Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 26.08.2008, Az.: 1 TaBV 54/08

Betriebsrat; Mitbestimmungsrecht

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
26.08.2008
Aktenzeichen
1 TaBV 54/08
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2008, 55040
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG - 05.05.2008 - AZ: 8 BV 6/08

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Liegen Anhaltspunkte für einen kollektiven Bezug der an zwei Arbeitnehmer gewährten übertariflichen Zulagen vor, ist eine offensichtliche Unzuständigkeit der vom Betriebsrat hierzu nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG begehrten Einigungsstelle nicht gegeben. Davon ist auszugehen, wenn zuvor versucht worden ist eine Höhergruppierung in eine Tarifgruppe durchzusetzen, die von der Vergütungsdifferenz her der übertariflichen Zulage in etwa entspricht.

Tenor:

Auf die Beschwerde des Betriebsrats und Beteiligten zu 1) wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 5. Mai 2008 - 8 BV 6/08 - abgeändert.

Es wird eine Einigungsstelle zum Regelungsgegenstand „übertarifliche Zahlungen“ im Betrieb der Beteiligten zu 2) und 3) unter dem Vorsitz des Vorsitzenden Richters am Bundesarbeitsgericht Dr. M eingerichtet. Die Zahl der Beisitzer für die Arbeitgeber- und Betriebsratsseite wird auf jeweils zwei festgesetzt.

Gründe

I. Die Beteiligten streiten darüber, ob eine Einigungsstelle im Betrieb der Beteiligten zu 2) und 3) zum Regelungsgegenstand „übertarifliche Zulagen“ einzurichten ist.

Mit Beschluss des Arbeitsgerichts vom 5. Mai 2008 - auf den zur Sachverhaltsdarstellung und zum Vorbringen der Beteiligten im ersten Rechtszug verwiesen wird - hat das Arbeitsgericht nach Vernehmung der Zeuginnen G und D den Antrag des Betriebsrats zur Einrichtung einer Einigungsstelle zurückgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, dass die Anträge wegen offensichtlicher Unzuständigkeit der Einigungsstelle unbegründet seien. Ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats sei in der Angelegenheit „Zahlung übertariflicher Zulagen an Arbeitnehmer der Antragsgegnerin“ unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt erkennbar. Zwar bestünde bei der Zahlung übertariflicher Zulagen grundsätzlich ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG; dies erstrecke sich indessen nur auf die kollektive Regelungen und betreffe nicht die individuelle Lohngestaltung, die mit Rücksicht auf besondere Umstände des einzelnen Arbeitsverhältnisses getroffen werde. Die Abgrenzung zwischen kollektiven Tatbeständen und Einzelfallgestaltung richte sich danach, ob es um Strukturformen des Entgelts und ihrer näheren Vollzugsformen gehe, wobei die Anzahl der betroffenen Arbeitnehmer nicht allein maßgeblich sei, aber ein Indiz für den kollektiven Bezug geben könne. Für einen kollektiven Bezug spreche wenn der Arbeitgeber für die Leistung an eine Mehrzahl von Arbeitnehmern ein bestimmtes Budget vorsehe. Der kollektive Bezug fehle hingegen, wenn ein einzelner Arbeitnehmer initiativ werde - etwa mit dem Hinweis, andernfalls werde er das Arbeitsverhältnis nicht eingehen oder beenden - und gerade für sich allein eine individuelle Leistung aushandele. Nach der Befragung der vernommenen Zeuginnen habe sich ergeben, dass diese mehrfach um eine Gehaltserhöhung gebeten und die Arbeitgeberseite darauf hingewiesen hätten, sich auf Grund des Verhältnisses zur Konkurrenz geringeren Verdienstmöglichkeiten gegebenenfalls nach einem anderen Arbeitsplatz umsehen zu müssen. Die Aussagen der Zeuginnen und der Eindruck, den das Schreiben der beiden Zeuginnen vom 5. November 2007 (Bl. 47/48 d. A.) hinterlasse, zeige an, dass diese sich für den Fall, das die Arbeitgeberseite keine Gehaltsverbesserungen vornehmen würden, nach anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeiten umgesehen hätten. Dies spreche, was die übertarifliche Zulage angehe, für einen individuellen Tatbestand. Anhaltspunkte, dass mit der Zahlung der Zulage besondere Leistungen der Arbeitnehmerin hätten vergütet werden sollen, gäbe es nicht. Im Betrieb der Beteiligten zu 2) und 3) sei auch kein Budget für übertarifliche Zulagen geschaffen worden. Zu den Einzelheiten der Beschlussgründe wird auf Blatt 51 bis 57 der Akten Bezug genommen.

Gegen den ihm am 8. Mai 2008 zugestellten Beschluss des Arbeitsgerichts (Bl. 60 d. A.) hat der Betriebsrat Beschwerde zum Landesarbeitsgericht am 27. Mai 2008 (Bl. 69 d. A.) erhoben und diese mit am 11. Juni 2008 (Bl. 76 d. A.) eingehenden Schriftsatz vom 23. Mai 2008 begründet.

