Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 12.08.1998, Az.: 2 TaBV 97/97

Mitbestimmung des Betriebsrats, wenn Arbeitgeber die zweite Stufe einer Tariflohnerhöhung mitübertariflichen Zulagen verrechnet; Verhältnis von übertariflichen Zulagen zu den jeweiligen Tarifentlohnungen; Vorliegen eines mehrstufigen Tarifabschlußes mit mehreren Erhöhungsstufen oder lediglich eine einheitliche Vergütungserhöhung

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
12.08.1998
Aktenzeichen
2 TaBV 97/97
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1998, 16987
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:1998:0812.2TABV97.97.0A

In dem Beschlußverfahren
beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

Tatbestand

1

I.

Die Parteien streiten darüber, ob der Betriebsrat (Beteiligter zu 1) mitzubestimmen hat, wenn die Arbeitgeberin (Beteiligte zu 2) die zweite Stufe einer Tariflohnerhöhung mit übertariflichen Zulagen verrechnet, nachdem er Pauschalregelungen der ersten Stufe ohne Verrechnung weitergegeben hat.

2

Die Arbeitgeberin fertigt und vertreibt Industrie-Sauger. Sie beschäftigt 97 Mitarbeiter.

3

Die Arbeitgeberin hat mit der IG Metall-Verwaltungsstelle Osnabrück einen Anerkennungs-Tarifvertrag (Bl. 15 d.A.) abgeschlossen, der ab 01.06.1994 gilt.

4

Nach § 2 dieses Tarifvertrages finden die zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens geltenden Tarifverträge der Metallindustrie für das Tarifgebiet Osnabrück-Emsland Anwendung, soweit sie in der Anlage 1 des Anerkennungs-Tarifvertrages aufgeführt sind. Dazu gehören unter anderem die Lohnabkommen für die gewerblichen Arbeitnehmer und die Gehaltsabkommen für die Angestellten.

5

Mit Abkommen vom 13.12.1996 (Bl. 19 f d.A.) schlossen der Verband der Metall- und Elektroindustrie Osnabrück-Emsland e.V. und die IG Metall Bezirksleitung Hannover, Verwaltungsstelle Osnabrück und Rheine sowohl ein Lohn- als auch ein Gehaltsabkommen mir Wirkung ab 01.01.1997, erstmals kündbar zum 31.12.1998.

6

Gemäß § 2 dieser Lohn/Gehaltsabkommen wird das Tarifgehalt der gewerblichen Arbeitnehmer/Angestellten mit Wirkung zum 01.01.1997 um 1,5 % und mit Wirkung vom 01.04.1998 um 2,5 % erhöht.

7

Gemäß § 3 des jeweiligen Abkommens erhalten die Arbeitnehmer für die Monate Januar, Februar und März 1997 anstelle der prozentualen Erhöhung gemäß § 2 einen Pauschalbetrag in Höhe von insgesamt 200,00 DM brutto.

8

Sofern die Monate Januar, Februar und März 1997 Referenzzeitraum für Durchschnittsberechnungen aller Art. sind, ist statt des Pauschalbetrages eine prozentuale Erhöhung um 1,5 % zugrundezulegen.

9

Die Arbeitgeberin hat allen Beschäftigten für die Monate Januar bis März 1997 die Pauschale von 200,00 DM gewährt, ohne sie mit übertariflichen Gehaltsbestandteilen zu verrechnen.

10

Für die Zeit ab 01.04.1997 wurde die 1,5 %-ige Tariflohnerhöhung von ihr vollständig auf freiwilligeübertarifliche Zulagen angerechnet, die sie einem Großteil der bei ihr beschäftigten Arbeitnehmer gewährt. Von der Anrechnung sind 32 Arbeitnehmer betroffen.

11

Der Betriebsrat hat vorgetragen, die Pauschal-Regelung und die Tariflohnerhöhung zum 01.04.1997 stellten eine Umsetzung einer einheitlichen Tariflohnerhöhung dar, denn die Pauschale für die Monate Januar bis März 1997 sei anstelle der vereinbarten prozentualen Erhöhung gemäß § 2 des jeweiligen Abkommens gezahlt worden. Da die Arbeitgeberin die Pauschale ungekürzt geleistet habe und eine Anrechnung auf übertarifliche Vertragsbestandteile erst ab April 1997 vorgenommen habe, liege ein Fall der teilweisen und damit mitbestimmungspflichtigen Anrechnung gemäß § 87 Abs. 1 Ziffer 10 BetrVG vor. Im übrigen seien die Verteilungsgrundsätze durch die vorgenommene Anrechnung verändert worden.

