren Gültigkeit keine durchgreifenden Zweifel bestehen.
II. Zum Hilfsantrag
Hier gilt ergänzend zu den Ausführungen des Arbeitsgerichts und den obigen Erörterungen folgendes:
1.
Der Klägerin ist von der Beklagten 1996 keine die Beklagte bindende Zusage auf Abschluß eines BAT-Vertrages gemacht worden. Die Samtgemeindeamtfrau ... bereitete unstreitig Personalentscheidungen der Beklagten nur vor, ohne sie treffen zu können.
Außerdem hat die Klägerin die angebliche mündliche Zusage auch nicht in der einer Beweisaufnahme zugänglichen Art substantiiert. Die Klägerin trägt hier nur ihre rechtliche Wertung der Gespräche mit Frau ... vor. Ohne Bedeutung ist der Vortrag, die Klägerin habe anschließend den Direktor ... über die mündliche Zusage informiert. Auch hier konnte die Klägerin nur ihre subjektive Einstellung weitergegeben haben.
Aus dem Schreiben der Beklagten vom 07. Oktober 1996 (Bl. 10 d. A.) folgt ebenfalls kein Anspruch. In diesem Schreiben war der Abschluß eines BAT-Vertrages von der Zustimmung des Landkreises ... abhängig gemacht worden. Diese Zustimmung ist unstreitig nicht erteilt worden.
2.
Die Klägerin kann wegen der Anstellung des Direktors ... und seines Vertreters ... nach den Vorschriften des BAT nicht aus dem Grundsatz der Gleichbehandlung ebenfalls eine Anstellung nach BAT erreichen.
Die Klägerin hat den stellvertretenden Direktor ... lediglich bei dessen Verhinderung vertreten und möglicherweise auch sonst bei seiner Arbeit in der Verwaltung unterstützt. Da sie weder Direktorin, noch Stellvertreterin gewesen ist, kann hier eine Gleichbehandlung nicht erzwungen werden. Die dritte Planstelle für eine hauptamtliche vollbeschäftigte Tierärztin war weggefallen. Es oblag auch allein der Entscheidung der Beklagten, diese Stelle über Jahre unbesetzt zu lassen. Die Klägerin bildete trotz ihrer teilweisen Ausübung von Verwaltungsaufgaben vielmehr eine Gruppe mit den weiteren 16 Tierärztinnen und Tierärzten, deren Arbeitsverhältnisse sich ebenfalls nach dem TV richten.
3.
Für einen Verstoß gegen Treu und Glauben fehlt jeder Anhaltspunkt. Aus der Beschäftigung der Klägerin nach den Vorschriften des BAT bis zum April 1984 kann nicht daraus geschlossen werden, dass die Beklagte die Klägerin auch danach nur nach dem BAT hätte beschäftigen dürfen. Die Beklagte lehnte die für die Zeit ab 01. Mai 1984 von der Klägerin gewünschte Reduzierung der Arbeitszeit innerhalb eines BAT-Vertrages ab. Die Klägerin schloß 1984 daher den von ihr erst seit 1996 bekämpften Arbeitsvertrag nach dem TV. Die Klägerin wurde von 1984 bis 1995 auch mehr als elf Jahre unstreitig mit weniger als der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit tätig.
III.
Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens gemäß § 97 ZPO zu tragen, weil ihr Rechtsmittel ohne Erfolg geblieben ist.
Die Zulassung der Revision beruht auf § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.
Es ist von grundsätzlicher Bedeutung, ob öffentliche Arbeitgeber Angestellte gegen deren Willen auch an der Geltung des TV festhalten können, wenn sie diese längerfristig regelmäßig sogar mit mehr als durchschnittlich 38,5 Wochenstunden beschäftigt haben.