Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 19.12.1995, Az.: 6 Sa 4/95
Inanspruchnahme von Erziehungsurlaub bei gleichzeitig gewährtem Sonderurlaub ohne Bezüge
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 19.12.1995
- Aktenzeichen
- 6 Sa 4/95
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1995, 10884
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:1995:1219.6SA4.95.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Braunschweig - 15.11.1994 - AZ: 1 Ca 347/94
- nachfolgend
- LAG Niedersachsen - 11.11.1998 - AZ: 6 Sa 2188/97
Rechtsgrundlagen
- § 50 II BAT
- § 15 BErzGG
- § 16 BErzGG
- § 16 Nds. Gleichberechtigungsgesetz
Fundstelle
- ZTR 1996, 373 (Volltext mit amtl. LS)
Prozessführer
...
Prozessgegner
...
Amtlicher Leitsatz
Der Inanspruchnahme von Erziehungsurlaub steht ein bereits für denselben Zeitraum gewährter Sonderurlaub ohne Bezüge (§ 50 Abs. 2 BAT) nicht entgegen.
In dem Rechtsstreit
hat die 6. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen
auf die mündliche Verhandlung vom 19. Dezember 1995
durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht ...
und die ehrenamtlichen Richter ... als Beisitzer
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird unter Zurückweisung der Berufung im übrigen das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 15.11.1994 - 1 Ca 347/94 - wie folgt abgeändert:
Es wird festgestellt, daß die Klägerin in der Zeit vom 28.03.1994 bis 23.07.1995 Erziehungsurlaub hatte.
Die Kosten tragen zu 1/10 die Klägerin und zu 9/10 die Beklagte.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die ... geborene Klägerin ist aufgrund des Anstellungsvertrags vom 10.01.1979 seit dem 13.12.1978 als Verwaltungsangestellte anfänglich zu einer Vergütung nach der Vergütungsgruppe IX BAT beschäftigt. Die Parteien vereinbarten für das Arbeitsverhältnis die Geltung des BAT und der diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarif vertrage.
Auf Antrag der Klägerin vom 07.01.1991 gewahrte ihr die Beklagte bereits Erziehungsurlaub für ihren erstgeborenen Sohn in der Zeit vom 22.03.91 bis 23.07.92. Daran anschließend vereinbarten die Parteien im Zusatzvertrag vom 02.06.1992 die Beurlaubung für die Zeit vom 24.07.92 bis 23.07.95. Nach § 7 dieser Vereinbarung war eine vorzeitige Beendigung der vereinbarten Beurlaubung nicht möglich. Nach der Geburt ihres Sohnes ... am 1994 beantragte die Klägerin für die Zeit vom 01.02.94 bis 31.01.97 zunächst vergeblich Erziehungsurlaub. Diesen gewahrt ihr - wie im Berufungsverfahren unstreitig geworden ist - die Beklagte erst ab 24.07.95 bis 31.07.97. Deswegen hat die Klägerin am 18.07.94 Klage erhoben auf Gewährung von Erziehungsurlaub für die Zeit vom 01.02.94 bis 31.01.97 und auf Anerkennung dieses Erziehungsurlaubs als Dienst-/Beschaftigungszeit.
Erziehungsgeld erhielt die Klägerin aufgrund des Bescheides der Stadt vom 04.05.94 für die Zeit ab 31.01.94 bis 31.01.95.
