Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 13.03.1998, Az.: 16 Sa 1535/97
100 % ige Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall; Deklaratorische oder konstitutive Regelung im Tarifvertrag
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 13.03.1998
- Aktenzeichen
- 16 Sa 1535/97
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1998, 15979
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:1998:0313.16SA1535.97.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Lüneburg - 20.06.1997 - AZ: 1 Ca 1032/97
Rechtsgrundlage
- § 10 Nr. 2 MTV für das Kfz-Handwerk, -Handel und -Gewerbe
In dem Rechtsstreit
hat die 16. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 13.03.98
durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht ... und
die ehrenamtlichen Richter
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Lüneburg vom 20.06.1997, AZ 1 Ca 1032/97, abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 905,81 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit dem 03.02.1997 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt mit der Klage Zahlung einer 100 %igen Lohnfortzahlung.
Der am 14.03.1956 geborene Kläger ist bei der Beklagten seit dem 05.04.1983 als Kfz-Meister zu einer Bruttovergütung von zuletzt 4.900,00 DM beschäftigt. Grundlage der arbeitsvertraglichen Beziehungen ist der Arbeitsvertrag vom 30.09.1983, in dem die Parteien u. a. vereinbart haben, daß für das Arbeitsverhältnis die für das Kraftfahrzeughandwerk jeweils gültigen Bestimmungen, insbesondere der Rahmen- bzw. Manteltarifvertrag Anwendung findet. Wegen der Regelungen des Arbeitsvertrages im übrigen wird auf diesen (Bl. 7/8 d.A.) verwiesen.
In den Monaten Oktober und November 1996 zahlte die Beklagte an den Kläger Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle lediglich auf der Basis von 80 % der regelmäßigen Bruttoarbeitsvergütung. Insoweit hat die Beklagte für den Monat Oktober 1.996.256,22 DM und für den Monat November 1.996.649,59 DM von dem regelmäßigen Arbeitsentgelt einbehalten. Wegen der Abrechnungen von Oktober und November 1996 wird auf diese (Bl. 9/10 d.A.) verwiesen.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, der Tarifvertrag sehe eine 100 %ige Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle vor. Diese Regelung stelle eine eigenständige Regelung dar, so daß der Anspruch des Klägers durch die Neuregelung des Entgeltfortzahlungsgesetzes nicht berührt werde.
Darüber hinaus sei aus der Vereinbarung der Tarifvertragsparteien vom 21.02.1997 ersichtlich, daß weiterhin die Entgeltfortzahlung mit 100 % der Arbeitsvergütung festgeschrieben worden sei.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 905,81 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit dem 03.02.1997 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, der Tarifvertrag regele nicht selbständig die Höhe der Entgeltfortzahlung, so daß das Gesetz zumindest bezüglich der Höhe auf das Arbeitsverhältnis Anwendung finde.
Durch Urteil vom 20.06.1997 hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen, die Kosten des Rechtsstreits dem Kläger auferlegt und den Streitwert auf 905,81 DM festgesetzt. Wegen der Begründung des erstinstanzlichen Urteils wird auf diese (Bl. 46 bis 49 d.A.) verwiesen.
Das erstinstanzliche Urteil wurde dem Kläger am 17.07.1997 zugestellt. Hiergegen legte dieser am 15.08.1997 Berufung ein und begründete diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis 17.11.1997 am 17.11.1997.
Zur Begründung der Berufung trägt der Kläger vor, daß die tarifliche Regelung konstitutiv sei, da nicht nur auf das Gesetz verwiesen werde. Der Tarifvertrag enthalte normalerweise zwingende Vorschriften, so daß davon auszugehen sei, daß die Tarifvertragsparteien eine eigenständige Anspruchsgrundlage für die Zahlung schaffen wollten. Vorliegend sei eine Beschränkung des Normsetzungswillen der Tarifvertragsparteien nicht zu erkennen. Dieser ergebe sich zudem aus dem Text selbst. Abweichend vom Gesetz werde die Berechnung des Entgeltes festgelegt wie auch die Höhe.
Entsprechendes ergebe sich auch aus dem Neuabschluß des Tarifvertrages vom 21.02.1997. Dieser schreibe die 100 %ige Entgeltfortzahlung vor.