12

Der Betriebsrat hat beantragt,

festzustellen, daß die Anrechnung derübertariflichen Zulage auf die zum 01.04.1997 wirksam gewordene Tariflohnerhöhung mitbestimmungspflichtig ist.

13

Die Arbeitgeberin hat beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

14

Die Arbeitgeberin hat die Auffassung vertreten, es lägen 3 Stufen der Tariflohnerhöhung vor.

15

Entschließe sie sich, die erste Stufe (Pauschale) ohne Anrechnung vollständig an die Arbeitnehmer weiterzugeben und die spätere zweite Stufe mit freiwilligen, übertariflichen Zulagen vollständig zu verrechnen, so bestehe kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates.

16

Das Arbeitsgericht hat durch seinen Beschluß vom 29.10.1997 festgestellt, daß die Anrechnung der übertariflichen Zulagen auf die zum 01.04.1997 wirksam gewordene Tariflohnerhöhung mitbestimmungspflichtig ist.

17

Die Pauschalregelung und die Tariferhöhung per 01.04.1997 stellten eine einheitliche Lohnerhöhung dar, so daß von einer lediglich teilweisen Anrechnung auf die übertariflichen Zulagen und damit von einer mitbestimmungspflichtigen Maßnahme auszugehen sei. Es liege ein einheitliches Regelungskonzept vor. Die Entscheidung, die Pauschale im Februar 1997 auszuzahlen, bewirke eine Änderung der Verteilungsgrundsätze.

18

Wegen des weiteren Inhalts der Entscheidung wird auf den arbeitsgerichtlichen Beschluß vom 29.10.1997 (Bl. 72 f d.A.) verwiesen.

19

Die Arbeitgeberin hat gegen den ihr am 06.11.1997 zugestellten Beschluß am 05.12.1997 Beschwerde eingelegt, die sie am 17.12.1997 begründet hat.

20

Die Arbeitgeberin trägt vor, bei der Pauschalregelung und der späteren linearen Lohn/Gehaltserhöhung um 1,5 % per 01.04.1997 handele es sich um getrennte Stufen der Tariflohnerhöhung. Daher sei es für sie rechtlich möglich, mit Beginn einer jeden Stufe die Entscheidung darüber zu treffen, ob und in welchem Umfang sie die Tariflohnerhöhung mit etwaigen vorhandenen übertariflichen Zulagen verrechne. Selbst wenn man in der ersten und zweiten Stufe der Tariflohnerhöhungsrunde 1997 eine einheitliche Tariflohnerhöhung sehe, könne ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nicht angenommen werden. Der Arbeitgeber sei unter Mitbestimmungsgesichtspunkten frei auch Monate nach einer Tariflohnerhöhung eine Anrechnung aufübertarifliche Leistungen vorzunehmen. Lediglich Gründe des Vertrauensschutzes der betroffenen Arbeitnehmer stünden dem entgegen.

21

Die Arbeitgeberin beantragt,

den Beschluß des Arbeitsgerichts Osnabrück vom 29.10.1997 - 2 BV 12/97 - abzuändern und den Antrag des Antragstellers (Beteiligten zu 1) zurückzuweisen.

22

Der Betriebsrat beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

23

Der Betriebsrat verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung.

24

Der Bertiebsrat ist der Auffassung, nachdem die Arbeitgeberin die Pauschalzahlung als einen Teil der Tariflohnerhöhung 1997 bereits geleistet habe, habe sie ohne Wahrung der Mitbestimmungsrechte gemäß § 87 Abs. 1 Ziff. 10 BetrVG die Erhöhung imübrigen nicht mehr vollständig auf die übertariflichen Zulagen anrechnen können. Bezogen auf die Gesamterhöhung von 1,5 % für den Zeitraum 01.01.1997 bis 01.04.1998 hätte - wegen der lediglich teilweisen Anrechnung - ein Gestaltungsspielraum für die Arbeitgeberin innerhalb des vorgesehenen Dotierungsrahmens bestanden.

