Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 19.11.1998, Az.: 10 Sa 1125/98
Anwendbarkeit des Bundesangestelltentarifvertrages (BAT) für Teilzeitbeschäftigte; Geltung des BAT wenn spezielle Tarifverträge bestehen
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 19.11.1998
- Aktenzeichen
- 10 Sa 1125/98
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1998, 16993
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:1998:1119.10SA1125.98.0A
Rechtsgrundlagen
- § 1 Abs. 1 S. 1 TV
- § 3 r) aa BAT
In dem Rechtsstreit
hat die 10. Kammer des Landesarbeitsgerichts Miedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 19.11.98
durch
den Vizepräsidenten des Landesarbeitsgerichts ... und
die ehrenamtlichen Richter ... und
fürRecht erkannt:
Tenor:
Die Berufung gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Verden (Aller) vom 16. April 1998 - 2 Ca 610/97 - wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der keiner Gewerkschaft angehörende Kläger wurde bis zur Privatisierung des in ... betriebenen Schlachthofes gemäß dem Arbeitsvertrag vom 28. Juni 1989 (Bl. 5 d. A.) im Dienst der Beklagten als sogenannter nicht vollbeschäftigter amtlicher Tierarzt tätig. Das Arbeitsverhältnis richtete sich nach dem Tarifvertragüber die Regelung der Rechtsverhältnisse der nicht vollbeschäftigten amtlichen Tierärzte und Fleischkontrolleure inöffentlichen Schlachthöfen und in Einfuhruntersuchungsstellen - TV Ang iöS (künftig: TV) -. Ab 01. April 1998 wurde der Kläger aufgrund des Wechsels in der gesetzlichen Zuständigkeit vom Landkreis ... weiterbeschäftigt, wobei sich das Arbeitsverhältnis aufgrund eines zwischen dem Landkreis ... und der Gewerkschaft ÖTV abgeschlossenen Tarifvertrages weiterhin nach dem TV und nicht nach dem Tarifvertrag für die Angestellten außerhalb öffentlicher Schlachthöfe richten sollte.
Im Jahre 1989 betrug die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit des Klägers ca. 29 Stunden, während sie danach ständig mehr als 38,5 Stunden je Woche und nach der unwidersprochenen Aufstellung des Klägers durchschnittlich je Monat sogar 205 Stunden betrug. Aus diesen tatsächlichen Einsätzen leitete der Kläger seinen vermeintlichen Anspruch ab, in Wirklichkeit von der Beklagten nach den Vorschriften des BAT angestellt gewesen zu sein.
Im Schlachthof ... wurden in den letzten Jahren nur der Direktor und sein Stellvertreter gemäß den Vorschriften des BAT beschäftigt. Die übrigen etwa 16 Tierärztinnen und Tierärzte wurden sämtlich ohne Rücksicht auf die tatsächliche durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit nach dem TV behandelt. Den nach BAT angestellten Tierärzten wurden keineÜberstunden bezahlt, etwaige Mehrarbeit wurde durch Freizeit ausgeglichen. Den weiteren Tierärztinnen und Tierärzten wurden sämtliche Stunden nach den tariflichen Stundensätzen bezahlt. Dies führte schon auf der Basis von 38,5 Wochenstunden zumindest für jüngere Tierärztinnen und Tierärzte zu Einkommen, die deutlich höher lagen, als es bei Angestellten nach BAT der Fall gewesen wäre. Der Kläger erzielte ein Durchschnittseinkommen von ca. DM 10.600,- pro Monat.
Wegen des weiteren erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien und seiner Wertung durch das Arbeitsgericht wird auf das bei einem Streitwert von DM 11.250,- ergangene und die Klage abweisende Urteil vom 16. April 1998 Bezug genommen (Bl. 76 bis 82 d. A.). Das Arbeitsgericht hielt dafür, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers nicht unter den Anwendungsbereich des BAT fiel und dass der Kläger auch keinen Anspruch darauf gehabt habe, mit einer "regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von mindestens 38,5 Stunden beschäftigt zu werden".
