Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 21.01.2011, Az.: 1 TaBV 68/10

Einigungsstelle zum "Ausgleich von Belastungen durch stehende Tätigkeit" bei Schichtbetrieb in Bekleidungsgeschäft; Mitbestimmungsrechte bei Gesundheitsgefährdung durch dauerhaft stehende Tätigkeiten

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
21.01.2011
Aktenzeichen
1 TaBV 68/10
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 11817
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:2011:0121.1TABV68.10.0A

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Hannover - 10.08.2010 - AZ: 6 BV 27/10

Fundstellen

  • AiB 2013, 529
  • EzA-SD 6/2011, 12
  • NZA 2011, 820
  • NZA-RR 2011, 247-248

Amtlicher Leitsatz

Eine Einigungsstelle zum Regelungsgegenstand "Ausgleich von Belastungen durch stehende Tätigkeit" in einem Bekleidungsgeschäft mit 130 Arbeitnehmern im Schichtbetrieb ist angesichts möglicher Beteiligungsrechte des Betriebsrats aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG i. V. m. §§ 3 ff. ArbSchG nicht offensichtlich unzuständig.

Tenor:

Die Beschwerde der Arbeitgeberin (Beteiligte zu 2) gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Hannover vom 10. August 2010 - 6 BV 27/10 - wird zurückgewiesen.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten im 2. Rechtszug noch darüber, ob die bereits mit jeweils zwei Beisitzern unter dem Vorsitz des Richters am Arbeitsgerichts A. eingesetzte Einigungsstelle mit dem Regelungsgegenstand "Abschluss einer Betriebsvereinbarung über Maßnahmen bei einem Raumklima von mehr als +26 Grad" auch zum Regelungsgegenstand "Ausgleich von Belastungen durch stehende Tätigkeit" zu beauftragen ist.

2

Der Beteiligte zu 2) ist die Filiale 623 eines deutschlandweit vertretenen Bekleidungsgeschäfts in B-Stadt. Dort sind im Bereich Verkauf, Kasse und Lager insgesamt 130 Arbeitnehmer im Schichtbetrieb eingesetzt. Die Beteiligten vertreten unterschiedliche Standpunkte dazu, ob in allen Bereichen Maßnahmen zum Ausgleich einer gesundheitlich belastenden "stehenden" Tätigkeit zu treffen sind und diese dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats unterfallen. Inzwischen hat die Arbeitgeberin und Beteiligte zu 2) unstreitig zehn Stehhilfen für die auf fünf Etagen befindlichen Geschäftsräume der Filiale 623 angeschafft, die insbesondere in den Bereichen Kasse und Anprobe eingesetzt werden.

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Das Arbeitsgericht hat mit Beschluss vom 10. August 2010 - 6 BV 27/10 - dem Antrag auf Einsetzung einer Einigungsstelle auch zum Regelungsgegenstand "Ausgleich von Belastungen durch stehende Tätigkeit" entsprochen und die Einigungsstelle unter dem Vorsitz des Richters am Arbeitsgericht A. mit jeweils zwei Beisitzern auf jeder Seite eingesetzt. Es hat insoweit eine offensichtliche Unzuständigkeit der Einigungsstelle verneint, da die Arbeitsstättenverordnung und die Richtlinien hierzu als Rahmenregelung zu arbeitsschutzrechtlichen Vorschriften begriffen werden könnten und einen Regelungsspielraum für die Betriebspartner eröffneten. Inwieweit die Einigungsstelle zuständig sei, müsse diese letztlich in eigener Regelungsbefugnis selbst entscheiden. Dazu zähle auch, dass die Einigungsstelle zu prüfen habe, ob im Zusammenhang mit dem Problemkreis "Ausgleich von Belastungen für stehende Tätigkeit" vor dem Hintergrund des § 87 Abs. 1 Ziffer 7 BetrVG i. V. m. §§ 4, 5 Abs. 3 ArbStättV eine ausfüllungsfähige und den Betriebspartnern zugängliche öffentlich-rechtliche Rahmenvorschrift vorliege. Einen Erfahrungssatz des Inhalts, dass eine ständig stehende Tätigkeit nicht körperlich belastend sei und Gesundheitsschäden nicht auszulösen im Stande sei, bestünde nicht. Zu den weiteren Einzelheiten der Begründung und dem Vorbringen der Beteiligten im ersten Rechtszug wird auf den Beschlussinhalt (Bl. 26 - 29 d. A.) Bezug genommen.

