Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 21.02.2011, Az.: 12 Sa 1249/10
Psychiatrie-Zulage für Krankenschwester bei Grund- und Behandlungspflege auf halbgeschlossener Station
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 21.02.2011
- Aktenzeichen
- 12 Sa 1249/10
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2011, 38166
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:2011:0221.12SA1249.10.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- BAG - 11.07.2012 - AZ: 10 AZR 287/11
Rechtsgrundlagen
- AVR Anlage 2 a Anm. VI Nr. 1 b
- § 611 Abs. 1 BGB
Fundstellen
- PflR 2011, 407-410
- ZTR 2011, 495
Amtlicher Leitsatz
1. Wenn eine psychiatrische Abteilung oder Station nach ihren technischen und baulichen Voraussetzungen, ihrer medizinischen Zweckbestimmung und der Ausbildung des dort vorgehaltenen Pflegepersonals (auch) dazu bestimmt ist, Kranke zu behandeln, die dem Stationsgebot unterliegen, so ist davon auszugehen, dass es sich um eine Station im Sinne der Anmerkung VI Ziffer 1 b) der Anlage 2 a) zu den AVR handelt, wenn die Station "in gewissem Umfang" also zumindest mehrere Wochen im Jahr tatsächlich geschlossen wird.
2. Der Charakter als halbgeschlossene Station ist hingegen zu verneinen, wenn eine psychiatrische Abteilung, die von ihrer räumlichen, technischen und personellen Ausstattung sowie der medizinischen Zielsetzung grundsätzlich nicht auf die Behandlung von Patienten, die dem Stationsgebot unterliegen, ausgerichtet ist, dennoch in einem oder mehreren Einzelfällen quasi "ausnahmsweise" Patienten zu betreuen hat, für die ein Unterbringungsbeschluss vorliegt oder die der Betreuung unterliegen.
In dem Rechtsstreit
Klägerin, Berufungsbeklagte und Berufungsklägerin,
gegen
Beklagte, Berufungsklägerin und Berufungsbeklagte,
hat die 12. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen auf die mündliche Verhandlung vom 21. Februar 2011 durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Walkling,
den ehrenamtlichen Richter Herrn Jorczyk,
den ehrenamtlichen Richter Herrn Günther
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts A-Stadt vom 17.06.2010 - 3 Ca 663/09 - teilweise abgeändert und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin weitere 322,14 € brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 18.12.2009 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Klägerin von der Beklagten eine monatliche Zulage in Höhe von zurzeit 46,02 € brutto verlangen kann, weil sie als Krankenschwester die Grund- und Behandlungspflege zeitlich überwiegend bei Kranken auf der allgemeinpsychiatrischen Station V der Beklagten ausübt.
Die am 00.00.1960 geborene Klägerin ist bei der Beklagten bzw. ihrer Rechtsvorgängerin seit dem 01.06.1999 als Krankenschwester mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden beschäftigt. Der zwischen den Parteien geschlossene schriftliche Dienstvertrag nimmt in § 2 auf die Richtlinien für Arbeitsverträge bei den Einrichtungen des Deutschen Caritas-Verbandes (AVR) in ihrer jeweils geltenden Fassung Bezug. Die Klägerin ist derzeit in die Vergütungsgruppe Kr 5 a eingruppiert. Danach beträgt ihr regelmäßiger monatlicher Bruttolohn durchschnittlich 3.100,00 €.
Die auf das Arbeitsverhältnis der Parteien anzuwendende Anmerkung VI Ziffer 1 b) der Anlage 2 a) zu den AVR lautet wie folgt:
"Pflegepersonen der Vergütungsgruppen Kr 1 bis Kr 7, die die Grund- und Behandlungspflege zeitlich überwiegend bei (...) b) Kranken in geschlossenen oder halbgeschlossenen (Open-door-system) psychiatrischen Abteilungen oder Stationen (...) ausüben, erhalten für die Dauer dieser Tätigkeit eine monatliche Zulage von 46,02 €."