Die Klägerin hat gemeint, auch die Gemeinden mußten der Empfehlung des Runderlasses des Nds. MI und MF vom 13.04.1994 (Nds. MBl S. 554) folgen. Nach Sinn und Zweck des Bundeserziehungsgeldgesetzes, erwerbstätigen Eltern die Möglichkeit zur Erziehung und Betreuung ihres Kindes bis zur Vollendung des 3. Lebensjahrs zu ermöglichen, ohne auf die aus dem Fortbestand des Arbeitsverhältnisses sich ergebenden finanziellen Sicherungen und Vorteile verzichten zu müssen, folge, daß in Anspruch genommener Sonderurlaub in Zusammenhang mit der Geburt eines älteren Kindes der Gewährung von Erziehungsurlaub nicht entgegenstehen könne.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin für die Zeit vom 01.02.1994 bis 31.01.1997 Erziehungsurlaub zu gewähren und diesen Erziehungsurlaub als Dienst-/Beschäftigungszeit anzuerkennen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, aus Anlaß der der Klägerin gewährten Beurlaubung im Zusammenhang mit der Geburt ihres ersten Kindes sei die Klägerin bereits von der Arbeit freigestellt, so daß sie aus Anlaß der Geburt ihres Sohnes ... nicht nochmals durch Gewährung von Erziehungsurlaub von Arbeit freigestellt werden könne. Bereits der vereinbarte Sonderurlaub habe zum Ruhen der beiderseitigen Hauptpflichten aus dem Arbeitsverhältnis geführt. Die begehrte Gewährung von Erziehungsurlaub setze voraus, daß die Klägerin einen Anspruch auf vorzeitige Beendigung ihres Sonderurlaubs habe, der sich weder aus dem Tarifvertrag noch der Einzelvereinbarung ableiten lasse.
Das Arbeitsgericht hat durch Urteil vom 15.11.1994 der Klage stattgegeben nach einem Streitwert von DM 6.000,-. Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Vortrags der Parteien und der Würdigung dieses Vorbringens durch das Arbeitsgericht wird auf Tatbestand und Entscheidungsgründe seines Urteils ergänzend Bezug genommen.
Die Beklagte hat gegen dieses ihr am 01.12.1994 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts am 02.01.1995 Berufung beim Landesarbeitsgericht eingelegt und diese am 26.01.1995 begründet.
Die Beklagte ist der Ansicht, der Klägerin sei die Erziehung und Betreuung ihrer Kinder bereits aufgrund des ihr gem.§ 50 Abs. 2 BAT gewährten Sonderurlaubs möglich. Während des ruhenden Arbeitsverhältnisses scheide über die Regelung des § 15 Abs. 2 BErzGG die Gewährung von Erziehungsurlaub aus.
Denn ein Arbeitnehmer könne nur dann einen Anspruch auf Freistellung von der Arbeit geltend machen, wenn seine Arbeitsverpflichtung bestehe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 15.11.1994 - 1 Ca 347/94 - abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
hilfsweise festzustellen, daß die Klägerin in der Zeit vom 28.3.94 bis 23.7.95 Erziehungsurlaub hatte.
Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil als der Rechtslage entsprechend. Sie verweist auf die unterschiedliche Rechtsstellung der Erziehungsurlauberin gegenüber der Sonderurlauberin gem. § 50 Abs. 2 BAT hinsichtlich der Anrechnung der Zeit des Erziehungsurlaubs als Dienst- bzw. Beschäftigungszeit und meint, ihr Anspruch auf Erziehungsurlaub für ihr zweites Kind laufe sonst leer bis zum Ablauf des Sonderurlaubs für ihr erstgeborenes Kind. Im übrigen sieht sich die Klägerin gegenüber anderen Frauen benachteiligt, die bei jedem, ihrer Kinder Erziehungsurlaub in Anspruch nehmen und daraus Vorteile ziehen.
Wegen des von der Beklagten ab 24.07.95 gewährten Erziehungsurlaubs haben die Parteien insoweit übereinstimmend die Hauptsache für erledigt erklärt.
Entscheidungsgründe
I.
Die gemäß § 64 Abs. 2 ArbGG statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Die Beklagte hat sich ausführlich mit den Entscheidungsgründen des Urteils des Arbeitsgerichts auseinandergesetzt und ist ihnen entgegengetreten. Damit ist ihre Berufung insgesamt zulässig.
II.
