Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 11.11.1998, Az.: 6 Sa 2188/97

Verpflichtung zur vorzeitigen Beendigung gewährten Sonderurlaubs zur anschließenden Erziehungsurlaubsgewährung; Allgemeine Fürsorgepflicht des Arbeitgebers; Wahrung billigen Ermessens

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
11.11.1998
Aktenzeichen
6 Sa 2188/97
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1998, 16986
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:1998:1111.6SA2188.97.0A

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Braunschweig - 15.11.1994 - AZ: 1 Ca 347/94
LAG Niedersachsen - 19.12.1995 - AZ: 6 Sa 4/95

Fundstelle

  • ZTR 1999, 179

In dem Rechtsstreit
hat die 6. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 11. November 1998
durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht ... und
die ehrenamtlichen Richter
für Recht erkannt:

Tenor:

Unter Zurückweisung der Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 15.11.1994 - 1 Ca 347/94 - im übrigen wird festgestellt, daß die Klägerin in der Zeit vom 28.03.1994 bis 23.07.1995 Erziehungsurlaub hatte.

Die Kosten der Revision hat die Beklagte voll, von den übrigen Kosten des Rechtsstreits 9/10 zu tragen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten darüber, ob der Klägerin nach Ablauf der nachgeburtlichen Schutzfrist bis zum Ablauf des mit der Beklagten vereinbarten Sonderurlaubs oder erst im Anschluß an den Sonderurlaub Erziehungsurlaub zugestanden hat.

2

Die 1959 geborene Klägerin war seit dem 13.12.1978 bei der Beklagten als Verwaltungsangestellte beschäftigt. Nach dem Arbeitsvertrag der Parteien richtete sich das Arbeitsverhältnis nach dem BAT und den diesen ergänzenden, ändernden und ersetzenden Tarifverträgen.

3

Die Klägerin hatte nach der Geburt ihres ersten Kindes vom 22.03.1991 bis zum 23.07.1992 Erziehungsurlaub. Die Parteien vereinbarten in einem schriftlichen Zusatzvertrag vom 02.06.1992 einen Sonderurlaub der Klägerin für die anschließenden 3 Jahre, nämlich für die Zeit vom 24.07.1992 bis zum 23.07.1995. Nach den §§ 1 und 2 dieses Zusatzvertrags verzichteten die Parteien auf die geschuldete Arbeitsleistung und die Zahlung von Vergütung. Nach § 3 des Zusatzvertrags wurde die Zeit der Beurlaubung nicht auf die Beschäftigungs- und Dienstzeit angerechnet. In § 7 des Zusatzvertrags wurde eine vorzeitige Beendigung der Beurlaubung ausgeschlossen.

4

Am 31.01.1994 gebar die Klägerin ihr zweites Kind. Die Stadt ... bewilligte ihr durch Bescheid vom 04.05.1994 für die Zeit vom 31.01.1994 bis 31.01.1995 Erziehungsgeld. Die Klägerin beantragte bei der Beklagten Erziehungsurlaub für die Zeit vom 01.02.1994 bis zum 31.01.1997. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 19.05.1994 mit der Begründung ab, die Klägerin sei ohnehin bis zum 23.07.1995 beurlaubt. Daran anschließend gewährte die Beklagte der Klägerin bis zum 31.01.1997 Erziehungsurlaub.

5

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Beklagte sei gehalten, ihr entsprechend der Empfehlung im Gemeinsamen Runderlaß der Niedersächsischen Minister des Innern und der Finanzen vom 13.04.1994 (NdsMBl. 1994, Seite 554) anstelle des Sonderurlaubs Erziehungsurlaub zu gewähren, weil ihr der Sonderurlaub zum Zweck der Betreuung des ersten Kindes gewährt worden sei. Anderenfalls laufe ihr Anspruch auf Erziehungsurlaub für das zweite Kind ins Leere.

6

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 01.02.1994 bis 31.01.1997 Erziehungsurlaub zu gewähren und diesen Erziehungsurlaub als Dienst-/Beschäftigungszeit anzuerkennen.

7

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

8

Das Arbeitsgericht hat durch Urteil vom 15.11.1994 der Klage stattgegeben.

9

Im Berufungsverfahren hat die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 15.11.1994 - 1 Ca 347/94 - abzuändern und die Klage abzuweisen.