Die Klägerin ist als Krankenschwester ausschließlich auf der Station V der Beklagten beschäftigt. Es handelt sich um eine allgemeinpsychiatrische Akut-Station. Die Station verfügt über maximal 22 Betten. Hinsichtlich der dort regelmäßig zu behandelnden Erkrankungen wird auf Seite 3 des erstinstanzlichen Urteils vom 17.06.2010 verwiesen. Die Station V wird aufgrund richterlicher Anordnung, unabhängig davon, ob alle Patienten oder nur ein Patient betroffen sind, für bestimmte Zeiträume vollständig geschlossen. Das Pflegepersonal hat in solchen Fällen die ausschließliche Schlüsselgewalt über die Station. Patienten, die sich ohne richterliche Anordnung auf der Station V aufhalten, müssen jeweils die Krankenschwestern bzw. Krankenpfleger bitten, die Station für sie aufzuschließen, wenn sie diese innerhalb der Zeiten, in denen die Station aufgrund richterlicher Anordnung geschlossen ist, verlassen möchten. Patienten mit einer richterlichen Anordnung auf geschlossene Unterbringung können die Station nicht verlassen. Je nach Umfang der richterlichen Anordnung ist die Station V stundenlang, tagelang oder wochenlang geschlossen. Zum zeitlichen Umfang dieser Schließungen im Zeitraum von November 2007 bis einschließlich Mai 2010 wird auf die Aufstellungen im Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils vom 17.06.2010 (dort Seite 3 bis 5) verwiesen.
Die Klägerin hat geltend gemacht, es handele sich damit insgesamt um eine halbgeschlossene Station im Sinne der Anmerkung VI Ziffer 1 b) der Anlage 2 a) zu den AVR. Dass die Station nur für bestimmte Zeiträume halbgeschlossen sei, ändere nichts an der Erfüllung der in den AVR für die monatliche Zulage von 46,02 € aufgestellten Voraussetzungen.
Die Klägerin hat beantragt,
1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 1.150,40 € brutto nebst 5 Prozentpunkten Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;
2. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin weitere 276,12 € brutto nebst 5 Prozentpunkten Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat geltend gemacht, die Voraussetzungen für die Zahlung der Psychiatriezulage lägen nicht vor. Bei der Station V, auf der die Klägerin eingesetzt sei, handele es sich dem Charakter nach nicht um eine geschlossene oder halbgeschlossene Station. Schon nach der Anzahl der betroffenen Patienten liege eine Schließung nur in Ausnahmefällen vor. Auch in zeitlicher Hinsicht überwögen die Phasen, in denen eine Schließung der Station nicht angeordnet worden sei. Aufgeschlüsselt nach der belegbaren Bettanzahl von 22 reduzierten sich die Schließzeiten ins Bedeutungslose.
Mit Urteil vom 17.06.2010 hat das Arbeitsgericht A-Stadt der Klage im Umfange von 1.380,60 € brutto stattgegeben und sie lediglich im Umfange von 322,14 € brutto (entsprechend der Zulage für sieben Monate) abgewiesen. Für beide Parteien wurde die Berufung zugelassen.
Dieses Urteil des Arbeitsgerichts A-Stadt vom 17.06.2010 wurde am 20.07.2010 an die jeweiligen Prozessbevollmächtigten der Parteien zugestellt. Die hiergegen gerichtete Berufungsschrift der Beklagten ist am 11.08.2010 und diejenige der Klägerin am 18.08.2010 beim Landesarbeitsgericht eingegangen. Die Berufungsbegründung der Klägerin ist am 20.09.2010 beim Landesarbeitsgericht eingegangen. Die Berufungsbegründung der Beklagten ging am 20.10.2010, dem letzten Tag der für die Beklagte verlängerten Berufungsbegründungsfrist beim Landesarbeitsgericht ein.
Zur Begründung ihrer Berufung hat die Klägerin darauf abgestellt, dass das Tarifmerkmal "zeitlich überwiegend" lediglich dazu diene, die Zuordnung einer Pflegeperson zu einer bestimmten Abteilung oder Station herzustellen. Wenn eine Pflegeperson einer geschlossenen oder halbgeschlossenen psychiatrischen Abteilung oder Station zuzuordnen sei, so sei die Zulage dauerhaft zu zahlen - unabhängig davon, in welchem Umfang die Station tagesaktuell geschlossen oder geöffnet sei. Es komme lediglich darauf an, dass es sich überhaupt um eine geschlossene oder halbgeschlossene psychiatrische Abteilung oder Station handelt. Da die Klägerin dauerhaft der Station V bei der Beklagten zugeordnet sei, müsse sie die streitbefangene Zulage auch durchgängig erhalten. Da die Station V das Merkmal einer "geschlossenen oder halbgeschlossenen psychiatrischen Abteilung oder Station" erfülle, sei die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
1. das Urteil des Arbeitsgerichts A-Stadt vom 17.06.2010 - 3 Ca 663/09 - teilweise abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin weitere 322,14 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;
2. die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
1. die Berufung der Klägerin zurückzuweisen;
2. das Urteil des Arbeitsgerichts A-Stadt vom 17.06.2010 - 3 Ca 663/09 - abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.
