Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 03.03.1998, Az.: 7 Sa 1651/97
Höhe der Entgeltzahlung im Krankheitsfall; Deklaratorische oder konstitutive Regelung im Tarifvertrag gegenüber der gesetzlichen Regelung
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 03.03.1998
- Aktenzeichen
- 7 Sa 1651/97
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1998, 16981
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:1998:0303.7SA1651.97.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Hameln - 26.05.1997 - AZ: 2 Ca 2/97
Rechtsgrundlagen
- § 5 Nr. 2.1 Abs. 1 RTV-Poliere
- § 63 HGB
- § 133c GewO
- § 616 BGB
In dem Rechtsstreit
hat die 7. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 03.03.98
durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht ... und
die ehrenamtlichen Richter ...
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hameln vom 26.05.1997, 2 Ca 2/97, wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob dem Kläger, der zuletzt als Schachtmeister (Polier) bei der Beklagten beschäftigt war, für die Dauer seiner Arbeitsunfähigkeit ab 04. Oktober 1996 bis zum 31. Dezember 1996 ein Entgeltfortzahlungsanspruch in Höhe von 100 % oder von 80 % seiner monatlichen Bezüge sowie nach Ablauf des 6-wöchigen Entgeltfortzahlungszeitraumes ein Zuschuß zum Krankengeld zusteht.
Nach dem auf das Arbeitsverhältnis der Parteien kraft beiderseitiger Tarifbindung Anwendung findenden Rahmentarifvertrag für die Poliere des Baugewerbes im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und des Landes Berlin vom 12.06.1978 (RTV Poliere) gilt bezüglich der Gehaltsfortzahlung im Krankheitsfall folgendes:
"Ist ein Polier infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert (Arbeitsunfähigkeit), ohne daß ihn Verschulden trifft, so hat er gegen seinen Arbeitgeber einen Anspruch auf Fortzahlung des Gehalts bis zur Dauer von sechs Wochen.
Nach dreijähriger ununterbrochener Betriebszugehörigkeit erhalten Poliere, wenn sie infolge Krankheit an der Arbeitsleistung verhindert sind (Arbeitsunfähigkeit), von der siebten Wochen an einen Zuschuß vom Arbeitgeber bis zur Dauer von sechs Wochen. Der Zuschuß wird in Höhe des Betrages gewährt, der sich als Unterschied zwischen dem Nettogehalt und den Leistungen mit der gesetzlichen Krankenversicherung oder Unfallversicherung ergibt. Ist der Polier nicht in einer gesetzlichen Krankenkasse versichert, so ist das Krankengeld oder Hausgeld der Berechnung zugrunde zu legen, das er als Mitglied einer gesetzlichen Krankenversicherung in der Höchststufe erhalten würde.
Nach siebenjähriger ununterbrochener Betriebszugehörigkeit wird der Zuschuß nach Abs. 2 bis zur Dauer von acht Wochen und nach zehnjähriger ununterbrochener Betriebszugehörigkeit bis zur Dauer von 12 Wochen gewährt."
Die Beklagte gewährte dem Kläger für die Dauer von 6 Wochen Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall in Höhe von 80 % seiner bisherigen Vergütung. Die Differenz zu einer 100 %-igen Vergütung in Höhe von 1.973,25 DM brutto sowie den Krankengeldzuschuß in unstreitiger Höhe von 249,35 DM netto, den die Beklagte nicht zahlte, macht der Kläger vorliegend geltend.
Das Arbeitsgericht hat durch ein der Beklagten am 12. August 1997 zugestelltes Urteil vom 26. Mai 1997, auf dessen Inhalt zur weiteren Darstellung des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes und dessen Würdigung durch das Arbeitsgericht Bezug genommen wird (Bl. 21-29 d. A.), die Beklagte zur Zahlung von 1.973,25 DM und 249,35 DM netto nebst 4% Zinsen auf die Nettobeträge seit dem 10. Januar 1997 verurteilt. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, § 5 Nr. 2.1 Abs. 1 RTV-Poliere beinhalte eine eigenständig konstitutive Regelung über die Fortzahlung der ungekürzten Vergütung im Krankheitsfalle bis zur Dauer von 6 Wochen. Dies folge bereits aus dem Wortlaut des Tarifvertrages, der im Gegensatz zu der damaligen gesetzlichen Regelung nicht lediglich einen bestehenden tariflichen oder vertraglichen Entgeltanspruch aufrechterhalte, sondern eine eigenständige Anspruchsgrundlage formuliere. Die gesetzliche Regelung sei weder inhaltlich übernommen worden, noch sei auf sie verwiesen worden.