Der Betriebsrat und Beteiligte zu 1) rügt eine fehlerhafte, von § 98 ArbGG abweichende Rechtsmittelbelehrung, die ihm die Rechtsmittelfrist nach § 9 Abs. 5 ArbGG eröffnen würden. Das Arbeitsgericht habe den Begriff der „offensichtlichen Unzuständigkeit“ ermessensfehlerhaft interpretiert und über eine umfangreiche, in diesem Verfahren nicht angezeigte Beweisaufnahme letztlich die Zuständigkeit der Einigungsstelle geprüft. Das summarische Verfahren des Bestellungsverfahrens, welches die zügige Erledigung des Einsetzungsantrags zum Ziel habe, stehe indessen einer Beweisaufnahme entgegen. Die Offensichtlichkeitsprüfung betreffe allein eine Rechtsfrage; Tatsachenfragen habe allein die Einigungsstelle zu prüfen. Die freiwilligen übertariflichen Zahlungen an die Arbeitnehmerinnen G und D seien nicht mitbestimmungsfrei, da sie einen kollektiven Bezug hätten. Die Arbeitgeberseite habe aus der zunächst verfolgten tariflichen Höhergruppierung, die an der fehlenden Zustimmung des Betriebsrats gescheitert sei, eine übertarifliche Leistung gemacht. Ein „individueller Tatbestand“ ergebe sich selbst nicht aus den Zeugenaussagen, da beide Zeuginnen nicht ernsthaft die Absicht geäußert hätten sich konkret auf Stellen anderer Arbeitgeber zu bewerben. Dem Höhergruppierungsantrag der Arbeitgeberseite sei auch zu entnehmen, dass besondere Leistungen der Arbeitnehmer honoriert werden sollten, was für ein kollektiven Sachverhalt spreche. Die Höhe der übertariflichen Zulagen entspreche - insoweit unstreitig - in etwa dem Differenzbetrag zwischen der tariflichen Vergütungsgruppe IV und V.

Der Betriebsrat und Beteiligte zu 1) stellt den Antrag,

unter Abänderung des Beschlusses des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 5. Mai 2008 den Vorsitzenden Richter beim Bundesarbeitsgericht Dr. M zum Vorsitzenden einer Einigungsstelle mit dem Regelungsgegenstand „übertarifliche Zulagen“ zu bestellen und die Zahl der von jeder Seite zu benennenden Beisitzer auf je 2 festzusetzen.

Die Beteiligten zu 2) und 3) stellen den Antrag,

die Beschwerde des Betriebsrats zurückzuweisen.

Die Arbeitgeberseite tritt den Beschlussgründen des Arbeitsgerichts bei. Der im Beschlussverfahren anzuwendende Amtermittlungsgrundsatz erfordere eine Sachverhaltsaufklärung durch Beweisaufnahme, weil andernfalls diese durch die Einigungsstelle hätte vorgenommen werden müssen. Mit dem Arbeitsgericht sei davon auszugehen, dass die Zahlung der übertariflichen Zulagen an die beiden Arbeitnehmerinnen keinen kollektiven Bezug haben würden und deshalb ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nicht in Betracht käme.

Zum weiteren Vorbringen der Beteiligten wird auf die im zweiten Rechtszug gewechselten Schriftsätze vom 10. Juni, 24. Juni, 21. Juli und 19. August 2008 nebst Anlagen sowie auf die Anhörungsniederschrift vom 26. August 2008 Bezug genommen.

II. 1. Die Beschwerde des Betriebsrats ist statthaft und zulässig. Sie ist in der Sache begründet und führt in Abänderung des erstinstanzlich zurückweisenden Beschlusses zur Einrichtung einer Einigungsstelle mit jeweils 2 Beisitzern zum Regelungsgegenstand „übertarifliche Zulagen“.

2. Nach § 98 Abs. 2 S. 2 ArbGG ist die Beschwerde im Einigungsstelleneinsetzungsverfahren innerhalb einer Frist von 2 Wochen einzulegen und zu begründen. Die 2-Wochen-Frist hat der Betriebsrat weder bei Einlegung der Beschwerde noch bei Begründung der Beschwerde eingehalten. Der Betriebsrat kann sich indessen zur rechtzeitigen Einlegung und Begründung der Beschwerde auf die fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung des Arbeitsgerichts stützen, die ihm eine Notfrist von einem Monat zur Beschwerdeeinlegung und von 2 Monaten zur Beschwerdebegründung nach Zustellung des Beschlusses eingeräumt hat (Bl. 58 d. A.). Diese unrichtige Rechtsmittelbelehrung hat gemäß § 9 Abs. 5 S. 3 ArbGG zur Folge, dass die Frist des § 98 Abs. 2 S. 2 ArbGG für das Rechtsmittel der Beschwerde nicht mit der am 8. Mai 2008 erfolgten Beschlusszustellung zu laufen begann, sondern nach § 9 Abs. 5 S. 4 ArbGG die dort bestimmte Jahresfrist in Gang gesetzt wurde. Damit ist die Beschwerde und Beschwerdebegründung rechtzeitig eingelegt worden.