10

Die Klägerin hat beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

hilfsweise festzustellen, daß die Klägerin in der Zeit vom 23.03.1994 bis 23.07.1995 Erziehungsurlaub hatte.

11

Das Landesarbeitsgericht hat durch Urteil vom 19.12.1995 unter teilweiser Abänderung des erstinstanzlichen Urteils und unter Zurückweisung der Berufung im übrigen festgestellt, daß die Klägerin in der Zeit vom 28.03.1994 bis 23.07.1995 Erziehungsurlaub hatte und die Kosten zu 1/10 der Klägerin und zu 9/10 der Beklagten auferlegt.

12

Auf die Revision der Beklagten hat das Bundesarbeitsgericht durch Urteil vom 16.07.1997 das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen aufgehoben, soweit festgestellt worden ist, daß die Klägerin in der Zeit vom 28.03.1994 bis zum 23.07.1994 Erziehungsurlaub hatte, und soweit über diesen Teil der Kosten des Rechtsstreits entschieden worden ist. Im Umfang der Aufhebung hat das Bundesarbeitsgericht den Rechtsstreit an das Landesarbeitsgericht zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, zurückverwiesen.

13

Im Berufungsverfahren macht die Beklagte geltend, im Falle ihrer Einwilligung in die vorzeitige Beendigung des Sonderurlaubs ergäben sich vielfältige Rechtsfolgen wie die Anrechnung der Zeit des Erziehungsurlaubs als Beschäftigungszeit und damit als Dienstzeit, daraus folgend Auswirkungen auf die Dauer der Krankenbezüge gemäß § 71 Abs. 2 BAT, Auswirkungen auf die Kündigungsfristen und den Eintritt der Unkündbarkeit gemäß § 53 BAT und zuvorderst ein Anspruch auf Zuwendung nach dem Tarifvertrag über eine Zuwendung für Angestellte vom 12.10.1973 bei Inanspruchnahme des Erziehungsurlaubs bis zur Vollendung des 12. Lebensmonats des Kindes. Ferner bestehe bei Arbeitsaufnahme in unmittelbarem Anschluß an einen Erziehungsurlaub im selben Kalenderjahr ein Anspruch auf Urlaubsgeld und schließlich ein Anspruch auf Sterbegeld im Todesfall während des Erziehungsurlaubs.

14

Die Beklagte macht ferner geltend, sie stelle in der Regel Vertretungskräfte für die Arbeitnehmerinnen ein, denen sie Sonderurlaub gewährt, so auch im Falle der Klägerin.

15

Der Austausch des Beurlaubungsgrundes diene dazu, der Klägerin den Anspruch auf anteilige Zuwendung zu verschaffen, ohne daß der Anlaß für die Gewährung des Sonderurlaubs - die Betreuung ihres ersten Kindes - entfallen ist.

16

Nach allem sei die Beklagte nicht verpflichtet, einer Umwandlung des Sonderurlaubs in Erziehungsurlaub zuzustimmen, die ihr allein zusätzliche Kosten in Höhe von 10/12 einer Monatsvergütung verursacht und darüber hinaus weitere Rechtsfolgen.

17

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 15.11.1994 - 1 Ca 347/94 - abzuändern und die Klage im übrigen abzuweisen.

18

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

19

Sie behauptet, sie habe ihr Arbeitsverhältnis zum Ende des Erziehungsurlaubs kündigen müssen und sei seitdem arbeitslos, weil die von ihr begehrte Halbtagsstelle bei der Beklagten nicht zustande gekommen sei.

20

Wegen der weiteren Einzelheiten des zweitinstanzlichen Vorbringens der Parteien wird auf ihre in dieser Instanz gewechselten Schriftsätze ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

21

I.

Die Berufung gegen das Urteil des Arbeitsgerichts - soweit sie nach dem Urteil des Landesarbeitsgerichts vom 19.12.1995 keinen Erfolg hatte - ist nicht begründet und war insoweit zurückzuweisen.

22

Denn die Feststellungsklage ist zulässig und begründet.

23

1.