Für die Eigenständigkeit der tariflichen Entgeltfortzahlungsregelung spreche zudem der Gesamt Zusammenhang der Tarifnorm und dabei die in § 5 Nr. 2.1 Abs. 2 RTV-Poliere vorgesehene Zahlung eines Arbeitgeberzuschusses zum Krankengeld. Diese Regelung verfolge den Zweck, dem Arbeitnehmer auch nach Ablauf des Vergütungsfortzahlungszeitraumes sein bisheriges Einkommen zu erhalten. Anhaltspunkte dafür, daß die Tarifvertragsparteien den arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmer nach Ablauf des Entgeltfortzahlungszeitraumes besser stellen wollten als in den ersten 6 Wochen der Arbeitsunfähigkeit, seien nicht ersichtlich.
Hiergegen richtet sich die am 29. August 1997 eingelegte und gleichzeitig begründete Berufung der Beklagten.
Die Beklagte ist der Auffassung, § 5 Nr. 2.1 Abs. 1 RTV-Poliere beinhalte lediglich eine deklaratorische Verweisung auf das jeweils geltende Gesetz über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Bereits im Jahre 1957 sei die damals schon bestehenden Regelungen über den bis zu 6-wöchigen Entgeltfortzahlungsanspruch für erkrankte Angestellte aus den betreffenden Bestimmungen der§§ 63 HGB bzw. 133c Gewerbeordnung inhaltlichübernommen worden. Die Tarifvertragsparteien hätten somit keine eigenständige tarifvertraglich Regelung schaffen wollen. Auch dem Wortlaut des Tarifvertrages könne nichts anderes entnommen werden. Sofern tatsächlich entgegen der Regelung des Entgeltfortzahlungsgesetzes eine 100 %-ige Entgeltfortzahlung gewollt gewesen wäre, hätte nichts näher gelegen, als beispielsweise zu formulieren "einen Anspruch auf Fortzahlung des vollen Gehaltes". Etwas anderes folge auch nicht aus der Regelung über die Gewährung eines Zuschusses zum Krankengeld. Es sei nicht auf den Gesamt Zusammenhang abzustellen. Vielmehr seien die einzelnen Bestimmungen in dem Tarifvertrag getrennt für sich danach zu untersuchen, ob sie eigenständige Regelungen darstellten oder nur auf gesetzlichen Bestimmungen verwiesen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Hameln vom 26.05.1997 abzuändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene Urteil nach Maßgabe des Schriftsatzes seiner Prozeßbevollmächtigten vom 10. November 1997 (Bl. 55-59 d.A.).
Gründe
Die Berufung der Beklagten ist unzulässig, soweit sie sich gegen die Verurteilung zur Zahlung eines Krankengeldzuschusses in Höhe von 249,35 DM netto nebst Zinsen richtet. Die Beklagte hat nämlich eine Begründung für das Nichtbestehen dieses Anspruches im Berufungsverfahren nicht vorgetragen.
Gemäß den §§ 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, 519 Abs. 3 Nr. 2 ZPO muß die Berufungsbegründung die bestimmte Bezeichnung der einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe) sowie diejenigen neuen Tatsachen, Beweismittel und Beweiseinreden enthalten, die die Partei zur Rechtfertigung ihrer Berufung anführen möchte. Die Begründung muß deshalb konkret auf den Streitgegenstand zugeschnitten sein und erkennen lassen, aus welchen Gründen das angefochtene Urteil in rechtlicher und/oder tatsächlicher Hinsicht unrichtig sein soll (Stein/Jonas/Grunsky, 21. Auflage 1993, § 519 Abs. 3 ZPO, Randz. 34-37; BGH vom 01.07.1992, XII ZB 59/92, FamRZ 1993, Seite 46, 47). Bezieht sich die Berufung dabei auf mehrere Ansprüche im prozessualen Sinn, muß zu jedem Anspruch eine ausreichende Begründung gegeben werden. Fehlen Ausführungen zu einem Anspruch, ist das Rechtsmittel insoweit unzulässig (ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, vgl. zuletzt BAG vom 16. April 1997, 4 AZR 653/95, EzA § 554 ZPO Nr. 6 m.w.N.).
