Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 13.03.1998, Az.: 16 Sa 1226/97
Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall; Deklaratorische oder konstitutive Regelung im Tarifvertrag
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 13.03.1998
- Aktenzeichen
- 16 Sa 1226/97
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1998, 16989
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:1998:0313.16SA1226.97.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Lüneburg - 02.05.1997 - AZ: 1 Ca 486/97
Rechtsgrundlagen
- § 616 BGB
- § 13 Nr. 2 MTV der Raiffeisen-Warengenossenschaften
Fundstelle
- NZA-RR 1998, 367-368 (Volltext mit amtl. LS)
In dem Rechtsstreit
hat die 16. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 13.03.98
durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht und
die ehrenamtlichen Richter
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Lüneburg vom 02.05.1997, AZ: 1 Ca 486/97, abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger DM 1.039,19 nebst 4 % Zinsen auf DM 827,51 seit dem 05.03.1997 und auf DM 211,68 seit dem 24.03.1997 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der am 05.06.1936 geborene Kläger ist bei der Beklagten seit dem Jahre 1981 als Siloarbeiter zu einem Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von zuletzt DM 3.024,00 DM beschäftigt. Der Manteltarifvertrag der Raiffeisen-Warengenossenschaften vom 11.04.1989 wird bei der Beklagten betriebsüblich auf das Arbeitsverhältnis angewandt. Die Parteien gehen übereinstimmend davon aus, daß dieser Manteltarifvertrag das Arbeitsverhältnis der Parteien regelt.
Der Kläger war in den Monaten November 1996, Januar 1997 und Februar 1997 arbeitsunfähig krank. Die Beklagte zahlte an den Kläger für diese Zeiträume Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle auf der Basis von 80 % der regelmäßigen Bruttoarbeitsvergütung des Klägers.
Mit der Klage macht der Kläger Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle in Höhe von 100 % geltend und klagt die Differenzbeträge für die Monate November 1996 in Höhe von DM 201,60 brutto, für den Monat Januar 1997 in Höhe von DM 525,91 brutto und für Februar 1997 in Höhe von DM 211,68 brutto ein.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, aufgrund des anwendbaren Tarifvertrages stünden ihm 100 % des regelmäßig zu zahlenden Arbeitsentgeltes als Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle zu.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger DM 1.039,19 brutto nebst 4 % Zinsen auf DM 827,51 seit dem 05.03.1997 und auf DM 211,68 seit dem 24.03.1997 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, der einschlägige Tarifvertrag beinhalte keine Regelung über die Höhe der Entgeltfortzahlung, so daß insoweit das Entgeltfortzahlungsgesetz Anwendung finde.
Das Arbeitsgericht hat durch Urteil vom 02.05.1997 die Klage abgewiesen, die Kosten des Rechtsstreits dem Kläger auferlegt und den Streitwert auf DM 1.039,19 festgesetzt.
Wegen der Begründung des erstinstanzlichen Urteiles wird auf die Entscheidungsgründe (Bl. 29-32 d.A.) verwiesen.
Das Urteil des Arbeitsgerichtes wurde dem Kläger am 30.05.1997 zugestellt. Hiergegen legte dieser am 30.06.1997 Berufung ein und begründete diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis 13.10.1997 am 13.10.1997.
Zur Begründung führt der Kläger aus, nach dem Tarifvertrag sei das Entgelt fortzuzahlen. Hierunter sei nach dem allgemeinen Sprachgebrauch das volle Entgelt zu verstehen und nicht nur ein Teil dieses Entgeltes. Hieraus sei der übereinstimmende Wille der Tarifvertragsparteien zu entnehmen, daß auch dieses Entgelt für die Dauer von 6 Wochen fortzuzahlen sei.
Bei der Regelung handele es sich auch um eine eigenständige Regelung. Die Formulierung weiche deutlich von dem damals geltenden Lohnfortzahlungsgesetz ab. Die Regelung des Lohnfortzahlungsgesetzes wie auch die Regelung des § 616 BGB hätten auch von der Vergütung bzw. dem Entgelt gesprochen und damit selbstverständlich die ungekürzte entsprechende Vergütung gemeint. Abweichungen hiervon hätten einer besonderen Erwähnung bedurft. Dabei sei zu berücksichtigen, daß regelmäßig die Tarifvertragsparteien im Tarifvertrag eigenständige Regelungen treffen wollen, es sei denn,es sei ein ausdrücklicher Verweis auf die gesetzlichen Vorschriften vorgenommen worden.
Im übrigen fehle es an einer gewollten Dynamisierung der Regelung entsprechend den gesetzlichen Regelungen. Es könne allenfalls davon ausgegangen werden, daß die Tarifvertragsparteien die bei Tarifabschluß geltenden gesetzlichen Regelungen gemeint hätten und damit nicht das Entgeltfortzahlungsgesetz in Bezug genommen hätten.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Lüneburg vom 02.05.1997, AZ: 1 Ca 486/97, abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger DM 1.039,19 nebst 4 % Zinsen auf DM 827,51 seit dem 05.03.1997 und auf DM 211,68 seit dem 24.03.1997 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Die Beklagte verteidigt das erstinstanzliche Urteil nach Maßgabe ihres Schriftsatzes vom 18.11.1997. Hierauf wird verwiesen (Bl. 54-56 d.A.).