Die Zulässigkeit der Feststellungsklage gemäß § 256 ZPO ist nicht dadurch entfallen, daß die Klägerin ihr Arbeitsverhältnis zum 31.01.1997 gekündigt hat. Denn auch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses klärt die Feststellungsklage den bereits geltend gemachten Anspruch der Klägerin auf tarifliche Zuwendung, wie dies die Beklagte zutreffend erkannt hat, so daß sich für die begehrte Feststellung Rechtsfolgen zumindest für die Gegenwart ergeben. Die Klägerin war auch nicht gehalten, von der Feststellungsklage zur bezifferten Leistungsklage überzugehen (BAG Urteile vom 18.03.1997 - 9 AZR 84/96 - AP Nr. 8 zu § 17 BErzGG und vom 21.09.1993 - 9 AZR 580/90 - AP Nr. 22 zu § 256 ZPO 1977).

24

2.

Die Feststellungsklage ist auch begründet. Die Beklagte war nach § 242 BGB (Grundsatz von Treu und Glauben) unter dem Gesichtspunkt der Fürsorgepflicht gehalten, in die vorzeitige Beendigung des Sonderurlaubs einzuwilligen. Ihre Fürsorgepflicht bestand auch während des Sonderurlaubs fort. Ihre gegenteilige Entscheidung entspricht nicht billigem Ermessen.

25

Der Arbeitgeber hat im Rahmen seiner allgemeinen Fürsorgepflicht auf das Wohl und die berechtigten Interessen des Arbeitnehmers Bedacht zu nehmen. Die Fürsorgepflicht findet da ihre Grenze, wo berechtigte eigene Interessen des Arbeitgebers oder betriebliche Notwendigkeiten den Interessen des Arbeitnehmers entgegenstehen. Soweit die Erfüllung der Fürsorgepflicht finanziellen Aufwand erfordert, ist sie dem Arbeitgeber nur in möglichst kostensparender Form zumutbar (BAG Urteil vom 27.11.1985 - 5 AZR 101/84 - und vom 15.01.1986 - 5 AZR 70/84 - AP Nrn. 93 und 96 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht, Urteil vom 18.12.1972 - 5 AZR 317/72 - AP Nr. 81 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht).

26

Vorliegend hat die Beklagte ihre ablehnende Entscheidung auch auf die Erwägungen gestützt, die Beschäftigungszeit habe Auswirkungen auf die Dauer der Krankenbezüge gemäß § 71 Abs. 2 BAT, bei Arbeitsaufnahme in unmittelbarem Anschluß an einen Erziehungsurlaub entstehe ein Anspruch auf Urlaubsgeld im Gegensatz zur Arbeitsaufnahme nach einem Sonderurlaub, und eine Erziehungsurlauberin könne bei Ablauf des Erziehungsurlaubs, aber vor Ablauf eines Sonderurlaubs die Weiterbeschäftigung verlangen, so daß der Fall eintreten könne, daß die Mutter nach Beendigung des Erziehungsurlaubs beschäftigt werden müsse neben einer für die Dauer des Sonderurlaubs befristet eingestellten Vertretungskraft. Diese Gründe treffen auf das Arbeitsverhältnis der Parteien insgesamt nicht zu, denn die Klägerin hatte vor Antritt des Sonderurlaubs bereits gemäß § 71 Abs. 2 BAT die höchstmögliche Dauer zum Bezug von Krankenbezügen erreicht, die Beklagte gewährte ihr nach dem 23.07.1995 Erziehungsurlaub, so daß ein Anspruch auf Urlaubsgeld bei unmittelbarer Arbeitsaufnahme im Anschluß an den Erziehungsurlaub ohnedies entstanden wäre, und schließlich war der Antrag der Klägerin auf Erziehungsurlaub über das Ende des Sonderurlaubs hinaus beantragt. Diese Erwägungen der Beklagten erweisen sich als sachfremd, weil sie im Arbeitsverhältnis der Parteien keinerlei Bedeutung erlangen konnten.