Die Beklagte führt zur Begründung ihrer Berufung bzw. zur Begründung des Berufungsabweisungsantrages gegenüber der Berufung der Klägerin aus, dass das Arbeitsgericht den Charakter der Station V sowohl im Hinblick auf die Schließzeiten als auch im Hinblick auf die geringe Anzahl der Patienten, für deren die Behandlung die Station geschlossen werden muss, verkannt habe. Die sich im Bagatellbereich bewegenden Schließzeiten könnten für den Charakter der Station nicht ausschlaggebend sein. Es sei zu undifferenziert, wenn das Arbeitsgericht lediglich auf die Stunden, Tage und Wochen abstelle, an denen die Station geschlossen werden musste. Richtigerweise müsse dahingehend aufgeschlüsselt werden, für wie viele Patienten und für welche Verweildauer dieser Patienten die Station geschlossen hätte werden müssen.
Ergänzend wird auf die zwischen den Parteien in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze und die Sitzungsniederschrift der mündlichen Verhandlung am 21.02.2011 verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die statthafte, weil für die Klägerin ausdrücklich zugelassene, und form- sowie fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist begründet. Die statthafte und frist- sowie formgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist unbegründet.
I. Dies folgt daraus, dass die Station V, auf der die Klägerin dauerhaft ihren Dienst zu erbringen hat, als "halbgeschlossene (Open-door-system) psychiatrische Abteilung oder Station" im Sinne der maßgeblichen Anmerkung VI Ziffer 1 b) der Anlage 2 a) zu den AVR anzusehen ist.
1. Da die Anmerkung VI Ziffer 1 b) der Anlage 2 a) zu den AVR inhaltlich der Protokollerklärung Nr. 1 (1) Buchstabe b) der Anlage 1 b) zum BAT entspricht, kann auf die zur letztgenannten Tarifnorm ergangene Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts Bezug genommen werden. Der Umstand, dass es sich bei den AVR nicht um einen Tarifvertrag handelt, führt im vorliegenden Fall zu keiner anderen Beurteilung. Die Auslegung einer derartigen kirchlichen Arbeitsrechtsregelung erfolgt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nach den gleichen Grundsätzen, wie sie für die Tarifauslegung maßgeblich sind (BAG 21.10.2009, 10 AZR 786/08, AP Nr. 5 zu AVR Caritas-Verband Anlage 1, Rn. 28 m. w. N.).
a) Eine halbgeschlossene psychiatrische Abteilung oder Station (Open-door-system) im Sinne der hier auszulegenden Anmerkung liegt bereits dann vor, wenn neben Patienten, welche die Abteilung/Station frei verlassen dürfen, auch solche untergebracht sind, denen dies nicht erlaubt ist und die daher ggf. am Verlassen der Abteilung/Station gehindert werden müssen. Diese Patientengruppe, die dem so genannten Stationsgebot unterliegt, muss nicht die Mehrzahl der Patienten der Abteilung oder Station darstellen. Die mit der Pflegezulage abzugeltenden besonderen Erschwernisse, die mit der Betreuung von Patienten verbunden sind, die aufgrund der von ihnen ausgehenden Gefährdung am Verlassen einer Station gehindert werden müssen, entstehen nämlich auch dann, wenn nur ein Teil der zu betreuenden Patienten diesen Personenkreis zuzurechnen ist. So macht es beispielsweise für die Gefährdung des Pflegepersonals keinen Unterschied, ob in einer Station mit 20 Patienten keiner diese verlassen darf oder ob in einer Station mit 50 Patienten nur für 20 das so genannte Stationsgebot gilt. In beiden Fällen haben die Pflegekräfte dieselbe Anzahl von möglicherweise "gefährlichen", dem Stationsgebot unterliegenden Patienten zu betreuen. Hinzu kommt, dass dann wenn als Voraussetzung für die Annahme einer halbgeschlossenen Station/Abteilung gefordert würde, dass die Mehrzahl der Patienten dem Stationsgebot unterliegen muss, der Anspruch auf die Pflegezulage einem fortlaufenden Wechsel - abhängig von der jeweiligen Patientenzahl mit Stationsgebot - unterworfen wäre (BAG 12.11.1997, 10 AZR 772/96, AP Nr. 15 zu § 33 BAT, Rn. 29 ff.).