Gründe
Die Berufung des Klägers ist statthaft. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Der Beschwerdegegenstand in dieser vermögensrechtlichen Streitigkeit übersteigt 800,00 DM. Die Berufung ist damit insgesamt zulässig (§§ 64, 66 ArbGG, 518, 519 ZPO).
Die Berufung ist auch begründet. Dem Kläger steht eine 100 %ige Entgeltfortzahlung innerhalb der ersten 6 Wochen einer Arbeitsunfähigkeit zu.
Der Anspruch des Klägers ergibt sich aus seinem Arbeitsvertrag in Verbindung mit dem im Betrieb und damit auch für den Kläger angewendeten Manteltarifvertrag der Raiffeisen-Warengenossenschaften einschließlich der Raiffeisen-Hauptgenossenschaft e.G. Hannover und Kreditgenossenschaften mit Warenverkehr, gültig ab 01.01.1989 (MTV).
Der Anspruch leitet sich aus § 13 Ziffer 2 MTV her, der wie folgt lautet:
In Fällen unverschuldeter Arbeitsunfähigkeit oder während eines von einem Versicherungsträger bzw. von einem Versorgungsamt bewilligten Kur- oder Heilverfahrens einschließlich der Schonungszeit ist das Entgelt bis zur Dauer von 6 Wochen weiterzuzahlen, jedoch unbeschadet entgegenstehender gesetzlicher Vorschriften nicht über das Arbeitsverhältnis hinaus.
Diese Regelung des Tarifvertrages enthält eine eigenständige Regelung gegenüber der Regelung des Entgeltfortzahlungsgesetzes, das eine Absenkung auf 80 % vorsieht. Die Vorschrift des § 13 Ziffer 2 MTV sieht eine 100 %ige Entgeltfortzahlung vor.
Das Bundesarbeitsgericht hat zu den Fällen, ob die in einem Tarifvertrag geregelte Kündigungsfrist konstitutiv ist oder nur deklaratorischen Charakter hat, ausgeführt, daß eine eigenständige tarifliche Regelung regelmäßig anzunehmen ist, wenn die Tarifvertragsparteien eine im Gesetz nicht oder anders enthaltene Regelung treffen oder eine gesetzliche Regelung übernehmen, die sonst nicht für die betroffenen Arbeitsverhältnisse gelten würde. Für einen rein deklaratorischen Charakter der Übernahme spreche hingegen, wenn einschlägige gesetzliche Vorschriften wörtlich oder inhaltlich unverändert übernommen werden. In einem derartigen Fall sei bei Fehlen gegenteiliger Anhaltspunkte davon auszugehen, daß es den Tarifvertragsparteien bei der Übernahme des Gesetzestextes darum gegangen sei, im Tarifvertrag eine unvollständige Darstellung der Rechtslage zu vermeiden. Sie hätten dann die unveränderte gesetzliche Regelung im Interesse der Klarheit und Übersichtlichkeit deklaratorisch in den Tarifvertrag aufgenommen, um die an den Tarifvertrag gebundenen Arbeitsvertragsparteien möglichst umfassend über die zu beachtenden Rechtsvorschriften zu unterrichten (so Urteil des BAG vom 05.10.1995 in BB 96, 220 [BAG 05.10.1995 - 2 AZR 1028/94], vgl. auch Urteil des BAG vom 28.01.1988 in AP Nr. 24 zu§ 622 BGB sowie Urteil des BAG vom 14.02.1996 in EzA Nr. 54 zu § 622 n.F. m.w.N.).
Vorliegend ist, wie sich aus dem oben zitierten Text des Tarifvertrages ergibt, weder der Gesetzestext des Lohnfortzahlungsgesetzes noch des zum Zeitpunkt des Abschlusses des Tarifvertrages geltenden § 616 BGB übernommen, noch entspricht der Text des Tarifvertrages den Regelungen des Entgeltfortzahlungsgesetzes in den unterschiedlichen Fassungen.
Die Tarifvertragsparteien haben vielmehr in der genannten Vorschrift eigenständig formuliert und eine von der Regelung des Gesetzes erheblich abweichende Formulierung verwandt.
In diesen Fällen ist jedoch stets davon auszugehen, daß die Tarifvertragsparteien eine eigenständige Regelung wollten. Diese Tarifregelung sollte vom Bestand und Inhalt der gesetzlichen Regelung grundsätzlich unabhängig sein.