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Gegen den ihr am 13. August 2010 zugestellten Beschluss des Arbeitsgerichts hat die Arbeitgeberin mit einem beim Landesarbeitsgericht am 27. August 2010 eingegangenen Schriftsatz Beschwerde nebst Begründung eingelegt.

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Sie beanstandet, dass die genannten Vorschriften in §§ 4 und 5 ArbStättV nicht ein-schlägig seien; außerdem bestehe keine ausfüllungsbedürftige gesetzliche Rahmenregelung bzw. Unfallverhütungsvorschrift i. S. d. § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter übten keine stehende Tätigkeit im Sinne der in der Handlungsanleitung des Länderausschusses für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik vorgegebenen bewegungsergonomischen Gestaltung aus (Anlage 1; Bl. 96 - 120 d. A.). Andauernde Steharbeit sei nur anzunehmen, wenn die Arbeit in der Körperhaltung stehend zu verrichten sei ohne die Möglichkeit sich wenige 20 cm zur Seite, nach vorne, nach hinten zu bewegen oder ohne zeitweilige Entlastung durch Gehen oder Sitzen zur Zwangshaltung werde. Dies sei nach den tatsächlichen Verhältnissen im Filialbetrieb nicht der Fall. Im Übrigen habe das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass (schwangere) Verkäuferinnen keine stehende Tätigkeit verrichteten, die ein Beschäftigungsverbot nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 MuSchG nach sich ziehe.

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Die Arbeitgeberin und Beteiligte zu 2) beantragt,

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den Beschluss des Arbeitsgerichts Hannover vom 10. August 2010 - 6 BV 27/10 - abzuändern und die Anträge, soweit angefochten, abzuweisen.

8

Der Betriebsrat und Beteiligte zu 1) stellt den Antrag,

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die Beschwerde zurückzuweisen.

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Er verteidigt die angefochtene Entscheidung des Arbeitsgerichts und behauptet, dass es sich bei der Tätigkeit im Kassen-, Anprobe- und Lagerbereich um eine "stehende Tätigkeit" handele, die eine Gesundheitsgefährdung nach sich ziehe. Er überreicht hierzu einen Artikel zur "Gesundheitsgefährdung durch andauernde Steharbeit" (Bl. 61 f. d. A.) und verweist auf die Vorschriften in § 3 ArbStättV sowie auf § 4 Nr. 1 ArbSchG, wonach die Arbeit so zu gestalten sei, dass eine Gefährdung für Leben und Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten werde. Er nimmt ferner Bezug auf den Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 15. Januar 2002

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(1 ABR 13/01), welcher die Regelung des Gesundheitsschutzes der Mitbestimmungspflicht des Betriebsrats unterwerfe. Schließlich erinnert er an den im Einigungsstellenbesetzungsverfahren geminderten Prüfungsmaßstab des § 98 ArbGG.

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Das Gericht hat im Einvernehmen mit den Beteiligten im Anhörungstermin sowohl die Filialleiterin Frau C. als auch die Betriebsratsvorsitzende Frau D. informatorisch zu der Frage vernommen, ob sich Mitarbeiter in der betroffenen Filiale während ihrer Tätigkeit z. B. im Kassenbereich frei bewegen können. Zum Inhalt ihrer Aussagen wird auf das Protokoll der Sitzung vom 18. Januar 2011 Bezug genommen.

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II. Die zulässige Beschwerde der Arbeitgeberin dringt in der Sache nicht durch. Die Einigungsstelle ist zum Regelungsgegenstand "Ausgleich von Belastungen durch stehende Tätigkeit" nicht offensichtlich unzuständig. Die Beschwerde der Arbeitgeberin war daher zurückzuweisen.