Die Grund- und Behandlungspflege, die den Anspruch auf die Pflegezulage begründet, muss auch nicht zeitlich überwiegend an Patienten erbracht werden, die einer geschlossenen oder überwachten Unterbringung bedürfen. Die entsprechende Anmerkung bezieht sich alleine darauf, dass die Kranken sich in bestimmten Abteilungen befinden, nämlich entweder in geschlossenen oder halbgeschlossenen psychiatrischen oder in geriatrischen Abteilungen oder Stationen. In diesen Fällen genügt es, dass der Arbeitnehmer die Grund- und Behandlungspflege an Patienten ausübt, die in solchen Stationen oder Abteilungen untergebracht sind und dort behandelt werden, unabhängig davon, an welcher Erkrankung diese Patienten leiden und welche Erschwernisse und Gefahren für die Behandlung und Pflege von ihnen ausgehen. Wollte man darauf abstellen, wie viel Zeit der einzelne Arbeitnehmer jeweils auf die Pflege gerade solcher Patienten verwendet, die einer überwachten Unterbringung bedürfen, wäre der Anspruch auf die Pflegezulage abhängig von der jeweiligen Zahl solcher Patienten und dem im Einzelfall erforderlichen Zeitzaufwand für die Pflege gerade dieser Patienten, der dann laufend festgestellt werden müsste (BAG aaO. Rn. 32 f. sowie BAG 06.11.1996, 10 AZR 214/96, ZTR 1997,129).
Die von psychisch kranken Menschen ausgehende Gefahr für sie selbst, für andere Personen und für das Pflegepersonal muss es erforderlich machen, dass die Stationen in "gewissem Umfang" geschlossen zu halten ist, um so eine ständige Übersicht über den Aufenthalt der Patienten und die Anwesenheit von Personen zu haben, die durch die Patienten gefährdet werden können. Der Abgeltung der durch diese besonderen Gegebenheiten bedingten Erschwernisse der Arbeit dient die Erschwerniszulage (BAG 06.11.1996, 10 AZR 214/96, ZTR 1997, 129).
b) Der Entscheidung des BAG vom 14.01.2004 (10 AZR 17/03, AP Nr. 39 zu §§ 22, 23 BAT Zulagen), in welcher der Anspruch auf die streitbefangene Zulage verneint worden ist, lag eine Sachverhaltsgestaltung zugrunde, bei der das Pflegepersonal weder das Recht noch die Pflicht hatte, die Patienten mit psychischen Mitteln am Verlassen der Station zu hindern.
c) Die zitierten Entscheidungen des BAG vom 06.11.1996 und 12.11.1997 lassen erkennen, dass es dem Bundesarbeitsgericht bei der Auslegung des streitbefangenen Merkmals um eine typisierende, praxistaugliche Rechtsanwendung geht. In beiden genannten Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts haben Zeitanteile hinsichtlich der konkret zu erbringenden Pflegeleistungen oder Prozentsätze der zwangsweise untergebrachten Patienten keine entscheidungserhebliche Rolle gespielt. Nach Auffassung der hier befassten Kammer des Landesarbeitsgerichts kann es nur darum gehen, ob eine Station, der eine Pflegeperson dauerhaft zugeordnet ist, überhaupt die Qualifikation einer geschlossenen oder halbgeschlossenen psychiatrischen Abteilung oder Station erfüllt. Wenn dies bejaht werden kann, ist die Zulage zu zahlen ungeachtet des Umstandes, ob die Station dauerhaft halb oder ganz geschlossen ist und unabhängig davon, welche Anzahl der dort untergebrachten Patienten dem Stationsgebot unterliegen und auch unabhängig davon, wie sich die zu erbringenden Pflegeleistungen auf die Patienten verteilen, die dem Stationsgebot unterliegen.