Gründe

25

II.

Die form- und fristgerecht eingelegt und ordnungsgemäß begründete Beschwerde der Arbeitgeberin ist zulässig, aber unbegründet.

26

Der Antrag des Betriebsrats auf Feststellung des umstrittenen Mitbestimmungsrechts besteht ein Rechtschutzbedürfnis. Das Mitbestimmungsrecht entfällt nicht deshalb, weil die Arbeitgeberin die Anrechnung der Tariflohnerhöhung von 1,5 % ab April 1997 bereits vollzogen hat.

27

Der Betriebsrat kann ein bestehendes Mitbestimmungsrecht auch noch zu einem späteren Zeitpunkt ausüben, soweit auch eine nachträgliche Regelung noch vollzogen werden kann (vgl. BAG, Beschluß vom 14.06.1994, 1 ABR 63/93 in AP Nr. 69 zu§ 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung, Blatt 645; BAG, Beschluß vom 14.02.1995, 1 ABR 41/94 in DB 1995, 1411).

28

Nach den vom Großen Senat des BAG aufgestellten Grundsätzen besteht ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Ziff. 10 BetrVG bei der Anrechnung einer Tariferhöhung auf übertarifliche Zulagen dann, wenn sich durch die Anrechnung die bisherigen Verteilungsrelationen ändern. Das ist dann der Fall, wenn sich das Verhältnis der Zulagenbeträge zueinander verschiebt. Weiter ist das Mitbestimmungsrecht davon abhängig, daß für eine anderweitige Regelung der Anrechnung innerhalb des vom Arbeitgeber mitbestimmungsfrei vorgegebenen Dotierungsrahmens ein Gestaltungsspielraum verbleibt. Deshalb ist die Anrechnung mitbestimmungsfrei, wenn sie das Zulagenvolumen völlig aufzehrt. Das gleiche gilt, wenn die Tariferhöhung im Rahmen des rechtlich und tatsächlich möglichen vollständig und gleichmäßig auf die übertariflichen Zulagen angerechnet wird (BAG, Beschluß des Großen Senats v. 03.12.1991, GS 2/90 in AP Nr. 51 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung, unter C III, 4-6 der Gründe).

29

Die Verteilungsgrundsätze ändern sich lediglich dann nicht, wenn es sich bei den Zulagen um solche handelt, die in einem einheitlichen und gleichen Verhältnis zum jeweiligen Tariflohn stehen. Rechnet der Arbeitgeber in diesem Fall die Tariferhöhung ganz oder teilweise auf die Zulagen an, so verschiebt sich das Verhältnis der Zulagen zueinander nicht. In diesem Fall besteht, da sich die Verteilungsgrundsätze nicht ändern, kein Mitbestimmungsrecht (vgl. BAG, Beschluß des Großen Senats vom 03.12.1991, a.a.O., Blatt 302).

30

Ein derartiger Fall ist vorliegend nicht gegeben. Die den Arbeitnehmern gewährten übertariflichen Zulagen stehen nicht in einem gleichen Verhältnis zu den jeweiligen Tarifentlohnungen (vgl. Aufstellung Blatt 33 bis 35 d.A.). Sie werden in unterschiedlichen prozentualen Höhen bezogen auf das Tarifgehalt gewährt. Damit führt auch eine vollständige Anrechnung einer Tariflohnerhöhung auf die freiwilligen Zulagen zu einer Veränderung des Verhältnisses der Zulagen zueinander.

31

Damit ist zunächst grundsätzlich ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats gemäß § 87 Abs. 1 Ziffer 10 BetrVG bei der Umsetzung der Tariflohnerhöhung des Jahres 1997 gegeben.