Die Berufung ist jedoch nur zum Teil begründet, und zwar soweit das Arbeitsgericht dem Klagebegehren für die Zeit vom 01.02. bis 27.03.94 stattgegeben und darüberhinaus der Leistungsklage entsprochen hat. Im übrigen ist die Berufung hinsichtlich des Zeitraums vom 28.03.94 bis 23.07.95 unbegründet. Für die Zeit ab 24.07.95 ist durch Gewährung von Erziehungsurlaub die Hauptsache erledigt, so daß insoweit über die Kosten nach § 91 a ZPO zu entscheiden war.
1.
Die Klage war zulässig mit dem Leistungsantrag, der auf Gewährung von Erziehungsurlaub gerichtet war, und dem als Feststellungsantrag auszulegenden Teil des Antrags auf Anerkennung als Dienst-/Beschäftigungszeit. Nachdem der streitige Zeitraum 01.02.94 bis 23.07.95 abgelaufen ist und bezüglich des Leistungsantrags durch Zeitablauf Erledigung eingetreten ist, ist die Klage nur noch mit dem Feststellungsantrag, der auf Anregung des Gerichts im Hilfsantrag klargestellt wurde, zulässig. Zwar hat der Feststellungsantrag nicht das gesamte zwischen den Parteien bestehende Rechtsverhältnis zum Gegenstand. Dies ist auch nicht erforderlich, weil Gegenstand einer Feststellungsklage auch einzelne aus einem Arbeitsverhältnis sich ergebende Ansprüche und Pflichten sein können (BAG AP Nr. 5 zu § 1 TVG Tarifverträge: Süßwarenindustrie und AP Nr. 1 zu§ 4 TVG Bestimmungsrecht). Die Feststellungsklage ist für die Klägerin die einzige - auch prozeßwirtschaftliche - Möglichkeit, die Frage, ob ihre ab 01.02.94 laufende Beurlaubung als Erziehungsurlaub erfolgt ist, feststellen zu lassen. Dagegen ergeben sich gegen die Zulässigkeit der Feststellungsklage keine Bedenken aus dem Umstand, daß sie auf die Feststellung eines Zustands in der Vergangenheit gerichtet ist. Denn das Feststellungsinteresse beruht auf dem rechtlichen Interesse, daß Erziehungsurlaub auf die Beschäftigungszeit der Klägerin anrechenbar ist und sich dadurch Rechtsfolgen für die Zukunft des Arbeitsverhältnisses ergeben (BAG AP Nrn. 17 und 22 zu§ 256 ZPO).
2.
Unbegründet ist die Klage, soweit die Klägerin die Feststellung von Erziehungsurlaub für die Zeit vom 01.02.94 bis 27.03.94 begehrt. Aus § 15 BErzGG, der einzig denkbaren Anspruchsgrundlage, läßt sich für diesen Zeitraum kein Anspruch herleiten. Denn § 15 Abs. 2 Ziff. 1 BErzGG bestimmt, daß ein Anspruch auf Erziehungsurlaub nicht besteht, solange die Mutter als Wöchnerin bis zum Ablauf von 8 Wochen nach der Geburt nicht beschäftigt werden darf. Diese Vorschrift knüpft an die Schutzfrist gem. § 6 MuSchG an, in der ein generelles Beschäftigungsverbot besteht und der Mutter das Mutterschaftsgeld nach§ 13 MuSchG zusteht. Die Voraussetzungen des § 15 Abs. 2 Satz 2 BErzGG (Adoptionspflege oder Erziehungsurlaub wegen eines anderen Kindes) sind ersichtlich nicht erfüllt.
3.
Die auf die Feststellung des Erziehungsurlaubs für die Zeit vom 28.03.94 bis 23.07.95 gerichtete Klage ist begründet. Denn die Klägerin betreute ihren am 31.01.94 geborenen Sohn ... in diesem Zeitraum selbst. Das Recht der Personensorge steht ihr unbestritten zu (§ 15 Abs. 1 BErzGG). Sie hat mit Antrag vom 01.02.94 bei der Beklagten Erziehungsurlaub verlangt bis zum Ablauf des 3. Lebensjahres ihres Sohnes und damit die Voraussetzungen des § 16 Abs. 1 Satz 1 BErzGG erfüllt.