Das Arbeitsgericht hat unter 2. der Entscheidungsgründe im einzelnen dargelegt, weshalb die Beklagte verpflichtet ist, an den Kläger für die Zeit vom 15. November bis 30. November 1996 einen Zuschuß zum Krankengeld in Höhe von 249,35 DM netto zu zahlen. Mit diesen Ausführungen setzt sich die Beklagte in ihrer Berufungsbegründung nicht auseinander. Ihre Argumentation bezieht sich lediglich auf den Entgeltfortzahlungsanspruch des Klägers in der Zeit vom 4. Oktober 1996 bis zum 14. November 1996 gemäß § 5 Nr. 2.1 Abs. 1 RTV-Poliere. Weshalb ein Anspruch auf Zuschuß zum Krankengeld nach Abs. 2 dieser Vorschrift nicht bestehen soll, wird demgegenüber nicht dargelegt.
Der Anspruch des Klägers auf Krankengeldzuschuß hängt auch nicht denknotwendig von der Frage ab, ob dem Kläger für die ersten 6 Wochen seiner Arbeitsunfähigkeit ein Entgelt fort Zahlungsanspruch gemäß § 5 Nr. 2.1 Abs. 1 RTV-Poliere in 100 %-iger Höhe zusteht. Die Beklagte selbst geht in ihrer Berufungsbegründung davon aus, daß zwischen den beiden Regelungen ein Zusammenhang nicht besteht, und daß beide Regelungen eigenständig daraufhin untersucht werden müssen, ob sie konstitutiv oder deklaratorisch sind. Selbst wenn jedoch ein derartiger Zusammenhang besteht, folgt daraus nicht denknotwendig, daß bei der Bejahung eines Anspruches auf Entgeltfortzahlung in Höhe von 80 % für die ersten 6 Wochen einer Arbeitsunfähigkeit der tarifliche Anspruch auf Zuschüsse zum Krankengeld gegenstandslos wird.
Die Beklagte hätte sich mithin in ihrer Berufungsbegründung auch mit dem Anspruch auf Zuschuß zum Krankengeld auseinandersetzen müssen. Dies ist jedoch nicht geschehen, was zur Unzulässigkeit der Berufung insoweit führt.
Im übrigen ist die Berufung fristgemäß eingelegt und begründet worden und damit gemäß den §§ 518, 519 ZPO, 44, 66 ArbGG zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet.
Das Arbeitsgericht ist zu Recht und mit zutreffender Begründung zu dem Ergebnis gelangt, daß dem Kläger für die Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit vom 4. Oktober 1996 bis 14. November 1996 ein restlicher Anspruch auf Gehaltsfortzahlung im Krankheitsfall in Höhe von 1.973,25 DM brutto nebst Zinsen zusteht. Auf die sorgfältig begründeten Ausführungen unter 1. der Entscheidungsgründe des arbeitsgerichtlichen Urteils nimmt die erkennende Kammer zur Vermeidung von Wiederholungen gem. § 543 Abs. 1 ZPO Bezug.