Sollte das Gericht nur von einer deklaratorischen Regelung der Tarifvertragsparteien ausgehen, so beinhalte diese jedoch keine dynamische Verweisung, so daß die bisherigen Vorschriften, die bei Abschluß des Tarifvertrages bestanden hätten, weiter gelten würden, so daß auch eine 100 %ige Entgeltfortzahlung zu erfolgen haben.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Lüneburg vom 20.06.1997, AZ 1 Ca 1032/97, abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 905,81 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit dem 03.02.1997 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil nach Maßgabe ihres Schriftsatzes vom 19.12.1997. Hierauf wird verwiesen (Bl. 86 bis 92 d.A.).
Gründe
Die Berufung des Klägers ist statthaft. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Der Beschwerdegegenstand in dieser Vermögensrechtlichen Streitigkeit übersteigt 800,00 DM. Die Berufung ist damit insgesamt zulässig (§§ 64, 66 ArbGG, 518, 519 ZPO).
Die Berufung des Klägers ist auch begründet. Dem Kläger steht aufgrund des Arbeitsvertrages in Verbindung mit dem Manteltarifvertrag für das Kfz-Handwerk, -Handel und -Gewerbe Niedersachsen vom 20.07.1993 (MTV) eine 100 %ige Entgeltfortzahlung zu. Die Anspruchsgrundlage aus dem anzuwendenden Tarifvertrag ergibt sich aus§ 10 Nr. 2 MTV, der wie folgt lautet:
"Für Angestellte berechnet sich die Gehaltsfortzahlung wie folgt:
- a)
Berechnungsgrundlage ist das durchschnittliche Monatseinkommen der letzten drei Monate
- b)
Dem Angestellten ist unter den gesetzlichen Voraussetzungen während der Krankheit, während einer von einem Träger der Sozialversicherung, einer Verwaltungsbehörde der Kriegsopferversorgung oder einem sonstigen Sozialleistungsträger ärztlichen verordneten Kur- oder Heilverfahren - einschließlich der Schonungszeiten - das Monatseinkommen bis zur Dauer von sechs Wochen weiterzuzahlen.
- c)
Bei Angestellten, die neben einem Fixum Provision beziehen, gilt folgende Regelung:
- d)
Entgelt besteht aus dem Fixum - ohne einen im Fixum etwa enthaltenen Anteil für Spesen sowie für sonstige infolge der Krankheit ersparte Aufwendungen - und der Provision sowie der ständigen Verkaufsprämie. Die letzteren werden ermittelt, indem für jeden Werktag ein 1/300 der während der letzten zwölf Monate gezahlten Provisionssumme und der ständigen Verkaufsprämie eingesetzt wird. Bei kürzerer Beschäftigungsdauer ist ein entsprechender Durchschnittssatz aus der seit Beginn der Tätigkeit gezahlten Provisionssumme und der ständigen Verkaufsprämie zu bilden.
Die Regelung des § 10 Nr. 2 stellt eine eigenständige Regelung und damit eigenständige Anspruchsgrundlage für den Anspruch des Klägers dar.
Das Bundesarbeitsgericht hat zu den Fällen, ob die in einem Tarifvertrag geregelte Kündigungsfrist konstitutiv ist oder nur deklaratorischen Charakter hat, ausgeführt, daß eine eigenständige tarifliche Regelung regelmäßig anzunehmen ist, wenn die Tarifvertragsparteien eine im Gesetz nicht oder anders enthaltene Regelung treffen oder eine gesetzliche Regelung übernehmen, die sonst nicht für die betroffenen Arbeitsverhältnisse gelten würde. Für einen rein deklaratorischen Charakter der Übernahme spreche hingegen, wenn einschlägige gesetzliche Vorschriften wörtlich oder inhaltlich unverändert übernommen werden. In einem derartigen Fall sei bei Fehlen gegenteiliger Anhaltspunkte davon auszugehen, daß es den Tarifvertragsparteien bei der Übernahme des Gesetzestextes darum gegangen sei, im Tarifvertrag eine unvollständige Darstellung der Rechtslage zu vermeiden. Sie hätten dann die unveränderte gesetzliche Regelung im Interesse der Klarheit und Übersichtlichkeit deklaratorisch in den Tarifvertrag aufgenommen, um die an den Tarifvertrag gebundenen Arbeitsvertragsparteien möglichst umfassend über die zu beachtenden Rechtsvorschriften zu unterrichten (so Urteil des BAG vom 05.10.1995 in BB 96, 220 [BAG 05.10.1995 - 2 AZR 1028/94], vgl. auch Urteil des BAG vom 28.01.1988 in AP Nr. 24 zu§ 622 BGB sowie Urteil des BAG vom 14.02.1996 in EzA Nr. 54 zu § 622 n.F. m.w.N.).