32

Das Mitbestimmungsrecht entfällt nicht etwa deshalb, weil die Arbeitgeberin per 01.04.1997 eine vollständige Anrechnung der tariflichen Lohn/Gehaltserhöhung von 1,5 % auf die jeweiligen Zulagen vorgenommen hat. Dies ergibt sich daraus, daß nach den Vereinbarungen in dem Lohn- und Gehaltsabkommen vom 13.12.1996 gemäß § 2 eine Tariflohnerhöhung um 1,5 % mit Wirkung zum 01.01.1997 vereinbart ist. Die Erhöhung greift nach dem Wortlaut der tariflichen Regelung zum 01.01.1997 ein, nicht zu einem späteren Zeitpunkt. Bis zum 01.04.1998 sind keine weiteren Erhöhungen vorgesehen. Löhne und Gehälter steigen damit per 01.01.1997 um 1,5 %. Dies wird deutlich durch die in § 3 letzter Absatz der Abkommen vorgesehene Regelung. Da für alle Durchschnittsberechnungen davon auszugehen ist, daß die Arbeitnehmer so behandelt werden, als seien die 1,5 % Erhöhung auch tatsächlich in rechnerisch exakter Höhe für die jeweiligen Monate ermittelt und ausgezahlt worden. Lediglich aus Gründen der Verfahrensvereinfachung ist vorgesehen, daß für das 1. Quartal des Jahres 1997 gemäß § 3 1. Absatz eine einmalige Pauschalleistung erfolgt, die "anstelle der prozentualen Erhöhung" gewährt wird.

33

Es liegt damit vor dem Hintergrund der ausdrücklich in§ 2 mit Wirkung vom 1. Januar 1997 an vereinbarten Anhebung der Vergütungssätze um 1,5 % lediglich eine von den Tarifvertragsparteien gewählte Form der Erfüllung der betreffenden Vergütungsansprüche in Höhe von monatlich 1,5 % der Grundvergütung durch eine Pauschalregelung ähnlich einer Leistung an Erfüllungs Statt vor. Die Tarifvertragsparteien ersetzen den konkret abrechenbaren Erfüllungsanspruch für das 1. Quartal 1997 durch eine Pauschalregelung, die der Erfüllung des Zahlungsanspruchs aus§ 2 der Lohn/Gehaltsabkommen dient.

34

Es liegt kein mehrstufiger Tarifabschluß mit mehreren Erhöhungsstufen vor, sondern lediglich eine einheitliche Vergütungserhöhung von 1,5 % für den Zeitraum 01.01.1997 bis 01.04.1998.

35

Da die Arbeitgeberin diese einheitliche Lohn/Gehaltserhöhung lediglich teilweise auf die übertariflichen Zulagen zur Anrechnung gebracht hat und sie den Erhöhungsbetrag für das 1. Quartal 1997 nicht angerechnet hat, gab es die Möglichkeit der Verteilung. Der Dotierungsrahmen für die Zulagen wurde von der Arbeitgeberin für den Zeitraum der Zulagengewährung 01.01.1997 bis 01.04.1998 nicht vollständig um das Volumen der Tarifsteigerung von 1,5 % für diesen Zeitraum nach Maßgabe der Lohn/Gehaltsabkommen gekürzt. Rechnet der Arbeitgeber indes die Tariflohnerhöhung nicht vollständig im Rahmen des rechtlich möglichen an, so besteht ein Raum für eine Verteilungsentscheidung. Dabei besitzt der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht gemäß § 87 Abs. 1 Ziffer 10 BetrVG. Dies folgt aus dem Zweck des Mitbestimmungsrechts, der darin liegt, die Arbeitnehmer vor einer einseitigen, an den Interessen des Arbeitgebers orientierten oder gar willkürlichen Lohngestaltung zu schützen. Die Angemessenheit und Durchsichtigkeit des innerbetrieblichen Lohngefüges und die Wahrung der innerbetrieblichen Lohngerechtigkeit sollen gesichert werden. Kürzt der Arbeitgeber anläßlich einer Entgelterhöhung Zulagen und verschiebt dadurch die Verteilungsrelation, dann ist die innerbetriebliche Lohngerechtigkeit betroffen (BAG, Urteil v. 09.07.1996, 1 AZR 690/95 in AP Nr. 86 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung, Blatt 1834).

36

Nach alldem war wie erfolgt zu entscheiden.

37

Die Zulassung der Rechtsbeschwerde erfolgte entsprechend § 72 Abs. 2 Ziffer 1 ArbGG.