Wenn eine psychiatrische Abteilung oder Station nach ihren technischen und baulichen Voraussetzungen, ihrer medizinischen Zweckbestimmung und der Ausbildung des dort vorgehaltenen Pflegepersonals (auch) dazu bestimmt ist, Kranke zu behandeln, die dem Stationsgebot unterliegen, so ist davon auszugehen, dass es sich um eine Station im Sinne der Anmerkung VI Ziffer 1 b) der Anlage 2 a) zu den AVR handelt, wenn die Station "in gewissem Umfang" also zumindest mehrere Wochen im Jahr tatsächlich geschlossen wird. Der Charakter als halbgeschlossene Station ist hingegen zu verneinen, wenn eine psychiatrische Abteilung, die von ihrer räumlichen, technischen und personellen Ausstattung sowie der medizinischen Zielsetzung grundsätzlich nicht auf die Behandlung von Patienten, die dem Stationsgebot unterliegen, ausgerichtet ist, dennoch in einem oder mehreren Einzelfällen quasi "ausnahmsweise" Patienten zu betreuen hat, für die ein Unterbringungsbeschluss vorliegt oder die der Betreuung unterliegen.
2. Nach den oben aufgestellten Rechtssätzen hat die Klägerin im vorliegenden Verfahren ausreichend dargetan, dass die Station V der Beklagten von ihrer baulichen und technischen sowie personellen Ausstattung und der medizinischen Ausrichtung her eine halbgeschlossene psychiatrische Abteilung im Sinne der Anmerkung VI Ziffer 1 b) der Anlage 2 a) zu den AVR ist, die für mehrere Wochen im Jahr zur Umsetzung richterlicher Anordnungen tatsächlich geschlossen wird. Dabei wird der Charakter der psychiatrischen Abteilung als "halbgeschlossen" immer dann aktualisiert, wenn nur ein einziger dort zu behandelnder Patient dem Stationsgebot unterliegt. Denn bereits in diesem Fall muss das Pflegepersonal Ein- und Ausgangskontrollen für alle sich dort bewegenden Personen durchführen. Die durch die ausgelösten Sicherheitsmaßnahmen geschaffene Situation wirkt sich unmittelbar auf das Arbeitsklima für die Beschäftigten aus. Wenn sie selber die Station verlassen und betreten, müssen sie einen erhöhten Grad der Aufmerksamkeit an den Tag legen und auch die am Arbeitsplatz gepflegten Sozialbeziehungen werden modifiziert. Auch Kolleginnen und Kollegen anderer Abteilungen, die ggf. aus dienstlichen Gründen oder in einer Pause privat auf der halbgeschlossenen Abteilung vorbeischauen, müssen sich den getroffenen Sicherheitsanordnungen unterziehen. Für diese Sicherheitsanordnungen gilt: Sie sind entweder aufgehoben, weil sie für keinen einzigen Patienten aktuell sind oder aber sie sind (ggf. nur aus Anlass eines einzelnen Patienten) angeordnet und wirken sich damit entsprechend aus. Insofern hält es das Landesarbeitsgericht für zutreffend, wenn die Klägerin auf diejenigen Zeiten abstellt, in denen die Sicherheitsmaßregeln überhaupt in Kraft gesetzt gewesen sind ganz gleich welche dem Stationsgebot unterliegende Anzahl von Patienten dies erfordert. Nach den oben aufgestellten Rechtssätzen kommt es dann auch nicht darauf an, dass die halbgeschlossene Station an mehr als der Hälfte der Tage eines Kalenderjahres oder zu mehr als der Hälfte der dort kalenderjährlich abzuleistenden Arbeitsstunden geschlossen ist. Ausreichend aber auch notwendig ist nur, dass die Station das Gepräge einer halbgeschlossenen psychiatrischen Abteilung aufweist.
II. Die Kosten des Rechtsstreits hat nach §§ 91 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO insgesamt die unterlegene Beklagte zu tragen. Insoweit es das Arbeitsgericht versehentlich versäumt hat, die im Kammertermin am 17.06.2010 erklärte Teilklagrücknahme kostenmäßig zu berücksichtigen, unterfällt sie der Regelung des § 92 Abs. 2 Ziffer 1 ZPO, da die dortige Teilklagrücknahme nur einer Kostenquote zu Lasten der Klägerin von 9,6 % entsprochen hätte und damit nur geringfügig für ihre Gerichtskosten veranlasst hat.
Die Revision war gemäß § 72 Abs. 2 Ziffer 1 ArbGG zuzulassen, da durch das Bundesarbeitsgericht noch nicht geklärt ist, wie der "gewisse Umfang" zu bestimmen ist, in dem eine psychiatrische Station geschlossen zu halten ist, damit sie als "halbgeschlossene" Station im Sinne der AVR-Regelung bzw. der Protokollerklärung zum BAT zu qualifizieren ist.
Jorczyk
Günther