Vorliegend ist, wie sich aus dem oben zitierten Text des Tarifvertrages ergibt, weder der Gesetzestext des Lohnfortzahlungsgesetzes noch des zum Zeitpunkt des Abschlusses des Tarifvertrages geltenden § 616 BGB übernommen, noch entspricht der Text des Tarifvertrages den Regelungen des Entgeltfortzahlungsgesetzes in den unterschiedlichen Fassungen.
Die Tarifvertragsparteien haben vielmehr in der genannten Vorschrift eigenständig formuliert und eine von der Regelung des Gesetzes erheblich abweichende Formulierung verwandt.
In diesen Fällen ist jedoch stets davon auszugehen, daß die Tarifvertragsparteien eine eigenständige Regelung wollten. Diese Tarifregelung sollte vom Bestand und Inhalt der gesetzlichen Regelung grundsätzlich unabhängig sein.
Allein die Tatsache, daß die Tarifvertragsparteien eine Regelung der Entgeltfortzahlung in den Tarifvertrag aufnehmen und diese eigenständig und in Abweichung von der gesetzlichen Regelung formulieren, belegt den Regelungswillen der Tarifvertragsparteien, ohne daß dieser erneut gesondert dokumentiert werden muß. Es ist regelmäßig davon auszugehen, daß die Tarifvertragsparteien mit ihren Formulierungen des Tarifvertrages auch entsprechendes Tarif recht setzen wollen, wie es ihnen über die Koalitionsfreiheit des Artikel 9 GG zugestanden ist. Es ist deshalb regelmäßig nicht davon auszugehen, daß ein Verweis auf gesetzliche Vorschriften erfolgt, vielmehr im Gegenteil davon, daß entsprechend den Besonderheiten der zu regelnden Sparte eigenständige Regelungen erfolgen, die verbindlich für die dem Tarifvertrag unterliegenden Arbeitsvertragsparteien gelten sollen. Nur ausnahmsweise dann, wenn ein ausdrücklicher Verweis auf die gesetzlichen Regelungen erfolgt, kann davon ausgegangen werden, daß die dort vorhandenen Regelungen die Arbeitsverhältnisse bestimmen sollen, weil diese nach ihrer Ansicht bereits die Besonderheiten der entsprechenden Sparte berücksichtigen. Nur in diesen Fällen kann davon ausgegangen werden, daß die Regelung des Tarifvertrages nicht eigenständig ist und nur einen Hinweis an die Arbeitsvertragsparteien bedeutet, daß eine eigenständige Regelung nicht erforderlich ist und damit ergänzend das Gesetz gilt.
Die Eigenständigkeit der Regelung ergibt sich daraus, daß § 10 Nr. 2 b einerseits eine selbständige Anspruchsgrundlage formuliert und hierbei regelt, daß das Monatseinkommen weiterzuzahlen ist. Die Berechnungsgrundlage für das durchschnittliche Monatseinkommen ergibt sich aus § 10 Nr. 2 a und c, wonach sich jeweils das volle Monatseinkommen als Berechnungsgrundlage bzw. ein Durchschnitt der vollen Vergütung ergibt. Wenn sodann § 10 Nr. 2 b regelt, daß das Monatseinkommen weiterzuzahlen ist, so kann sich dieses nur auf die zuvor bestimmte Regelung des Monatseinkommens beziehen, die das 100 %ige Entgelt betrifft. § 10 Nr. 2 formuliert die Anspruchsgrundlage vollkommen eigenständig. Während§ 616 BGB in der ursprünglichen Fassung wie auch das Entgeltfortzahlungsgesetz in der ursprünglichen Fassung in zwei Paragraphen Grund und Höhe des Anspruches geregelt haben, so wird in§ 10 Nr. 2 b eigenständig in einem einzelnen Satz die Anspruchsgrundlage formuliert. Diese weicht nicht unerheblich von den gesetzlichen Regelungen ab, zudem wird das Monatseinkommen zuvor ausdrücklich definiert.