Gegen dieses ihm am 24. April 1998 zugestellte Urteil legte der Kläger am 20. Mai 1998 Berufung ein und begründete diese Berufung am 17. Juni 1998.
Der Kläger vertritt die Ansicht, das Rechtsschutzbedürfnis für die vorliegende Feststellungsklage ergebe sich daraus, dass der Landkreis ... sich an die Vertragslage halten müsse, die im Arbeitsverhältnis der Parteien tatsächlich gegolten habe. Der TV sei durch die tatsächliche Handhabung gegenstandslos geworden, weil er nur bei Beschäftigung mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von weniger als 38,5 Stunden gelten könne. Auch ohne Tarifbindung seinerseits sei dadurch der BAT anwendbar geworden.
Der Kläger und Berufungskläger beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Verden vom 16. April 1998 - 2 Ca 610/97 - festzustellen, dass das zwischen den Parteien seinerzeit begründete Arbeitsverhältnis den Regelungen des Bundesangestelltentarifvertrages (BAT) unterfiel und die Beklagte verpflichtet gewesen ist, den Kläger mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden zu beschäftigen.
Die Beklagte und Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil nach Maßgabe ihrer Schriftsätze vom 20. August und 12. November 1998 (Bl. 149 bis 154 und Bl. 211 bis 212 d. A.).
Wegen des weiteren Berufungsvorbringens des Klägers wird auf seine Schriftsätze vom 15. Juni und 30. September 1998 verwiesen (Bl. 90 bis 96 nebst Anlagen in Bl. 97 bis 143 und 160 bis 169 nebst Anlagen in Bl. 170 bis 201 d. A.).
Gründe
Die Berufung ist nicht begründet.
1.
Das Bestehen eines Feststellungsinteresses kann mit dem Arbeitsgericht dahingestellt bleiben (§ 543 ZPO), weil die Klage jedenfalls unbegründet ist.
2.
Der BAT wäre selbst bei Tarifbindung des Klägers gemäß § 3 r) aa BAT nicht anwendbar.
Zwecks Vermeidung von Wiederholungen nimmt das Berufungsgericht gemäß § 543 ZPO auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug. Es genügen daher folgende ergänzende Bemerkungen:
Der im Arbeitsvertrag ausdrücklich als Grundlage des Arbeitsverhältnisses vereinbarte TV konnte gemäß der Protokollerklärung Nr. 1 nicht durch die tatsächliche Beschäftigung als rechtliche Grundlage des Arbeitsverhältnisses abgelöst werden.
Richtig ist lediglich, dass nach § 1 Abs. 1 Satz 1 TV ebenso wie nach § 3 r) aa BAT der TV an sich nur Geltung beanspruchen soll, wenn die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit weniger als die nach § 15 Abs. 1 BAT gültige Arbeitszeit von 38,5 Stunden je Woche beträgt. Diese Beschränkung des Anwendungsbereiches des TV wird durch die ersten Teilsätze der Protokollerklärung Nr. 1 scheinbar noch bekräftigt.
Entscheidend ist aber, dass nach dem letzten Teilsatz der Protokollerklärung Nr. 1 der TV "ohne Rücksicht auf die tatsächliche Dauer ihrer" (der Angestellten) "durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit" anwendbar bleibt. Nach dem Grundsatz der Spezialität geht diese eindeutige Regelung den allgemeinen Regelungen in der Einleitung der Protokollerklärung, im § 1 Abs. 1 Satz 1 TV und insbesondere nach § 3 r) aa BAT vor und verdrängt diese Vorschriften.
Dieses aus dem Wortlaut gewonnene Ergebnis entspricht in aller Regel der beiderseitigen Interessenlage.