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1. Eine offensichtliche Unzuständigkeit der angerufenen Einigungsstelle ist nur dann gegeben, wenn Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats bei fachkundiger Beurteilung schon auf den ersten Blick nicht in Betracht zu ziehen sind (GMPM-G/ArbGG, 7. Aufl.

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§ 98 ArbGG Rn. 8; LAG Niedersachsen 8. Juni 2007 - 1 TaBV 27/07 = LAGE § 98 ArbGG 1979 Nr. 49). Davon kann hier keine Rede sein. Der Beschwerde ist zwar zuzugeben, dass die vom Arbeitsgericht genannten Vorschriften in §§ 4, 5 ArbStättV nicht einschlägig sind. Diese verhalten sich inhaltlich (z. B. Nichtraucherschutz) nicht zu dem hier streitigen Regelungsgegenstand. Gleichwohl ist ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG i. V. m. § 3 ff. ArbSchG nicht auszuschließen, soweit eine konkrete Gesundheitsgefährdung möglich ist (vgl. LAG A-Stadt 1. Februar 2007 - 8 TaBV 18/06 = MDR 2007, 1083; LAG A-Stadt 17. August 2007 - 6 TaBV 9/07 = AiB 2008, 101 [LAG Hamburg 17.08.2007 - 6 Ta BV 9/07]; LAG Mecklenburg-Vorpommern 11. November 2008 - 5 TaBV 16/08; ErfKom-Wank, 11. Aufl. § 3 ArbSchG Rn. 4; ErfKom-Kania § 87 BetrVG, aaO. Rn. 66, j. m. w. N.). Danach kann ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Frage des Ausgleichs für stehende Tätigkeiten nicht grundsätzlich verneint werden.

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2. Allerdings ist eine konkrete Gefährdung darzulegen, da inzwischen die Arbeitgeberin unstreitig zehn Stehhilfen angeschafft und im Filialbetrieb verteilt hat. Im Streit hierüber ist hierzu der Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären (LAG Niedersachsen 8. Juni 2007, aaO.). Mit der Beschwerde ist davon auszugehen, dass für die reine Verkäufertätigkeit keine Gesundheitsgefährdung durch "dauerhaft stehende Tätigkeiten" anfallen dürfte. Dies wird durch die von der Arbeitgeberin angeführte Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 25. Juni 1970 (2 AZR 376/69 = EzA § 9 nF MuSchG Nr. 9) beiläufig zur Beurteilung des § 4 Abs. 2 Nr. 2 MuSchG bestätigt. Es ist mithin anzunehmen, dass eine Verkaufstätigkeit nicht mit dauerhafter stehender Tätigkeit verbunden ist. Jedoch hat die informatorische Anhörung der Betriebsratsvorsitzenden sowie der Filialleiterin im Anhörungstermin aus Sicht des Gerichts belegt, dass im Einzelfall eine längere stehende Tätigkeit im Kassen- und Lagerbereich anfallen kann. Da dem Betriebsrat und Beteiligten zu 1) bei der Frage, wo und für wen die angeschafften Stehhilfen einzusetzen sind, ein Initiativrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG nicht ohne Weiteres abgesprochen werden kann (vgl. BAG 12. August 2008 - 9 AZR 1117/06 = EzA § 618 BGB 2002 Nr. 3 zu Rn. 31) und da ihm auch Rechte zur Gefährdungsbeurteilung i. S. v. § 5 Abs. 1 ArbSchG zustehen, dürfte die einzusetzende Einigungsstelle hier nicht offensichtlich unzuständig sein. Ob tatsächlich eine Zuständigkeit der Einigungsstelle greift, hat diese in eigener Zuständigkeit zu entscheiden.

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3. Eine Kostenentscheidung ist nach § 2 Abs. 2 GKG nicht zu treffen, da das Beschlussverfahren gerichtskostenfrei ist.

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IV. Gegen diese Entscheidung ist nach § 98 Abs. 2 GKG ein Rechtsmittel nicht gegeben.

Prof. Dr. Lipke