Der der Klägerin für die Zeit bis 23.07.95 gewährte Sonderurlaub nach § 50 Abs. 2 BAT schließt den durch einseitige Gestaltung der Klägerin zustandegekommenen Erziehungsurlaub ab 28.03.94 nicht aus (Zmarzlik, Zipperer, Viethen, MuSchG, Mutterschaftsleistungen, BErzGG, 7. A.,§ 15 BErzGG Rn. 11). Dies folgt aus der in § 15 Abs. 3 BErzGG bestimmten Unabdingbarkeit des Erziehungsurlaubs, der nicht durch Vertrag ausgeschlossen oder beschränkt werden kann (Gröninger/Thomas, BErzGG, § 15 Randziffer 31, Göhle-Sander, HwB AR Ziffer 830 Randziffer 55). Daraus folgt aber, daß ein wie hier vereinbarter Sonderurlaub bei begründetem Verlangen der Klägerin nach Erziehungsurlaub gegenstandslos wird. Andernfalls würde der gesetzliche Erziehungsurlaub durch Einzelvereinbarung ganz oder teilweise ausgeschlossen. Es gäbe auch keinen einleuchtenden Grund dafür, der Klägerin den vom Gesetzgeber gewollten mit dem Erziehungsurlaub verbundenen besonderen Kündigungsschutz nach§ 18 BErzGG und die Anrechnung des Erziehungsurlaubs auf die Beschäftigungszeit gemäß § 19 BAT zu versagen, weil sie vor Beginn der Schwangerschaft ihres Sohnes ... zur Betreuung ihres erstgeborenen Sohnes Sonderurlaub vereinbart hatte. Die Gegenmeinung (Clemens-Scheuring-Steingen-Wiese, BAT, § 50 Erl. 2) übersieht die Unabdingbarkeit des Erziehungsurlaubs und dessen weitergehende Schutzfunktion und kann den Wertungswiderspruch nicht erklären. Dagegen muß der zur Betreuung des erstgeborenen Sohnes vereinbarte Sonderurlaub leerlaufen bei der Inanspruchnahme des Erziehungsurlaubs zur Betreuung des nachgeborenen Kindes, nicht umgekehrt. Dies folgt aus der Unabdingbarkeit des Erziehungsurlaubs. Hinzu kommt seit Inkrafttreten des Nds. Gleichberechtigungsgesetzes (NGG) am 01.07.1994, das gem. § 2 Abs. 1 Ziff. 1 auch für die Verwaltungen der Gemeinden gilt, daß nach § 16 Abs. 2 NGG den Beschäftigten, die Erziehungsurlaub in Anspruch nehmen, aus diesem Grund keine dienstlichen Nachteile entstehen dürfen.
Die von der Beklagten für ihren Rechtsstandpunkt in Bezug genommenen Entscheidungen des BAG vom 06.09.94 - 9 AZR 221/93 - EzBAT§ 50 BAT Nr. 9 und des OVG Münster, Urteil vom 16.12.94 - 1 A 1718/90 - ZBR 95, 312 befassen sich nicht mit den hier zu entscheidenden Rechtsfragen. Die Arbeitnehmerin wollte die Sonderurlaubsvereinbarung mit ihrem Arbeitgeber aufheben, um vor der Geburt ihres zweiten Kindes wieder zu arbeiten; die nach § 79 a BBG beurlaubte Beamtin begehrte Erziehungsurlaub nach der ErzUrlV F. 1985.
Soweit die Berufung begründet war, war das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen. Im übrigen war die Berufung zurückzuweisen.
III.
Gemäß § 92 ZPO waren die Kosten des Rechtsstreits im Verhältnis des Obsiegens bzw. Unterliegens der Parteien unter Einbeziehung des erledigten Teils gemäß § 91 a ZPO zu teilen.
Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache hat die Kammer die Revision zugelassen.