27

Zutreffend sind die Erwägungen der Beklagten, daß ihre Einwilligung in die Beendigung des Sonderurlaubs zu wirtschaftlichen Belastungen geführt hätten, nämlich der anteiligen Zuwendung von 10/12 und den mit der Anrechnung der Beschäftigungszeit verbundenen Aufwendungen bzw. alternativ dem möglichen Anspruch auf tarifliches Sterbegeld. Dieses wirtschaftliche Interesse durfte die Beklagte bei einer von ihr zu treffenden ermessensfehlerfreien Entscheidung nicht den Ausschlag geben lassen. Die Rechtsprechung erkennt nämlich an, daß eine lange Beschäftigungszeit zu einer Steigerung der Fürsorgepflicht führt, die um so mehr an Gewicht gewinnt, je länger das Arbeitsverhältnis gedauert hat (BVerfGE 11, 105, 116 und Beschluß vom 23.01.1990 - 1 BvL 44/86 - 1 BvL 48/87 - BVerfGE 81, 156, 196). In diesem Zusammenhang durfte die Beklagte auch nicht die Empfehlung des Landes an die Gemeinden (Runderlaß des MI und des MF vom 13.04.1994 - Nds. MBl. Seite 554) völlig unberücksichtigt lassen, Arbeitnehmern, die ohne Bezüge beurlaubt sind, auf Antrag Sonderurlaub aufzuheben für die Dauer des beantragten Erziehungsurlaubs.

28

Tatsächlich hat die Beklagte - wie sich aus ihrem vorgerichtlichen Schreiben vom 19.05.1994 ergibt - keine Ermessensentscheidung getroffen, weil sie davon ausgegangen ist, daß eine Befreiung von der Arbeitspflicht aus anderen Gründen nochmals durch Erziehungsurlaub nicht erfolgen kann.

29

Die Wahrung billigen Ermessens setzt voraus, daß die wesentlichen Umstände des Falls abgewogen und die beiderseitigen Interessen nach den verfassungs- und einfachgesetzlichen Wertentscheidungen und den allgemeinen Wertgrundsätzen wie der Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit berücksichtigt werden. Ob dies geschehen ist, unterliegt der gerichtlichen Kontrolle (§ 315 Abs. 3 S. 2 BGB) (BAG Urteil vom 23.01.1992 - 6 AZR 87/90 - AP Nr. 39 zu § 611 BGB Direktionsrecht, Urteil vom 19.06.1985 - 5 AZR 57/84 - AP Nr. 11 ZU § 4 BAT und Urteil vom 24.04.1996 - 5 AZR 1031/94 - AP Nr. 48 zu § 611 BGB Direktionsrecht). Im Rahmen einer abstrakten Billigkeitskontrolle hat eine Interessenabwägung stattzufinden, bei der ein generalisierender Maßstab zugrunde zu legen ist (BAG Urteil vom 02.02.1988 - 3 AZR 115/86 - AP Nr. 25 zu § 5 BetrAVG).

30

Daraus folgt, daß die Beklagte nach billigem Ermessen in die Beendigung des Sonderurlaubs hätte einwilligen müssen, so daß ab 28.03.1994 sich die Klägerin im Erziehungsurlaub befand. Erziehungsurlaub ist konkreter Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 GG) für jedes Kind. Die damit verbundenen Lasten hat der Gesetzgeber zu einem Teil den Arbeitgebern übertragen. Stehen wie hier keine verwaltungsmäßigen Belange, sondern nur wirtschaftliche Belange der Einwilligung in die Beendigung des Sonderurlaubs entgegen, so ergibt sich aus der durch die nahezu 15jährige Beschäftigungszeit der Klägerin bis zum Beginn ihres Sonderurlaubs eine so weit gesteigerte Fürsorgepflicht, daß die von der Beklagten zu erbringenden wirtschaftlichen Belastungen in Form einer anteiligen Zuwendung, der Anrechnung der Dienstzeit bzw. das Risiko der tariflichen Sterbegeldzahlung unter Berücksichtigung der Empfehlung des Landes die durch die Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit gesetzten Maßstäbe nicht überschreiten. Diese wirtschaftlichen Lasten hätten die Beklagte auch getroffen, wenn die Klägerin bei vorausschauender Familienplanung einen entsprechend kürzeren Sonderurlaub in Anspruch genommen hätte.

31

Danach konnte die Berufung keinen Erfolg haben.

32

II.

Nach § 92 ZPO hat die Beklagte die Kosten des Rechtsstreits verhältnismäßig, soweit sie unterlegen war, zu tragen einschließlich der Kosten der Revision.

33

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich.

Becker,
Pollakowski,
Pidancet