Zwar können Bedenken bei einer entsprechenden Auslegung bestehen, da § 10 MTV insgesamt vom Aufbau her nicht sorgfältig gefaßt ist. So wird in § 10 Nr. 1 für gewerbliche Arbeitnehmer keine eigenständige Anspruchsgrundlage formuliert, vielmehr nur eine Berechnungsgrundlage. § 10 Nr. 2 MTV hat als Überschrift ebenfalls die Berechnungsgrundlage, formuliert aber in § 10 Nr. 2 b eine eigenständige Anspruchsgrundlage, während die Berechnung in den Buchstaben a und c, also um den Buchstaben b herum, geregelt wird.
Entscheidend ist aber letzten Endes die Formulierung des Tarifvertrages, wie er sich als Regelung letztlich darstellt. Es ist davon auszugehen, daß zumindest bei den Angestellten die Tarifvertragsparteien selbständig eine Anspruchsgrundlage formulieren wollten, da sonst die Vorschrift des § 10 Nr. 2 b vollständigüberflüssig gewesen wäre. Da auch insoweit kein Verweis auf die Entgeltzahlung nach dem Gesetz oder auch die Höhe der Vergütung nach dem Gesetz vorhanden ist, ist insoweit davon auszugehen, daß die Tarifvertragsparteien der Vorschrift einen Regelungsinhalt geben wollten. Ob insoweit auch die gewerblichen Arbeitnehmer gemäß § 10 Ziffer 1 entsprechend den Regelungen für Angestellte aus dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung einen entsprechenden Anspruch haben, kann die Kammer letztlich dahingestellt bleiben lassen. Wenn die Tarifvertragsparteien insoweit auch die Höhe des Monatseinkommens anders als das Gesetz bestimmen, so ist erst recht von einer eigenständigen Regelung auszugehen, da die Tarifvertragsparteien regelmäßig, speziell bezogen auf die Sparte einen Ausgleich zwischen den Interessen der Arbeitnehmer- wie der Arbeitgeberseite herstellen wollen. Wird anders als im Entgeltfortzahlungsgesetz von einer Durchschnittsvergütung ausgegangen und sodann auf dieser Grundlage eine Anspruchsgrundlage formuliert, so würde das Gericht bei einer anderen Auslegung dieses Tarifvertrages einen Eingriff in diesen ausgehandelten Ausgleich vornehmen, was dem Gericht nicht zusteht. Es ist vielmehr Sache der Tarifvertragsparteien, im einzelnen zu regeln, von welcher Höhe der Entgeltfortzahlung ausgegangen werden soll oder ob lediglich ein Verweis auf das Gesetz erfolgt.
Aus dem neu abgeschlossenen Tarifvertrag, der eine 100 %ige Entgeltfortzahlung vorsieht, kann kein Rückschluß auf die vorherige Regelung gezogen werden. Dieses bereits deshalb nicht, weil der Tarifvertrag vom 20.07.1993 nicht vorhersehen konnte, daß ab dem 01.10.1996 eine gesetzliche Absenkung der Entgeltfortzahlung erfolgen sollte. Diese gesetzliche Regelung machte es erforderlich, bei dem Streit der Tarifvertragsparteienüber die Höhe der Entgeltfortzahlung nach dem Tarifvertrag, eine klare Regelung zu treffen. Da die Tarifvertragsparteien insoweit unterschiedlicher Auffassung über die bisherige Regelung waren, ist ein Schluß nicht berechtigt, daß die Neuregelung des Tarifvertrages ein Indiz dafür sei, daß bisher keine 100 %ige Entgeltfortzahlung geregelt war.
Nach alledem war auf die Berufung des Klägers das erstinstanzliche Urteil abzuändern und die Beklagte antragsgemäß zu verurteilen.
Die Entscheidung über die Zinsen ergibt sich aus§ 288 BGB.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91, 97 ZPO i.V.m. § 64 Abs. 6 ArbGG.
Die Zulassung der Revision erfolgt gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.