3. a) Das Arbeitsgericht hat im Ausgangspunkt zutreffend ausgeführt, dass die Anträge auf Einrichtung einer Einigungsstelle nur dann zurückgewiesen werden dürfen, wenn diese offensichtlich unzuständig ist (§ 98 Abs. 1 S. 2 ArbGG). Dabei sei darauf abzustellen, ob das vom Betriebsrat in Anspruch genommene Mitbestimmungsrecht offensichtlich nicht gegeben sei, was bei fachkundiger Beurteilung durch das Gericht sofort erkennbar sein müsse. Dem tritt das Beschwerdegericht bei.

b) (aa) Der Beschwerde des Betriebsrats ist indessen zuzugeben, dass die Offensichtlichkeitsprüfung lediglich eine Rechtsfrage betrifft, ob sich aus dem gegebenenfalls zu ermittelnden Sachverhalt ein Mitbestimmungsrecht ergeben kann. Dabei kann es im Einzelfall erforderlich sein, den für die Offensichtlichkeitsprüfung erheblichen Sachverhalt von Amts wegen nach §§ 98 Abs. 1 S. 3, 83 Abs. 1 S. 1 ArbGG - unter Umständen auch durch eine Beweisaufnahme - zu erforschen (st.Rspr. des erkennenden Gerichts zuletzt LAG Niedersachsen, 8. Juni 2007 - 1 TaBV 27/07 = LAGE § 98 ArbGG 1979 Nr. 49 mwN).

(bb) Es kann dahinstehen, ob eine gerichtliche Sachverhaltsermittlung durch Zeugeneinvernahme der Arbeitnehmerinnen G und D im vorliegenden Sachverhalt erforderlich war. Der Beschwerde ist nämlich zu folgen, dass Anhaltspunkte für einen kollektiven Bezug der gewährten übertariflichen Zulagen genügen, um eine offensichtliche Unzuständigkeit der begehrten Einigungsstelle auszuschließen. Für einen kollektiven Bezug iSv § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG sprechen beispielsweise die von der Arbeitgeberseite im Vorfeld der übertariflichen Zahlung angestrengten Verfahren zur Höhergruppierung nach § 99 BetrVG. Auch die einheitliche Aufstockung um jeweils 440,00 € brutto monatlich, die in etwa der Vergütungsdifferenz von der tariflichen Vergütungsgruppe IV zur Vergütungsgruppe V entspricht, zeigt auf, dass man sich dabei an der kollektiven Ordnung des Tarifvertrages orientiert hat. Wie sich ferner aus dem Anschreiben der Arbeitgeberseite vom 24. Oktober 2007 ergibt (Bl. 12/13 d. Gerichtsakten), sollten die Sekretärinnenstellen zu Geschäftsassistentenstellen aufgewertet werden. Mit dem größeren Verantwortungsbereich sollte eine höhere Vergütung einhergehen. Dies lässt den Schluss zu, dass die spätere übertarifliche Zulage denselben Zielen wie der Versuch der Höhergruppierung diente. Dann lässt sich der kollektive Bezug den Inhalten der Widerspruchsgründe nach § 99 Abs. 2 BetrVG entnehmen und kann zur rechtlichen Bewertung des arbeitgeberseitigen Vorgehens mit berücksichtigt werden.

(cc) Der Umstand, dass bei etwa 90 Arbeitnehmern der Beteiligten zu 2) und 3) hier nur 2 Arbeitnehmerinnen übertariflich bezahlt werden, kann dagegen keine ausschlaggebende Rolle spielen, wie das Arbeitsgericht es bereits unter Hinweis auf den Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 10. Oktober 2006 (1 ABR 68/05 = EzA § 80 BetrVG 2001 Nr. 6) zutreffend ausgeführt hat.

(dd) Soweit das Arbeitsgericht nach Auswertung der Zeugenaussagen und Vorlage der von den Arbeitnehmerinnen G und D vorgelegten Schreiben vom 5. November 2007 (Bl. 47/48 d. A.) die Überzeugung gewonnen hat, dass es der Arbeitgeberseite darum gegangen sei, die wegstrebenden Arbeitnehmerinnen im Betrieb zu halten, kann dies in einem Vorabentscheidungsverfahren nach § 80 ArbGG den Ausschlag geben, wenn es um die Prüfung der Zuständigkeit der Einigungsstelle und des Bestehens eines Mitbestimmungsrechtes des Betriebsrats geht. Nach dem gelockerten Prüfungsmaßstab der „offensichtlichen Unzuständigkeit“ iSv § 98 ArbGG kann es darauf aber nicht ankommen, solange gegenteilige Anhaltspunkte für einen kollektiven Bezug ebenfalls bestehen.

Die Einigungsstelle ist mithin - wie zuletzt beantragt - einzurichten.

4. Die Person des Einigungsstellenvorsitzenden und die Zahl der Beisitzer stehen zwischen den Beteiligten nicht im Streit.

5. Eine Kostenentscheidung ist nach § 2 Abs. 2 GKG nicht zu treffen, da das Beschlussverfahren gerichtskostenfrei ist.

Gegen diese Entscheidung ist nach § 98 Abs. 2 ArbGG ein Rechtsmittel nicht gegeben.