Der Arbeitgeber muß die Möglichkeit behalten, auf unterschiedliche Schlachtmengen flexibel reagieren zu können. Nach§ 12 TV richtet sich die Arbeitszeit nach dem Arbeitsanfall. Auf den Arbeitsanfall hat der Arbeitgeber hier keinen Einfluß. Der nach dem Gesetz für die Überwachung zuständige öffentliche Arbeitgeber muß sicherstellen, dass die beim Schlachthof durch Dritte verursachte und von diesen allein bestimmte Arbeitsmenge jederzeit und praktisch sofort bewältigt wird. Die bei BAT-Angestellten gegebene Möglichkeit zur Anordnung von Überstunden genügt dem Flexibilisierungsbedürfnis nicht. Dies ergibt sich schon daraus, dass die ebenso mögliche Notwendigkeit zur Anordnung von Kurzarbeit rechtlich und praktisch nicht oder jedenfalls nicht rechtzeitig verwirklicht werden könnte.
Die Angestellten werden durch die Weitergeltung des TV in aller Regel auch nicht benachteiligt. Der Tierarzt kann den dienstplanmäßig vorgesehenen Einsätzen gemäß § 12 TV jederzeit widersprechen, ohne rechtlich irgendwelche Folgen befürchten zu müssen. Der Angestellte kann nach§ 9 TV neben der Tätigkeit im Schlachthof jedweder anderen Beschäftigung nachgehen, ohne eine Nebentätigkeitsgenehmigung seines Arbeitgebers einholen zu müssen. Er kann eine tierärztliche Praxis betreiben. Für eine derartige Tätigkeit würde ein nach BAT eingestellter Tierarzt eine Genehmigung wohl nicht erhalten. Geht die Arbeitsmenge im Schlachthof dauerhaft zurück, kann der Arbeitgeber nicht wegen dringender betrieblicher Gründe kündigen, sondern muß die verbleibende Arbeit weiterhin gemäß § 12 TV gleichmäßig verteilen.
Die Vergütung pro Zeiteinheit ist bei den nach TV angestellten Tierärztinnen und Tierärzten - jedenfalls bis in mittlere Jahrgänge - deutlich höher als bei Bediensteten nach dem BAT. Will und kann eine Tierärztin oder ein Tierarzt - wie hier - deutlich mehr als durchschnittlich 38,5 Stunden je Woche arbeiten, so erhält er ein nochmals deutlich erhöhtes Einkommen, welches für den nach BAT angestellten Tierarzt im Schlachthof ... wegen des dort geübten Abfeierns von Mehrarbeit nicht erreichbar ist.
Die Tarifvertragsparteien haben also mit der Anordnung der bestehenbleibenden Anwendung des TV in Fällen der vorliegenden Art. eine den Interessen beider Seiten dienende Regelung geschaffen, an deren Gültigkeit keine durchgreifenden Zweifel bestehen.
Auf die vom Kläger mit wissenschaftlicher Ausführlichkeit aufgeworfenen Fragen rechtlicher Art. kommt es nicht an. Sie gehen sämtlich von der Nichtanwendbarkeit des TV aus und lassen daher die Bedeutung des erörterten abschließenden Teils der Protokollerklärung Nr. 1 außer acht.
Der Kläger kann sein Begehren auch nicht auf eine Zusage der Beklagten stützen. Die nach außen gedrungenen Überlegungen der Beklagten, den Arbeitsvertrag des Klägers und der Parallelklägerin Wünsche auf einen BAT-Vertrag umzustellen, sind nicht verwirklicht worden. Sie sind auch nur von der die Entscheidung lediglich vorbereitenden, sie aber nicht treffen könnenden zuständigen Amtsleitung angestellt worden.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens gemäß § 97 ZPO, weil sein Rechtsmittel ohne Erfolg geblieben ist.
Die Zulassung der Revision beruht auf § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.
Es ist von grundsätzlicher Bedeutung, ob öffentliche Arbeitgeber Angestellte gegen deren Willen auch dann an der Geltung des TV festhalten können, wenn sie diese jahrelang regelmäßig sogar mit mehr als durchschnittlich 38,5 Wochenstunden beschäftigt haben.