Ergänzend weist die erkennende Kammer im Hinblick auf die Ausführungen in der Berufungsbegründung auf folgende Gesichtspunkte hin:
Entgegen der von der Beklagten vertretenen Auffassung spricht die Entstehungsgeschichte des RTV-Poliere nicht dagegen, daß die Tarifvertragsparteien eine eigenständige tarifliche Regelung über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall treffen wollten. Denn im Zeitpunkt des Abschlusses des im Streit stehenden Rahmentarifvertrages (12. Juni 1978) war eine gesetzliche Regelung, die einen Entgeltfortzahlungsanspruch im Krankheitsfall als eigenständige Anspruchsgrundlage ausdrücklich regelt, nicht vorhanden. Vielmehr waren die gesetzlichen Regelungen der §§ 63 HGB, 133c Gewerbeordnung und 616 BGB so ausgestaltet, daß ein Arbeitnehmer im Krankheitsfall seinen Gehaltsanspruch nicht verlieren bzw. behalten sollte, die Anwendbarkeit des § 323 Abs. 1 BGB wurde mithin ausgeschlossen.
Entgegen der von der Beklagten vertretenen Auffassung muß zudem nicht verlangt werden, daß die Tarifvertragsparteien einen "vollen" Gehaltsanspruch für die Dauer der ersten 6 Wochen einer Arbeitsunfähigkeit ausdrücklich in den Tarifvertrag aufnehmen. Der Wille der Tarifvertragsparteien, einen Entgeltfortzahlungsanspruch in Höhe von 100% tarifvertraglich zu regeln, folgt vorliegend aus dem Gesamt Zusammenhang der Tarifnorm. Die Tarifvertragsparteien haben nämlich in§ 5 Nr. 2.1 Abs. 2 RTV-Poliere eine Regelung getroffen, mit der sichergestellt wird, daß der erkrankte Arbeitnehmer auch nach Ablauf des Entgeltfortzahlungszeitraumes ein Einkommen hat, das dem 100 %-igen Nettogehalt entspricht. Daraus ergibt sich auch nach Auffassung der erkennenden Kammer, daß es dem Willen der Tarifvertragsparteien entspricht, dem Arbeitnehmer auch während der ersten 6 Wochen der Arbeitsunfähigkeit einen 100 %-igen Entgeltfortzahlungsanspruch zukommen zu lassen (so auch LAG Düsseldorf vom 09.10.1997, 13 (5) Sa 599/97; LAG Hamburg vom 19. November 1997, 8 Sa 76/97; anderer Auffassung LAG Düsseldorf vom 2. September 1997, 8 Sa 881/97; LAG Niedersachsen vom 17. Dezember 1997, 6 Sa 1879/97-1883/97).
Selbst wenn jedoch entgegen vorstehenden Ausführungen§ 5 Nr. 2.1 Abs. 1 RTV-Poliere lediglich eine deklaratorische Verweisung auf die gesetzliche Regelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle darstellen sollte, weil die Tarifvertragsparteien die einschlägigen gesetzlichen Vorschriften zwar nicht wörtlich, aber inhaltlich unverändert übernommen haben, steht dem Kläger der im Streit stehende Anspruch zu. Die Tarifvertragsparteien haben nämlich nicht lediglich auf die gesetzlichen Bestimmungen verwiesen, wie dies beispielsweise in § 6 Abs. 3 des Rahmentarifvertrages für die gewerblichen Arbeitnehmer in der Beton- und Fertigteilindustrie und dem Betonsteinhandwerk Norddeutschland vom 14.09.1993 der Fall ist. Durch die eigenständige Ausformulierung des Fortzahlungsanspruches haben sie vielmehr zu erkennen gegeben, daß sie allenfalls die gesetzliche Rechtslage im Zeitpunkt des Abschlusses des Tarifvertrages bzw. seiner letzten Änderung (19. Mai 1992) in Bezug nehmen wollten. Wenn sie demgegenüber dynamisch auf jede künftige gesetzliche Änderung, ob zu Gunsten der Arbeitnehmer oder zu Gunsten der Arbeitgeber, verweisen wollten, hätte dies im Tarifwortlaut zum Ausdruck gebracht werden müssen (BAG vom 29.01.1997, 2 AZR 370/96, NZA 1997, Seite 726, 727). Dies ist jedoch nicht geschehen. Das Gegenteil folgt aus obigen Ausführungen.
Die Berufung der Beklagten war deshalb mit der Kostenfolge des § 97 ZPO zurückzuweisen.
Die Zulassung der Revision beruht auf § 77 Abs. 2 Ziff. 1 ArbGG.