Allein die Tatsache, daß die Tarifvertragsparteien eine Regelung der Entgeltfortzahlung in den Tarifvertrag aufnehmen und diese eigenständig und in Abweichung von der gesetzlichen Regelung formulieren, belegt den Regelungswillen der Tarifvertragsparteien, ohne daß dieser erneut gesondert dokumentiert werden muß. Es ist regelmäßig davon auszugehen, daß die Tarifvertragsparteien mit ihren Formulierungen des Tarifvertrages auch entsprechendes Tarif recht setzen wollen, wie es ihnen über die Koalitionsfreiheit des Artikel 9 GG zugestanden ist. Es ist deshalb regelmäßig nicht davon auszugehen, daß ein Verweis auf gesetzliche Vorschriften erfolgt, vielmehr im Gegenteil davon, daß entsprechend den Besonderheiten der zu regelnden Sparte eigenständige Regelungen erfolgen, die verbindlich für die dem Tarifvertrag unterliegenden Arbeitsvertragsparteien gelten sollen. Nur ausnahmsweise dann, wenn ein ausdrücklicher Verweis auf die gesetzlichen Regelungen erfolgt, kann davon ausgegangen werden, daß die dort vorhandenen Regelungen die Arbeitsverhältnisse bestimmen sollen, weil diese nach ihrer Ansicht bereits die Besonderheiten der entsprechenden Sparte berücksichtigen. Nur in diesen Fällen kann davon ausgegangen werden, daß die Regelung des Tarifvertrages nicht eigenständig ist und nur einen Hinweis an die Arbeitsvertragsparteien bedeutet, daß eine eigenständige Regelung nicht erforderlich ist und damit ergänzend das Gesetz gilt.
Vorliegend beinhaltet § 13 Ziffer 2 MTV eine eigenständige Regelung, da bezüglich des Klägers als gewerblicher Arbeitnehmer eine vollständig andere Regelung enthalten ist, als das damals geltende Lohnfortzahlungsgesetz vorsah.
Das Lohnfortzahlungsgesetz sah in seinem § 1 den Grundsatz der Entgeltfortzahlung vor, während § 2 die Höhe des fortzuzahlenden Entgeltes betraf. Der Tarifvertrag unterscheidet nicht zwischen der Anspruchsgrundlage und der Höhe des Entgeltes, sondern regelt in einem Satz sowohl die Anspruchsgrundlage, nämlich die Verpflichtung zur Weiterzahlung in Fällen unverschuldeter Arbeitsunfähigkeit, sowie die Höhe des Anspruches, indem der Tarifvertrag auf das Entgelt verweist. Wie der Kläger zu Recht ausführt, kann unter dem Begriff "das Entgelt" aber nur das Entgelt gemeint sein, das dem Arbeitnehmer regelmäßig zusteht. Jeder Arbeitsvertrag oder Entgelttarifvertrag regelt das Entgelt, das dem Arbeitnehmer für seine Tätigkeit zusteht. Das Entgelt ist damit immer der Betrag, der an den Arbeitnehmer ohne Abzüge auszuzahlen ist. Gemeint ist damit nicht das Entgelt im Sinne des Lohnfortzahlungsgesetzes bzw. nunmehr des Entgeltfortzahlungsgesetzes, sondern das Arbeitsentgelt, daß dem Arbeitnehmer zusteht.
Daß dieser Tarifvertrag eine eigenständige Regelung darstellt, ergibt sich auch bereits aus dem zweiten Halbsatz des § 13 Ziffer 2 MTV, der eine vom Gesetz abweichende Regelung enthält und damit eigenständig den Anspruch des Arbeitnehmers gegenüber dem Gesetz einschränkt.
Es ist damit davon auszugehen, daß Leistung und Gegenleistung in Fällen unverschuldeter Arbeitsunfähigkeit von den Tarifvertragsparteien ausgewogen geregelt sind und damit einerseits das Arbeitsentgelt, und damit das volle Arbeitsentgelt, an den Arbeitnehmer zu zahlen war, auf der anderen Seite jedoch auch Einschränkungen vom Arbeitnehmer hinzunehmen sind.
Dabei ist davon auszugehen, daß die Tarifvertragsparteien bei Abschluß des Tarifvertrages nicht berücksichtigen konnten, daß eine entsprechende gesetzliche Einschränkung erfolgen werde. Aus diesem Grunde ist anzunehmen, daß die Tarifvertragsparteien bei ihrer Regelung auch davon ausgegangen sind, daß das volle Entgelt zu zahlen ist. Würde nunmehr das fortzuzahlende Entgelt abgesenkt werden, weil eine gesetzliche Möglichkeit der Absenkung geschaffen ist, so gibt es keine sicheren Anhaltspunkte dafür, ob die Tarifvertragsparteien diese tarifliche Regelung getroffen hätten, insbesondere Einschränkungen der Lohnfortzahlung, wie in § 3 Ziffer 2 MTV vorgesehen, vorgenommen hätten. Es ist aber nicht Aufgabe des Gerichtes, von den Tarifvertragsparteien nicht vorhergesehene Lücken bei der Regelung zu schließen und in das Tarif gefüge einzugreifen. Es ist den Tarifvertragsparteien vorbehalten, wie eine künftige Regelung der Entgeltfortzahlung erfolgen soll.
Nach alledem war auf die Berufung des Klägers das erstinstanzliche Urteil abzuändern und die Beklagte antragsgemäß zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91, 97 ZPO in Verbindung mit § 64 Abs. 6 ArbGG. Die Zulassung der Revision erfolgt gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.